Am 5. November hallt in Marseille der Rathausplatz von italienischen antifaschistischen Slogans und Liedern wider. Eine kleine, mehrfarbige Menschenmenge wartet auf den Auftritt von Domenico Lucano, dem ehemaligen Bürgermeister von Riace, dem kleinen kalabrischen Dorf, das zum Symbol der Gastfreundschaft geworden ist und dem der Bürgermeister von Marseille, Benoît Payan, gerade die Ehrenmedaille der Stadt verliehen hat.
Als er im Türrahmen auftauchte, hörte die Menge nicht auf, ihm zu applaudieren und alle möglichen Arten von Ermutigungen auszusprechen, während Lucano vor Rührung über den Ausdruck einer solchen Solidarität in Tränen ausbrach.
In einem kurzen Radiointerview wurde er nach seinen Eindrücken von diesem Empfang gefragt und Lucano antwortete: «Es ist immer eine grosse Genugtuung, wenn ich durch Italien und Europa reise und um mich herum eine so starke, so schöne Solidarität spüre. Deshalb halte ich stand und schöpfe Kraft, um weiterzumachen. Ich möchte daher dem Bürgermeister von Marseille für diese Medaille danken, die in einem entscheidenden Moment des Gerichtsverfahrens, dem Berufungsverfahren, das voraussichtlich im Januar oder Februar 2023 enden wird, verliehen wird. Es zeigt mir noch mehr die tiefe Kluft, die in der Sicht auf die Fakten im Ausland im Vergleich zu Italien besteht. Wie ist es möglich, dass sie so unterschiedlich ist? Auf der einen Seite der Alpen werde ich als Krimineller bezeichnet, wie das Strafmass, zu dem ich in erster Instanz vom Gericht verurteilt wurde, zeigt1, während ich auf der anderen Seite durch solche Ehrungen gewürdigt werde – ich hoffe, dass diese Medaille die italienischen Justizorgane zum Nachdenken anregt! Die ganze Welt äussert sich auf eine positive Weise über Riace – ich kann die Solidaritätsbekundungen und die Anerkennung, die ich in den letzten Jahren erhalten habe, gar nicht mehr zählen. Zuerst war ich überrascht, aber dann habe ich verstanden: In einer Welt, in der immer mehr Mauern und Stacheldraht errichtet werden, ist die kleine Gemeinde von Riace zum Symbol der Hoffnung auf eine bessere Welt geworden.»
In Italien hat gerade der Berufungsprozess gegen Domenico Lucano und das «Riace-Modell» begonnen. Angesichts des politischen Kontexts, in dem der Prozess stattfinden wird, d. h. nach dem Sieg der extremen Rechten bei den letzten Wahlen, wird es immer schwieriger, über eine bessere Welt und die Hoffnung auf Gerechtigkeit zu sprechen. Domenico Lucano war bereits Salvinis «persönlicher Feind», als dieser als damaliger Innenminister seine schurkischen Dekrete über die Schliessung italienischer Häfen für Rettungsschiffe verkündete. Dekrete, die in diesen Tagen wieder traurige Aktualität erlangen, wo wir tausende Menschen in Booten zusammengepfercht treiben sehen, denen der Zugang zu einem Hafen verweigert wird, es sei denn, es besteht Lebensgefahr – eine Gefahr, die durch Inspektionen an Bord überprüft werden muss. Die anderen Menschen, so zitiere ich den neuen italienischen Innenminister, seien «eine Restbelastung», die anderswo untergebracht werden müsse: «Amen.» Denn man darf nicht vergessen, dass sie die Verteidiger·innen der «christlichen Werte» sind! Welche das genau sind, wissen wir nicht. Vielleicht die Weihnachtsbeleuchtung.
Für die in Italien regierende Rechte ist es Ehrensache, die NGO-Schiffe daran zu hindern, an der italienischen Küste zu landen; das haben sie ihren Wähler·inne·n versprochen. Es geht darum, aufzuzeigen, dass der Empfang der Geflüchteten unmöglich ist. Insbesondere eine würdige Aufnahme mit sozial interessanten Angeboten, wie dies in Riace der Fall war. Der Prozess gegen Domenico Lucano und das Riace-Modell ist also tatsächlich ein politischer Prozess. Es war immer dringlicher geworden, diese Erfahrung der Menschlichkeit zu kriminalisieren, sie zu zerstören und die Erinnerung daran auszulöschen.
Auf meine Frage, ob sie mit dem Schuldspruch jetzt ihr Ziel erreicht hätten, antwortet mir Domenico Lucano: «Paradoxerweise wurde der Schuldspruch, der das Experiment von Riace hätte beenden sollen, zum Funken einer Wiedergeburt. Auch wenn ich mich gegen den Gedanken empöre, dass jedes Projekt nur durch Geld realisiert werden kann, hat die Spendensammlung, die seither Riace unterstützt hat, es uns ermöglicht, die Gastfreundschaft wieder aufleben zu lassen. Wir haben fünf Familien aus Afghanistan und viele Menschen aus Subsahara-Afrika aufgenommen, vor allem Frauen und Kinder, die aus Deutschland abgeschoben wurden. Wir haben eine Schule, eine Kindertagesstätte und eine Kantine eingerichtet. Die Werkstätten haben ihre Türen wieder geöffnet. Das globale Dorf erwacht zu neuem Leben. Ein Paar aus Herat, das vor der Verfolgung durch die Taliban geflohen und gerade in Riace angekommen ist, baut jetzt ein Kunstatelier auf. Wie der Papst sagte: «Wenn ein Versuchslabor entsteht, bricht ein Gefängnis zusammen.»
Am 30. November wird in der Berufungsverhandlung das Wort an die Verteidigung übergehen. Wir warten auf dieses Datum, um eine umfassende juristische Neubewertung vornehmen zu können – in einem Kontext, der leider immer schwärzer und erdrückender wird und in dem Solidarität immer mehr zu einem Verbrechen werden soll.
Barbara Vecchio
- Domenico Lucano wurde in erster Instanz zu 13 Jahren und zwei Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von 500.000 Euro verurteilt. Eine völlig ungerechte und masslose Strafe, die das Gewissen vor Empörung erzittern lässt.