ITALIEN: Von lokal zu global

von Nejma Brahim, für Mediapart, 18.07.2024, Veröffentlicht in Archipel 338

Freigesprochen träumt Mimmo Lucano davon, das Modell der Gastfreundschaft seines Dorfes Riace in Süditalien in ganz Europa zu verbreiten. Am 12. April 2024 entlastete die Justiz fast vollständig den ehemaligen Bürgermeister Mimmo Lucano, der im September 2021 wegen «krimineller Vereinigung zum Zweck der irregulären Einwanderung» schwer verurteilt worden war. Dieser begrüsste einen «moralischen Sieg» und kandidierte bei den Kommunal- und Europawahlen im vergangenen Juni.

Der ehemalige Bürgermeister von Riace behält sein Lächeln trotz der wahren «juristischen Reise», die er in den letzten Jahren durchmachen musste. Domenico Lucano, der von allen nur «Mimmo» genannt wird, betont, dass seine eigene Person nicht zählt. Er bedauert vor allem, dass das Image von Riace, einer kleinen kalabrischen Gemeinde, in der er lebt und deren Bürgermeister er zwischen 2004 und 2018 war, durch die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen beschädigt wurde.

Durch seinen jüngsten, fast vollständigen Freispruch ist er der Ansicht, dass die Aufnahme anderer Menschen endlich als «Lösung und Wiedergeburt» anerkannt wird, insbesondere für die von der Bevölkerung verlassenen Gebiete. «Das ist in erster Linie ein moralischer Sieg», betont er. Dieses Modell der Aufnahme und Solidarität, dieses «globale Dorf», das er im Laufe der Jahre mitentwickelt hatte, würde Mimmo Lucano gerne auf ganz Europa ausgeweitet sehen, da dieses sich derzeit eher verbarrikadiert. Um dies zu erreichen, hat er sich entschieden, bei den nächsten Kommunalwahlen in Riace zu kandidieren, die gleichzeitig mit den Europawahlen stattfinden, für die er ebenfalls auf einer Allianzliste der Grünen und der italienischen Linken antritt. «Was wir uns wünschen, ist ein neues Europa, das zur Rettung der Welt wird. Nicht das Europa des Stacheldrahts, dessen Politik den Tod von Zehntausenden von Menschen verursacht hat», sagt er.

Hier ein Interview mit Domenico Lucano: Nejma Brahim: Sie kommen gerade aus einer ziemlich langen, aufreibenden Gerichtsverhandlung... Domenico Lucano: Ja. Eine Reise durch die Justiz. Es ist meine Geschichte, aber es ist vor allem die Geschichte einer kleinen Gemeinde, die von Riace. Ein kleines Stück der europäischen Peripherie mit seinem Mittelmeer, einer Art Autobahn von den arabischen Ländern nach Europa. Aber es ist auch das Meer der Tragödie der Welt. Das Mittelmeer hat leider seine Farbe gewechselt, von Blau, Grün zu Rot, der Farbe des Blutes. Das Blut vieler Männer und Frauen, die es nicht bis zum Ende ihres Weges geschafft haben. Das Meer wurde zu einer Falle für ihren Versuch, glücklich zu sein. Es hat die Farbe des Todes angenommen. Im Mittelpunkt der Geschichte von Riace steht vor allem ein mittlerweile sehr medienwirksamer Kampf für die Aufnahme des Anderen und für ein anderes politisches Ideal.

