Wir veröffentlichen hier den ersten Teil des Redebeitrags von Pierre Lieuthagi* anlässlich der „Europäischen Bauerntage“, die im September 2005 von der Vereinigung Païsalp in Forcalquier abgehalten wurden. In Païsalp haben sich etwa 40 Kleinproduzenten aus der Haute-Proven-ce zusammengeschlossen. Jedes Jahr organisiert der Verein die „Europäischen Bauerntage“ mit Produzenten aus verschiedenen Ländern, an de-nen Konferenzen, Debatten, Filmvorführungen und ein großer Bauernmarkt stattfinden.
Seit 41 Jahren lebe ich in der Umgebung von Forcalquier. Das macht es mir möglich, sowohl die Ent-wicklung der Landschaft (wobei der Botaniker die Angewohnheit hat, die Veränderungen in der Vegetation zu verfolgen) als auch in der sozialökonomischen Ordnung wahrzunehmen, wobei eines ohne das andere nicht funktioniert.
Was mich bei meiner Ankunft 1965 am meisten be-eindruckte, war, dass es sich um eine Region han-delte, in der die Menschen enorme Anstrengungen, um nicht zu sagen Herzblut hineingesteckt hatten. Natürlich handelte es sich um wunderbare Landschaften. Dörfer, wo man den Eindruck hatte, das Leben sei einfach und dieses unglaubliche Gefühl von Freiheit bei einer Reise durch ein sehr offenes Land ohne Schranken, ohne Zäune. Jedoch entdeckte man sehr schnell zahlreiche Grenzen und unsichtbare Sperren, die ein-fach nur durch einige aufeinandergesetzte Steine markiert waren. Einfache Spuren der pastoralen Ge-sellschaft, die somit Teile eines Territoriums völlig entgegen dem Naturzustand festlegte, überall eingriff, selbst bis zur entferntesten Schlucht hin.
Die erbrachten Anstrengungen fielen mir auf im Zusammenhang mit aufgeschichteten Steinbergen, mehr oder weniger zusammengestürzten Terrassenmauern, verstreuten Ruinen in den trockenen Wäldern der Hügel, inmitten eines Landstückes ohne Wasser, was im März ein kurzes Aufblühen der Man-delbäume hervorrief. Heutzutage, während die Steinhaufen an den Feldrändern sich mit Geröllschutt vermischen oder durch Gleichgültigkeit von Hunderten Traktoren-PS auf demselben Boden wieder zerstreut werden, wo sie vor langer Zeit mühselig herausgesammelt wurden, komme ich nicht umhin, bei Spaziergängen über die Hügel daran zu denken, dass jeder dieser Steine von Hand aufgesammelt wurde, vor allem von Frauen und Kindern, die dem Pflug hinterher trotteten. Dies trifft auf alle Steine dieser Umgebung zu. Was mir außerdem be-sonders in der Region um Forcalquier auffällt, ist die Präsenz der Menschen, ihre Starrköpfigkeit, die an der Grenze zum Absurden liegt, ihre ungeheure Ausdauer bei der ständigen Pflege der Erde, von der sie lebten.
Die hiesige Landschaft, „patrimoine paysager“, wie es heute heißt, und was die Tourismusbüros ver-sprechen, ist nicht Natur, sondern ist Hoffnung und Schmerz, oft bescheidener Gewinn und ein Scheitern zugleich. Es ist mehr eine soziale als eine Naturgeschichte, auch wenn die wilde Pflanzenwelt schon immer von der kleinsten Unachtsamkeit der Bauern profitierte, um ihren Besitzanspruch geltend zu machen oder sich auszubreiten. Die pastorale Gesellschaft verstand es, stets den größten Nutzen zu ziehen, auch von dem, was wir heute als „unberührt“ betrachten.
