S. bemüht sich seit Jahren, reguläre Papiere in Europa zu bekommen, auch um endlich seine Mutter in Algerien besuchen zu können, die er seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hat. In Italien ist es angeblich, dank der «Sanatoria», leichter möglich, einen legalen Status zu erhalten.
Das Rechtssystem verzichtet mit dem seit 2020 in Kraft getretenen Amnestiegesetz, «Sanatoria» (siehe Kasten) darauf, Verantwortliche für illegale Handlungen zu verfolgen (Schwarzarbeit), und normalisiert prekäre oder irreguläre Situationen. Das Ziel davon ist, papierlose Arbeitsmigrant·inn·en sowie ausländische Arbeitnehmer·innen ohne Aufenthaltserlaubnis zu regularisieren, damit diese weiterhin mit Billigstlöhnen in der industriellen Landwirtschaft arbeiten können. Der Antrag auf Regularisierung wurde seither für etwas mehr als 200.000 Arbeitnehmer·innen gestellt, die hauptsächlich aus Bangladesch, Albanien, der Ukraine und Marokko stammen. Nur der Arbeitgeber kann die Regularisierung beantragen.
In einem Sektor wie der Landwirtschaft gilt häufig noch das «caporalato», also die illegale Vermittlung zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern; die Anzahl der papierlosen Migrant·inn·en, die dann wirklich angestellt werden, ist begrenzt. Viele Papierlose, die gar nicht in Italien arbeiten, bezahlen horrende Summen an eine·n Vermittler·in, um als Arbeitnehmer·innen eines Arbeitgebers/einer Arbeitgeberin angemeldet zu werden, der/die über ein ausreichendes Einkommen verfügt, um sie fiktiv zu beschäftigen. S. versucht, über die Sanatoria einen legalen Status in Europa zu erlangen. Er war früher länger in Italien und lebt jetzt in Frankreich ohne Papiere. Wir sind nach Italien gereist, um einen Status in Europa für ihn zu erhalten und beschreiben hier die verschiedenen Etappen, die wir gemeinsam durchlaufen haben.
1. Etappe, Ventimiglia-Aversa
Wir kommen am Freitag von Südfrankreich aus in Ventimiglia an: S. braucht von der Caritas einen Nachweis über seine Anwesenheit in Italien. Ein Sudanese, den wir auf der Strasse kennengelernt haben, begleitet uns. Als wir ankommen, erfahren wir von etwa 15 Migranten, die vor dem Gebäude der Caritas liegen, dass dasselbe über das Wochenende geschlossen ist. Sie werden draussen schlafen, obwohl die Temperaturen unter den Gefrierpunkt gefallen sind, und sie bis Montag keinen Zugang zur Essensausgabe haben.
Wir werden uns anders behelfen. Wir machen uns also auf den Weg in die Stadt Aversa in der Gemeinde Caserta in Kampanien. Dort lebte S., bevor er nach Frankreich kam, in einer kleinen Unterkunft mit Aziz, Samir und einem weiteren Freund. Im Auto erhalten wir mehrere Anrufe von Samir, der sehr besorgt ist, dass ich mich als «Westler» aufgrund des Zustands der Wohnung nicht wohlfühlen würde. Als wir ankommen, können wir seine Sorgen verstehen: S. erinnerte sich an ein Schimmelproblem, das sich seitdem offensichtlich verschlimmert hatte; die Wände waren vom Boden bis zur Decke fast völlig schwarz. Im Bett neben mir liegt ein 50-jähriger Mann aus Marokko, der in Neapel von einem Auto angefahren worden war und dem ein Bein amputiert wurde. Die Chirurgen, die ihn operierten, haben Gewebe in seinem Bein vergessen, was später zu einer allgemeinen Infektion führte. Obwohl er in Italien legal ist, kämpft er seit drei Jahren mit den Behörden, um Behindertengeld zu erhalten. Aziz war auf den Mann, der im Bahnhof von Neapel schlief, aufmerksam geworden und hatte ihn zu sich nach Hause eingeladen.