Viele afghanische Flüchtlinge, die vor den Taliban flohen, kamen nach Kalabrien. Ich denke auch an jene tragische Winternacht am 26. Februar 2023, in der die Rettungskräfte nicht kamen. Das Innenministerium organisierte die Ankunft des Zolls statt der Küstenwache, obwohl diese die Mittel gehabt hätte, die Menschen zu retten. Vierundneunzig Menschen verloren ihr Leben, nachdem sie fünf Tage auf See verbracht hatten, darunter viele Kinder. Im Jahr 2022 benutzte der derzeitige Innenminister Salvini in Bezug auf Migrant•innen diese schrecklichen Worte: Es handelt sich um «Restlasten». Die italienische Regierung feierte Salvinis Geburtstag, während die Familien um ihre Toten trauerten. Dies war zweifellos der beklagenswerteste Moment. Es nützt nichts, zu den grossen Weltmächten zu gehören oder sein Wirtschaftswachstum im Auge zu behalten, wenn man zu einem solchen Zynismus gegenüber dem menschlichen Leben fähig ist. Die Rechte hat ihr wahres Gesicht gezeigt.

Die Rechte und die extreme Rechte

Ich glaube, dass es in Italien keinen Unterschied zwischen der Rechten und der extremen Rechten gibt. «Extrem» ist ein Adjektiv, aber die Rechte ist der Gemeinplatz der Entmenschlichung. Wir haben verschiedene Versuche des Innenministeriums gesehen, Migrantinnen und Migranten daran zu hindern, in Italien an Land zu gehen. Das Paradoxe ist, dass eine unwürdige Regierung, die sich durch ihre Unmenschlichkeit auszeichnet, in den Umfragen nach oben klettert. Wenn man dieser Regierung in Italien mit freien Worten entgegentritt, wird man nur mit Knüppeln geschlagen. Das hat es noch nie gegeben. Es gibt einen Rechtsruck in Italien.

N.B.: Dieser politische Kontext hat Ihnen auch eine schwere Verurteilung im Jahr 2021 eingebracht – 13 Jahre Gefängnis und 500.000 Euro Geldstrafe wegen «krimineller Vereinigung zum Zweck der illegalen Einwanderung». Wie haben Sie diese erlebt? D.L.: Am 4. Oktober 2018 sah ich im Morgengrauen, wie Autos zu meinem Haus fuhren, um mich zu verhaften. Das war der Beginn einer unglaublichen Geschichte, die fast sieben Jahre dauerte. Als ich am 30. September 2021 in erster Instanz verurteilt wurde, verbreitete sich in Italien schnell das Gefühl, dass es sich um einen politischen Prozess handelte. Ich wurde gezwungen, mich elf Monate lang von Riace zu entfernen, obwohl ich mein Leben für dieses Dorf gegeben hatte. Es gab eine grosse Demonstration in Rom und ein ehemaliger Senator rief eine Spendensammlung ins Leben, um die gegen mich gerichtete Geldstrafe zu begleichen. Die Sammlung war ein Riesenerfolg. Aber ich sagte ihm, dass ich sie nicht wollte. Ich wollte einfach weiterhin Geflüchtete in Riace aufnehmen. Wir bauten das «Globale Dorf» mit einer Kindertagesstätte für zwölf Kinder von Migrant•innen und vielen gemeinsamen Aktivitäten auf. Wir taten alles, um diese Welt weiterhin existieren zu lassen. Ich habe diese Verurteilung also mit Gelassenheit erlebt, weil ich die Solidarität der italienischen Bevölkerung und die der Welt geniessen konnte, die sich an die einzige Perspektive der Brüderlichkeit klammerte.

Ich bin mir bewusst, dass die Tatsache, dass ein kleines Dorf in Kalabrien zum Vorbild für die Aufnahme von Exilierten werden konnte, viel Unbehagen hervorrief. Das «Modell Riace» hat das neoliberale System erschreckt. Aber der Feind ist nicht der Fremde oder derjenige, der ihm hilft: Es ist nichts anderes als diese neue Welle des Faschismus, die es in Europa und in der Welt gibt und die nichts anderes will, als Grenzen zu schliessen und Mauern zu errichten. Ich bedauere, dass sich nach so vielen Jahren der Propaganda eine Form des Egoismus in den Köpfen der Menschen festgesetzt hat, wie ein politischer Konsens.