Vierzig Jahre zurück
Es ist das abrupte Ende der traditionellen Landbevölkerung. Bei den Bauern der Haute-Provence herr-schen mitunter panikähnliche Zustände. Spannung und Konkurrenzdenken zwischen kleinen lokalen Produzenten und denjeni-gen, die immer mehr vom großen Markt leben, beginnen sich auszubreiten. Die zunehmende Mechani-sierung und mit ihr wachsende Investitionen und Anleihen sowie der politische Anspruch, entsprechend den Kriterien der landwirtschaftlichen Produktivität im vollen Delirium einer Selbstzele-brierung (der Mansholtplan ist dafür nur das bekannteste Beispiel) alle unrentablen Höfe zu liquidie-ren und im Gegenzug das Netz der kleinen und mitt-leren Betriebe durch einige industrielle Unternehmen zu ersetzen, erfordern eine Neustrukturierung des Grund und Bodens. Viele landwirtschaftliche Flächen (der trockenen Hügel) wer-den zugunsten von Gebieten, die nun bewässert wur-den, verlassen. Dies ist die Zeit, in der die Grund-stücke für einige Tausend Francs verschleudert werden, denn niemand hat mehr Lust sich hier anzusiedeln; eine Region, die so aussieht, als ob sie stürbe.
Nichtsdestotrotz sieht man jeden Montagmorgen vor dem Bistro Bourguet einige Dutzend Bauern stehen, die eifrig die letzten Neuigkeiten austauschen: übers Land, über Subventions- und Darlehensgeschichten, die Vor- und Nachteile einer Deklaration des Maltafiebers beim Veterinär, über die Frau von Jeannot, die mit dem Landwirtschaftsberater durchgebrannt ist, diesem Mistkerl, der nicht aufhört, eine Öffnung nach außen zu predigen. Es exis-tiert noch ein wirkliches soziales Leben bei den Landwirten der Region. Die Neuankömmlinge, die sich zwischen Sisteron und Apt auf dem Land niederließen, kann man an den Fingern einer Hand abzählen.
Man hat noch nicht gelernt, die Landschaft, Zweitwohnungen, den Auf-enthalt auf dem Lande zu vermarkten und ebenso wenig, dass eine gute Sicht auf die Felder vielmehr einbringt, als diese ein ganzes Leben lang zu bearbeiten. Es ist noch die Zeit der Naivität. Man hat noch keine Wälle von blauen Zypressen um die bald restaurationsbedürftigen Häuser gebaut. Es befinden sich noch keine Schilder mit der Aufschrift „Feuer-falle und Lebensgefahr“ auf den geschlossenen Fensterläden der ehemali-gen Höfe, die man bald in Ferienhäuser umwandeln wird. Wenn man zur Zita-delle hochsteigt, erblickt man einen Landstrich mit einer neuen Verstädterung, der bereits auseinandergerissen, aber noch nicht von unzähligen Pavillons um-geben ist, die sich in alle Richtungen ausbreiten.
In Forcalquier gibt es noch mehrere Lebensmit-telläden, Fleischer, Schu-ster, Kurzwaren, zwei Ei-senwarengeschäfte, wo man seine Nägel noch nach Ge-wicht erhält, und Elektriker verkaufen die Glühbir-nen pro Stück. Die Supermärkte haben hier noch nicht ihren Kreuzzug ge-gen das zu teure Leben be-gonnen. Man sucht vergeb-lich nach einem Laden, wo man Seife mit provenzali-schen Düften oder eine hübsche große Keramikzikade als Wandschmuck für die Villa kaufen kann. Was das indische oder thailän-dische Kunsthandwerk anbetrifft, ist es noch in Asi-en, aber nicht mehr für lange. Der erstaunliche geologische Sprung, der zur großen Freude der Immobilienmakler den Luberon bis Forcalquier vorangetrieben hat, hat noch nicht stattgefunden.