Als wir am Morgen aufwachen, sind unsere Kleidung und unsere Betten nass und riechen nach Schimmel. Aziz erzählt uns, dass er endlich eine neue Unterkunft gefunden habe und in ein paar Tagen ausziehen werde. Der Vermieter hat bereits einen anderen Menschen ohne Papiere gefunden, der bereit ist, die schimmlige Wohnung zu mieten und die Wände selbst zu streichen. Aziz erzählt uns, dass sie die Schlösser an der Eingangstür ausgetauscht haben, seit der Vermieter um 5 Uhr morgens hereingestürmt war und «soldi, soldi» (Geld, Geld) gerufen hatte, obwohl die Miete immer pünktlich bezahlt worden war. Als S. jedoch fragt, ob wir beim Verlassen des Hauses abschliessen sollten, antworten seine Freunde: «Warum abschliessen? Hier gibt es nichts zu stehlen.»
2. Etappe, Battipaglia
Als Nächstes fahren wir nach Battipaglia in der Provinz Salerno in Kampanien. Wir hoffen, einen Vermittler, den S. schon kennt, vor seinem kleinen Lebensmittelgeschäft anzutreffen. Nach knapp zwei Jahren hat S. einen Termin bei der Präfektur von Salerno bekommen und will sichergehen, dass alle notwendigen Dokumente bereitliegen. Wir haben Glück, der Vermittler ist da. S. erzählt mir, dass viele Menschen ohne Papiere hier mehrere Tage warten, bevor sie ihn treffen können. S. hat dem Vermittler bereits 4.000 € gegeben, um sich um seine Sanatoria zu kümmern. Der möchte jedoch noch für die Konformitätsbescheinigung der Unterkunft bezahlt werden. Er versichert uns, dass alles vorbereitet ist. Wir vertrauen ihm jedoch nicht und verbringen den Rest des Tages vor dem Lebensmittelgeschäft, wo wir uns mit anderen papierlosen Migranten austauschen, die vom selben Vermittler abhängig sind. Wir fahren nach Battipaglia zu Said, einem Freund von S. Er lebt mit Mohamed, Ahmed und Abdul auf 18 Quadratmeter. Der Ort ist die Hälfte einer umgebauten Garage am Ende eines Sozialwohnungsblocks und nichts entspricht den Standards. Die Miete beträgt etwa 400 € und sie können noch von Glück reden, denn viele Menschen, die rund um Battipaglia arbeiten, leben weit ausserhalb der Stadt oder schlafen im Sommer in Zelten. Said erzählt uns von einem Freund von ihm, der seit 20 Jahren in Italien lebt, Kinder und die italienische Staatsbürgerschaft hat und trotzdem noch für 30 € pro Tag in der Landwirtschaft arbeitet. Warum? fragen wir. Er erklärt uns, dass sein Freund in einer anständigen Wohnung lebt, die seinem Arbeitgeber gehört, und dass er Angst hat, sie zu verlieren, weil es unmöglich ist, jemanden zu finden, der bereit ist, eine solche Wohnung an eine marokkanische Familie zu vermieten.
S. will sich mit seinem Arbeitgeber treffen, um sicherzugehen, dass er am Tag ihres Termins in der Präfektur anwesend sein wird. Wir fahren mit dem Vermittler dorthin. Dort verlangt der Arbeitgeber 1000 €. Er erklärt, dass 300 € für den Buchhalter sind, der den Vertrag vorbereiten wird, und dass 700 € die Abgaben sind, die er an den Staat zahlen muss. Wir kehren nach Hause zurück. Zu unserem Glück hat der Ramadan gerade begonnen, denn wir haben nicht mehr viel Geld, um uns etwas zum Essen zu kaufen. Für die Freunde von S. bedeutet das auch, acht Stunden in der Sonne oder im Gewächshaus zu arbeiten, ohne etwas zu trinken oder zu essen.
Said, Mohamed und Ahmed wachen um 4 Uhr morgens auf, essen etwas, machen sich fertig und gehen gegen 5 Uhr zur Arbeit; sie kommen gegen 14 Uhr nach Hause. Den Nachmittag verbringen sie dann mit Schlafen oder mit ihrem Smartphone. S. spricht von einer aktiven depressiven Störung; d. h. die Leute sind aktiv und arbeiten die meiste Zeit, aber dann wissen sie nicht, was sie tun sollen. Sie haben sehr wenig Geld, um auszugehen (ein Teil ihres Gehalts wird an die Familie geschickt, der Rest wird für Essen, Transport zur Arbeit und Miete verwendet), es gibt keine Orte in der Nähe, an denen sie andere papierlose Migrant·inn·en treffen können; sie sind von der Gesellschaft entfremdet und vom staatlichen Rassismus traumatisiert (z. B. zwei Jahre für einen Termin bei der zuständigen Behörde). Jeden Abend bereiten wir gemeinsam das Abendessen vor, das in einem einzigen Teller serviert und geteilt wird. Das ist ein Moment, in dem sich jeder ein wenig öffnet und die Geschichten des Tages erzählt.