Wiederherstellung der Wahrheit

N.B.: Wie fühlen Sie sich heute, nach der Rehabilitierung durch die Justiz? D.L.: Mir geht es gut. Zwei meiner Kinder sind in Rom, das dritte lebt bei meiner Frau, und ich bin allein in Riace. Die meisten meiner Angehörigen haben den Freispruch als Befreiung empfunden. Auf lokaler Ebene gab es sofort Solidarität, auch von Menschen, die meine politischen Ansichten nicht teilten. Das Wunderbarste an diesem Ende der Serie ist jedoch nicht der Freispruch an sich, sondern die Beweggründe der Richter. Sie haben 90 Tage gewartet, um sie zu veröffentlichen und dem Rest der Welt zu signalisieren, dass die politische Botschaft, für die ich gekämpft habe, nicht angetastet werden wird. Ich bin davon überzeugt, dass aus einer kleinen Sache eine grosse Sache entstehen kann. Sie stellten die Wahrheit richtig und bestätigten, dass ich nicht eine Sekunde lang daran gedacht hatte, das von mir in Riace eingerichtete Aufnahmesystem auszunutzen, oder dass ich mich dadurch bereichert hätte. Es handelt sich also nicht um einen technischen oder rechtlichen Freispruch. Es ist ein moralischer Freispruch. Und zum ersten Mal in der Geschichte der Migration kann die Einwanderung nach Italien endlich in einem Licht betrachtet werden, das dem von einigen Politikern und Politikerinnen völlig entgegengesetzt ist. Die Aufnahme des Anderen wird endlich als Lösung und Wiedergeburt anerkannt. Das ist in erster Linie ein moralischer Sieg, der mehr wert ist als alles andere.

Rückkehr in die Politik

N.B. Sie haben sich entschieden, in die Politik zurückzukehren, indem Sie bei den Kommunalwahlen in Riace und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament auf der Liste der Grünen und des Linksbündnisses (Alleanza Verdi e Sinistra) kandidiert haben. Hat Ihr Freispruch bei Ihrer Entscheidung eine Rolle gespielt? D.L.: Nein, denn ich habe den Wunsch, mich politisch zu engagieren, nie verloren. Politik bedeutet für mich Hoffnung, und ich bin nie müde geworden, weiter zu hoffen. Das Globale Dorf war von Anfang an als politisches Labor auf lokaler Ebene konzipiert. Dies war auch der Anlass für zahlreiche Treffen, kollektive Entscheidungsfindungen und andere gemeinsame Aktivitäten. In diesem Sinne wollten wir, also die Linke, mit der Demokratischen Partei (Partito Democratico), deren Generalsekretärin Elly Schlein ist, zusammenarbeiten. Das war nicht einfach. Die Parteifunktionäre waren dagegen, also haben wir eine Koalition links von der Demokratischen Partei gefunden. Die Grünen und das italienische Linksbündnis fragten mich, ob ich an der Europawahl teilnehmen wolle. Und zusammen mit allen Freundinnen und Freunden aus Riace sagten wir ja. Es war ein geteilter Wunsch, denn die Positionen, die sie gegen den Krieg, für die Aufnahme von Exilanten oder auch für ein Gesetz für den Mindestlohn in Italien vertreten, entsprachen meinen politischen Entscheidungen. Eines Tages würde ich mir wünschen, dass überall in den Gemeinden Europas ein Schild mit der Aufschrift «Village de l'accueil» (Dorf der Gastfreundschaft) stünde! Aber man muss feststellen, dass in Europa eher eine Politik der Ablehnung zu beobachten ist... In Riace hat man es auf der Ebene einer sehr kleinen Realität geschafft. Ein Dorf mit vierhundert Einwohnern ist nun für seine Willkommenspolitik bekannt. Auf europäischer Ebene werden wir vielleicht nicht mehr da sein, um diesen Paradigmenwechsel zu beobachten. Aber ich bin davon überzeugt, dass aus einer kleinen Sache eine grosse Sache entstehen kann. Ich freue mich, dass auf unserer Liste die Kandidatin Ilaria Salis steht, die von Viktor Orbán in Ungarn wegen ihres Engagements gegen den Faschismus verhaftet wurde. Wir haben eine ähnliche Geschichte; sie kämpft für die Einhaltung der Menschenrechte. Als ich die Bilder von ihr im Fernsehen sah, die sie in Handschellen zeigten, war ich stolz darauf, sie bei diesem Abenteuer auf europäischer Ebene an meiner Seite zu wissen.