Allmähliche Anpassung
Damit wir uns nicht miss-verstehen: Es geht nicht um Nostalgie. Nicht mehr und nicht weniger als an-derswo war die Welt der Bauern in einer ökonomischen Strategie gefangen, die weit entfernt von den wahren Kapazitäten des Widerstandes aller Interessierten lag. Man hat sich so gut es ging angepasst, allerdings nicht ohne Ver-änderungen des bedeutend-sten Gesetzes. Wenig pro-duktives oder schwer bestellbares Land wurde ein-fach verlassen oder auf Brachland umgestellt. Der Rückzug der Schäfer kam zur selektiven Auslese der Ackerflächen für eine Erweiterung des Ödlandes und des Kiefernbestandes in der Höhenlage noch hinzu. Die berühmten Schäfereien im Contadour, schon von weitem sichtbare Anhaltspunkte in der mit wildem Berglavendel übersäten Landschaft, sind im dichten Kieferngehölz verschwunden, wo bereits die Buchen wieder hervorkommen. Das Unterholz der Weißeiche altert seit-dem bis zur Wiederherstellung einer Forstlandschaft, wie wir sie seit der Jung-steinzeit nicht mehr gesehen haben und wird mit Ende der brennbaren Fossilien sehr schnell eine ökonomische Funktion finden, deren langfristige Pflege wieder erlernt wer-den muss. Agrarlandschaft im engen Sinne umfasst heute nur besten Grund und Boden und dieser grenzt immer mehr an Wälder an. Die Dreiteilung des ländlichen Raumes der agro-pastoralen mediter-ranen Gesellschaft, welche die Römer einführten, und die sich in der Jungsteinzeit vor etwa 7000 Jahren zwischen Ackerland, Wei-deland (mit natürlicher Ra-senfläche), Ödland und dünnem Unterholz sowie Wald im engeren Sinn aus-breitete, geht in eine Zweiteilung über, denn die weitläufige Zwischenzone der Weiden wird von Jahr zu Jahr kleiner.
Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Erhaltung des heute so ge-nannten natürlichen medi-terranen Milieus, insbesondere was die Brände angeht. Jeder weiß, dass in unserem Klima Kiefernwälder sehr leicht brennen, und sich das Feuer dort schnell ausbreitet. Das ändert jedoch nichts an der Wahnvorstellung von einer Villa inmitten der Kiefernwälder, die nach den Flammen noch schöner austreiben als zuvor. In der alten Gesellschaft befand sich schon allein durch den Fakt der Dreiteilung des ländlichen Raumes der Wohnort vom bewaldeten Gebiet entfernt. Niemand wäre das Risiko eingegangen, mitten im Wald zu bauen. Wenn die Brände früher auch nicht selten waren, so hatten sie jedoch niemals die katastrophalen Ausmaße wie in der heutigen Zeit.
Die bäuerliche Gesell-schaft verschwindet
Ich mache diese breiten Ausführungen von der Beziehung Kiefern/Brände, denn sie sind ein gutes Beispiel dafür, wohin die fehlende Präsenz des Men-schen auf dem Land führen kann. Die Basse Provence erlebte eine außerordentliche Abwanderung am Ende des 19. Jahrhunderts, eine Zeit, in der das demographische Wachstum (welches das Leben auf dem Lande noch erschwerte) mit der Nachfrage nach Arbeitskräften in den großen Städten zusammenfiel, die sich im vollen industriellen Aufschwung befanden. Die Antwort der Flora ließ nicht lange auf sich warten. 1878 umfass-ten in Frankreich die Alepkiefern eine Fläche von nur 36.000 Hektar, davon 400 in Languedoc. Dreißig Jahre später vergrößerte sich allein in der Provence der Bestand auf fast 89.000 ha, davon 63.000 ha im Departement Bouches-du-Rhone. Von den insgesamt 13 kontinental-mediterranen Departementen besetzt diese Kiefernart heute etwa 233.500 ha gegenüber 290.000 ha der Grüneiche. Wenn man die abgebrannten Gebiete durchläuft, die heute größtenteils von der Kiefer bedeckt sind, beispielsweise in der Umgebung von Bandol, kann man weitläufige, aus der Landwirtschaft resultierende Erdwälle entdecken. So hat man die Auswirkungen des Verschwindens der Bauerngesellschaft in voller Größe vor Augen. Zugleich gibt es implizit eine Antwort auf die Frage zur Vorbeugung von Waldbränden: die Wiederherstellung einer aktiven ländlichen Ökonomie mit der gleichzeitigen Verantwortung für die darin befindliche Vegetation.