Geschichten aus dem prekären Leben
Ahmed ist Gemüsebauer. Er erzählt uns, dass er eine Familie in Marokko hat und dass er in Battipaglia eine Aufenthaltserlaubnis und einen regulären Vertrag hat. Laut diesem Vertrag verdient er 53 € pro Tag und hat Anspruch auf bezahlten Jahres- und Krankheitsurlaub. In Wirklichkeit zahlt ihm sein Arbeitgeber aber nur 30 € pro Tag und bezahlter Urlaub liegt überhaupt nicht drin. Er würde uns gerne in Frankreich besuchen.
Saïd ist der Experte für Kiwis. Er erzählt, dass er nicht weiss, wie er in seinen jetzigen Zustand gekommen ist. In Marokko war er LKW-Fahrer. Er hatte ein schönes Haus, liebte seine Arbeit und hatte keine Geldprobleme. Er ging oft mit seinen Freunden wandern. Er zeigt mir viele Fotos von seinen Ausflügen. Er sagt mir, dass, wenn ihn ein Freund anruft, dieser ihm nicht glaubt, dass es in Europa so schwierig ist. Saïd hofft, dass er in diesem Sommer seine Aufenthaltsgenehmigung erhält und eine Arbeit als LKW-Fahrer findet, damit er seine Familie nach Italien bringen kann.
Mohamed spricht überhaupt nicht und isst getrennt von uns. Eines Abends fordert er uns wütend auf, leiser zu sein, weil er schlafen will. Am nächsten Tag entschuldigt er sich und erklärt uns, dass es in den Gewächshäusern, in denen er arbeitet, zwei Personen gibt, eine an jedem Ende der Linie, die kontrollieren, dass er nicht einmal eine Minute Pause macht. Er erzählt uns, dass er regelmässig Albträume über die Überwachung am Arbeitsplatz und die Möglichkeit, seinen Job zu verlieren, hat.
Wir machen uns wieder auf den Weg zum Lebensmittelgeschäft des Vermittlers. Es muss das sechste Mal sein, dass wir dort hingehen. Wir haben nun mehr als 72 Stunden ununterbrochen an diesem Ort verbracht, mit endlosen Wartezeiten für die absichtlich unvollständigen Informationen, die der Vermittler bereitgestellt hat. Man muss wissen, dass die gesamte Dokumentation und offizielle Kommunikation der Präfektur per PEC (zertifizierte E-mail) an den Arbeitgeber und seinen Buchhalter gesendet wird. Der Migrant erhält über WhatsApp nur Teilfotos der vom Vermittler gesendeten Mitteilungen.
Wir begeben uns zur Präfektur von Salerno, wo wir Bilal und seinen Vermittler treffen. Bilal kommt aus Algerien und und hat keine Papiere. Er sucht nach auch einer Aufenthaltsgenehmigung in Italien mit der Sanatoria, weil er in Frankreich keine andere Lösung gefunden hat, obwohl er seit 15 Jahren mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Marseille lebt. Er hat bereits 7000 € an seinen Vermittler gezahlt. S. und Bilal betreten die Präfektur zu ihrem Termin. Während ich vor der Präfektur warte, treffe ich eine Anwältin, die sich auf Sanatoria spezialisiert hat. Sie sagt mir, dass von den Personen, die die Sanatoria beantragen, viele weder illegal in der Landwirtschaft arbeiten noch in Italien leben, dass es aber für viele Menschen ohne Papiere einer der wenigen möglichen Wege ist, eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Sie bietet an, den Fall von S. weiterzuverfolgen und uns anschliessend Kopien des gesamten Schriftverkehrs zu schicken. Das wäre fast ein Traum, da wir den Grossteil der Bürokratie selbst erledigen könnten, aber es ist keine realistische Option: S. befürchtet, dass der Arbeitgeber den Anstellungsantrag ablehnen würde, wenn er von der Beteiligung eines Anwalts erfährt. S. verlässt die Präfektur mit Bilal. Beide sind verärgert. Der Arbeitgeber hat nicht alle von der Präfektur geforderten Dokumente mitgebracht; Termin in einem Monat. Wir gehen wieder – demoralisiert. Jetzt steht die letzte prekäre Etappe an – die Rückkehr nach Frankreich. Wenn uns die französische Polizei festnimmt, wird das ganze Verfahren von S. eingestellt und das gesamte ausgegebene Geld löst sich in Rauch auf. Wir sind sehr froh, wieder nach Hause zu kommen. Aber S. muss bald wieder nach Salerno fahren ...