Der Migrationspakt

N.B.: Der Europäische Migrationspakt wurde vor kurzem unter grossen Schmerzen verabschiedet. Sind Sie besorgt, dass diese Politik des Rückzugs durch diese Texte auf europäischer Ebene konkretisiert wird? D.L.: Dieser Pakt ist absurd. Ich teile seine Ziele natürlich nicht. Überall sieht man Versuche, das Asylrecht zu schwächen, auch in Italien, oder so etwas wie Abschiebewege in Drittländer wie Albanien zu schaffen, in denen die Achtung der Menschenrechte nicht gewährleistet ist. Es ist traurig, wenn man sieht, wozu wir in unserem kleinen Massstab fähig waren. Ich glaube, die Rechte leidet an einem Menschenfurcht-Syndrom. Das kann man in Italien, aber auch in Europa beobachten. Was man sich wünscht, ist ein neues Europa, das zur Rettung der Welt wird. Nicht das Europa des Stacheldrahts, dessen Politik zum Tod von zehntausenden Menschen geführt hat.

N.B. Warum treten Sie bei zwei Wahlen auf zwei verschiedenen Ebenen an? D.L.: Das ist eine gefürchtete Frage (lacht). Ich möchte kein Bürokrat werden. Ich werde die gleiche Überzeugung auf die europäische Ebene bringen und ich werde niemandem Zugeständnisse machen: Die Profite der Politik interessieren mich nicht. Und ich möchte hinzufügen, dass ich paradoxerweise damit übereinstimme, wie Matteo Salvini mich einmal definiert hat, als ihn jemand fragte, was er von mir halte. Er antwortete: «Er ist null wert». Das passt ziemlich gut zu mir, denn ich betrachte mich als Niemand. Sicher ist, dass ich mein Engagement auf lokaler und europäischer Ebene fortsetzen möchte. In Italien ist es gesetzlich möglich, gleichzeitig Bürgermeister und Europaabgeordneter zu sein. Dann gibt es natürlich viele Möglichkeiten: Ich kann zum Bürgermeister von Riace gewählt werden, zum Europaabgeordneten gewählt werden oder beides oder gar nicht gewählt werden. Ich werde auf jeden Fall das Riace-Modell weiterentwickeln und möchte dieses Gastgebermodell auf andere Gemeinden in Italien und auf andere Staaten in Europa ausweiten – ein Modell zugunsten der Gastfreundschaft, das auch dem Bevölkerungsrückgang entgegenwirkt. Und um noch einen Schritt weiterzugehen, würde ich auch gerne eine Gemeinde mit einer gemeinsamen Währung gründen, damit wir aus dem Neoliberalismus ausbrechen können, der unsere Wirtschaft und Demokratie zerstört, und gleichzeitig die in der Gemeinde geleistete Arbeit wertschätzen können.

Das Interview machte Nejma Brahim im Mai für Mediapart und stellte es uns freundlicherweise zu Verfügung.

Erfreulicher Nachsatz:

Mit 46,31 Prozent der Stimmen bei den Kommunalwahlen in Riace – also mit Abstand den meisten! – wird Mimmo Lucano aller Voraussicht nach wieder zum Bürgermeister. Auch ins Europaparlament wurde er gewählt!