Das Dorf Riace in Süditalien ist weltbekannt als Modell für den Empfang von Mig-ran·tinn·en. Am 30. September 2021 wurde der ehemalige Bürgermeister und Initiator dieses Projektes, Domenico «Mimmo» Lucano, von einem Gericht in Kalabrien zu einer drastischen Strafe verurteilt. (1)
Das Urteil des Gerichts in Locri, das Mimmo Lucano zu 13 Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt hat, macht uns fassungslos.(2) Wir können kaum glauben, was passiert ist, und sind zutiefst empört. Der Teil Italiens, der noch an Demokratie und Rechtsprechung glaubt, ist aufgewühlt. Die anfänglich von der Staatsanwaltschaft beantragten sieben Jahre erschienen uns bereits als eine Ungeheuerlichkeit, aber jetzt hat der Richter mit seinem Urteil den Einsatz verdoppelt und ist damit über jede Limite, die juristisch noch zu rechtfertigen wäre, hinausgegangen.
Ich kenne Mimmo Lucano seit Herbst 1998, als er in die Gemeinde Badolato kam. Dort hatte das CRIC (3), eine damals sehr aktive NGO, das erste Projekt zur Aufnahme von Migrant·inn·en durchgeführt, um dieses alte, verlassene Dorf wiederzubeleben. Mimmo kam mit der Einfachheit und Spontaneität, die ihn schon immer auszeichnete, um uns mitzuteilen, dass er dasselbe in Riace tun wollte: «Könnt ihr mir dabei helfen?» So entstand das Projekt Riace dank eines Darlehens der Ethikbank und vor allem dank der Solidarität zahlreicher italienischer und ausländischer Initiativen, insbesondere der Kooperativen von Longo maï und des Europäischen BürgerInnen Forums, die das Projekt nicht nur finanziell, sondern auch durch die Organisation eines «solidarischen Tourismus» unterstützten. Und dann «Recosol», das Netz der solidarischen Gemeinden Italiens, das seit mehr als zwanzig Jahren die Idee von Riace unterstützt und in sein kollektives Projekt einfliessen lässt.
Mimmo Lucano ist die Ikone von Riace: Er hat sein gesamtes Leben diesem Projekt gewidmet. Er gab sogar seine eigene Familie auf, um sich voll und ganz um den Empfang der Geflüchteten zu kümmern. Ihn jetzt mit einer solchen Brutalität zu schlagen, bedeutet, das Modell Riace treffen zu wollen, das in der ganzen Welt als das konkrete Symbol für eine menschliche Empfangskultur gilt und ein anderes Bild von Kalabrien und Italien vermittelt. Ein Modell, das gezeigt hat, dass es eine echte Alternative zu den Lagern und Ghettos gibt. Eine Alternative gegen die Politik der Zurückweisung von all den Menschen, die nur danach streben, in Würde leben zu können.
Aber es gibt noch Anderes, was sehr wertvoll ist: Das Modell von Riace, das von zahlreichen Gemeinden in Kalabrien und in anderen Regionen übernommen wurde, hat den Weg aufgezeigt, wie von der Abwanderung betroffene «innere Gebiete» wiederbelebt werden können. Riace ist eine wirksame Antwort auf Umweltrisiken wie Erdrutsche und Überschwemmun-gen, die gerade durch die fortschreitende Versteppung von denjenigen Gebieten verursacht werden, die für eine nachhaltige Zukunft des Landes so wichtig sind.
Haltlose Vorwürfe
Was hat Mimmo Lucano denn getan, das so schwerwiegend wäre, dass er eine Strafe ver-dient hätte, die normalerweise für hartgesottene Mörder, Mafiosi, internationale Drogenhändler, Vergewaltiger und Terroristen verhängt wird? Dem ehemaligen Bürgermeister von Riace wird vorgeworfen, die illegale Einwanderung gefördert zu haben, weil er einer verzweifelten, vor der Abschiebung stehenden Migrantin riet, einen älteren italienischen Mann zu heiraten. Wer von uns hätte das nicht auch als letzten Ausweg vorgeschlagen? Und wenn es ein Verbrechen ist, eine Ehe zwischen einer jungen Immigrantin und einem älteren italienischen Mann zu schliessen, dann müssten wir Tausende von Ehen annullieren und alle Paare ins Gefängnis stecken. Doch damit nicht genug: Noch schwerere und unglaubliche An-schuldigungen kommen hinzu: Klientelismus, Betrug, Veruntreuung und Machtmissbrauch. In den Hosentaschen von Mimmo wurde jedoch kein einziger Cent gefunden, und es gibt keinerlei Beweise dafür, dass er sich in irgendeiner Weise öffentliche Gelder angeeignet hätte. Die unbequeme, ja sehr unbequeme Wahrheit ist diese: Lucano wird ein „Verbrechen der Menschlichkeit“ vorgeworfen. Er nahm Zehntausende von Migrant·inn·en auf, die ihm die Präfektur ständig zuwies, um eine Lösung zu finden. Er hat versucht, den Menschen Arbeit zu geben und ihnen eine würdige Existenz zu verschaffen. Er versuchte, einem Dorf, das fast völlig verlassen war, wieder Leben einzuhauchen. Aus diesen Gründen ist er heute einer der gefährlichsten Straftäter im Land.
Sicherlich hat Lucano aufgrund seiner administrativen Unzulänglichkeiten und seiner man-gelnden Vertrautheit mit bürokratischen Regeln eine Reihe von Fehlern gemacht. Doch es gab kein Verbrechen, keine Veruntreuung, keine kriminelle Vereinigung... nur Erfindungs-reichtum als allergische Reaktion auf die Grenzen einer engstirnigen Bürokratie. Mit diesem Urteil hat das Gericht von Locri «de facto» das Verbrechen der Menschlichkeit in die Rechtslandschaft unseres Landes eingeführt und einen beunruhigenden Präzedenzfall ge-schaffen: ein weiteres Zeichen für die tiefe Krise, die unsere Justiz und unsere demokratischen Institutionen durchzieht. Wir nehmen diese Tatsache zur Kenntnis, jedoch ohne zu kapitulieren, denn wir wollen nicht im Lande Erdogans aufwachen.
Um unsere Demokratie und unsere Gesellschaft zu retten, wird in Riace eine Demonstration zur Unterstützung Mimmos stattfinden. Natürlich werden wir nicht dabei stehen bleiben und rechnen damit, dass dieses unglaublich ungerechte Urteil in der Berufung aufgehoben wird.
Tonino Perna, Wirtschaftswissenschaftler, Soziologe und Vizebürgermeister der Stadt Reggio Calabria
- Der Artikel wurde am 1.10.2021 in „Il Manifesto“ veröffentlicht.
- Zur Gefängnisstrafe kommen 500.000 Euro Geldzahlungen hinzu. Im gleichen Prozess wurden elf Mitstreiter·innen von Domenico Lucano zu geringeren Strafen verurteilt. Auch diese Verurteilungen sind skandalös.
- CRIC: Centro Regionale de Intervento per la Cooperazione