M. (EBF) und S
Sich mit der Sanatoria «normalisieren»
Um die Sanatoria in Anspruch nehmen zu können, muss sich die/der papierlose Arbeitnehmer·in, die/der oft kein Italienisch spricht, an einen Vermittler wenden, der einen Arbeitgeber mit ausreichendem Einkommen für eine fiktive Anstellung findet. Der Vermittler verlangt für diese Alles-inklusive-«Dienstleistung» zwischen 4000 und 7000 Euro. Die/der Papierlose wird jedoch im Laufe der Zeit feststellen, dass alle von der Sanatoria verlangten Dokumente noch bezahlt werden müssen. Im Agrarsektor sind das folgende:
Ein gültiger Arbeitsvertrag: Der Arbeitgeber lässt von seinem Buchhalter einen massgeschneiderten Arbeitsvertrag aufsetzen. Die ungefähren Kosten betragen 300 €. Dieser Betrag sollte vom Arbeitgeber übernommen werden, wird aber von dem Papierlosen bezahlt.
Nachweis der Anwesenheit in Italien, datiert vor März 2020 (Datum des Inkrafttretens der Amnestie): Für diejenigen, die nicht in Italien leben, bietet der Vermittler/Arbeitgeber diese Bescheinigung – oftmals eine gefälschte Krankenhausbescheinigung – für 500 € an.
Eine Konformitätsbescheinigung für die Wohnung: Es muss nachgewiesen werden, dass die papierlose Person in einer Wohnung lebt, deren Konformität von einem qualifizierten Ingenieur festgestellt wurde. Ein Freund des Arbeitgebers/Vermittlers muss bestätigen, dass die/der papierlose Migrant·in in seinem Eigentum lebt. Kosten: ca. 700-1000 € und die Bescheinigung kostet zusätzlich ca. 180 Euro in Steuermarken. Es sei daran erinnert, dass es ohne Dokumente fast unmöglich ist, eine ordnungsgemässe Wohnung zu mieten.
Eine Pauschalstrafe von 500 Euro pro Arbeitnehmer/in, die von Arbeitgebern zu zahlen ist.
Eine Geldstrafe von 300 € pro Monat illegaler Beschäftigung: Arbeitgeber sollen diese Geldstrafe für frühere, legalisierte Arbeitszeiten zahlen. Davon geht ein Drittel an die Steuerbehörde und zwei Drittel an das INPS (Nationales Institut für soziale Vorsorge), das wiederum in Beiträge aufgeteilt wird, und ein weiterer Teil der Löhne wird an die Arbeitnehmer ausgezahlt. Die Geldstrafe wird tatsächlich von den papierlosen Arbeitnehmer·inne·n bezahlt, die im Falle einer reellen Anstellung unter folgenden Bedingungen arbeiten müssen und bezahlt werden:
Von 6 Uhr bis 14 Uhr / 14.30 Uhr – Arbeit ohne Pause auf den Feldern oder in den Gewächshäusern bei durchschnittlichen Sommertemperaturen von ca. 30 °C im Freien.
Unter Vertrag (äusserst selten): 53 €/Tag, Krankenversicherung, 28 Tage bezahlter Urlaub und bis zu 42 Tage bezahlter Krankheitsurlaub.
Ohne Vertrag (Schwarzarbeit): ca. 30 €/Tag, 27,50 €, wenn man die Kosten für den öffentlichen Nahverkehr zur und von der Arbeit abzieht. Es gibt keinen Urlaub.