Ich will keine Lobe-hymnen auf die ehemalige Landbevöl-kerung anstimmen, was mich jedoch nicht daran hindert, die unglaubliche Courage derjenigen hervorzuheben, die vor dem 1. Weltkrieg mitunter im Verhältnis 4:1 Getreide ernteten, zehnmal weniger als das heutige Minimum. Zudem mussten sie noch ein Viertel dieser miserablen Ernte abzweigen, um im kommenden Herbst säen zu können. Wir behaupten nicht, dass es hier früher niemals U-weltschützer gab, deren Weisheit und Genügsamkeit uns dieses Land bis zu unserer Zeit erhalten hätte. Es gibt Postkarten vom Anfang des 20. Jahrhunderts, die eine weiße Land-schaft zeigen, abgenutzt bis zum Felsgestein. Dies war der Notwendigkeit geschuldet, das Überleben zu sichern, was Vorrang vor allem anderen hatte. Alle Arbeiten an den Bewässerungsdämmen dienten weder dazu, die Abhänge vor Erosion zu schützen noch das Hochwasser zu bremsen, sondern einzig dem Ziel, die Produktions-kapazitäten so weit wie möglich zu erhöhen. Der Niederwald wurde in solch kurzen Intervallen geschla-gen, dass er nur noch Reisigbündel hervorbrachte, die für das Feuern im Haus unerlässliche sind. Um den Wald machte man sich keine Sorgen. Höfe und Dörfer waren nicht in einer Art empirischen Bewusstseins von Integration in die Landschaft gebaut worden. Was wir heute als ästhetischen Erfolg werten, beruht auf der Kombination technischer und normativer Kontingenzen, wobei das Material bei der Verei-heitlichung eine große Rolle spielt und weit da-von entfernt ist, den Willen zur Harmonie auszuschließen.
Ich möchte dennoch an die alte Ökonomie der Selbstversorgung erinnern, die hier auf dem trockenen Boden ungefähr bis 1950 vorherrschte, und die eine außerordentliche Kenntnis des Milieus und seiner Möglichkeiten voraussetzte. Wenn man wenig hat, nutzt man alle vorhande-nen Mittel. Nur weil man arm ist, ist man nicht automatisch dumm; die Armen waren damals in der Über-zahl. Laut einer Studie über die Ernährung im Jabron-Tal am Ende des 19. Jahrhunderts hatten 60 Prozent der Menschen gerade genug zum Leben. Die Untersuchungen zur Problematik vom traditionellen Wissen und Nutzen der Flora, denen ich mich 1980 anschloss, wobei wir zahlreiche Zeitzeugen aus dem alten ländlichen Milieu befragten, haben viele Dinge der damaligen schweren Zeit zutage gebracht, aber auch viele Zeugnisse einer extrem subtilen Wahrnehmung von dem, was wir Landschaft nennen, und viele Ressourcen aus der Pflan-zenwelt, sei es als Nah-rungs- oder als Heilmittel. Diese Leute beschönigen nicht die Vergangenheit und behaupten nicht, dass früher alles besser gewesen sei. Die Nostalgie bezieht sich vor allem auf soziale Aspekte: „Wir haben mit-einander geredet, Monsieur“ . Es war vor allem der Einzug von Fernsehapparaten in den Dörfern und Höfen, der ihrer Meinung nach das Ende der Geselligkeit auf dem Lande beschleunigt hat.
In den 1960er Jahren nannten sich die Ökofreaks noch „Naturschützer“. Die Mehrzahl der Leute hielt sie für verrückte Schwä-mer. Und es stimmt, dass die ersten harten Ökofreaks durch Weltuntergangsszenarien und fortschritts-feindliche Ideologien von sich reden machten. Wie konnte die Gesellschaft der „30 Glorreichen“ sich mit einer Entwicklungspolitik zufrieden geben, die mit einer „Rückwärtsmaschine“ vergleichbar ist? Gleichzeitig ist dies die Periode, in der man beginnt, über Luftverschmutzung zu reden, den Treib-hauseffekt, die Verschmut-zungen der Süß- und Mee-resgewässer durch landwirtschaftliche Abfälle und auch über die Qualität der Nahrungsmittel, die natürlich in unmittelbarem Zusammenhang mit den Be-dingungen in der Tier- und Pflanzenproduktion stehen. Vierzig Jahre später, ist die Einbindung der regie-renden Apparate noch sehr zurückhaltend, es gibt kaum klare Informationen; wenn die Lüge zentraler Aufgabenbereich der Um-weltpolitik bleibt, wird die Landbevölkerung zusammen mit vielen Bürgern immer mehr kleine Alternativen aufbauen, was auch dieses Treffen zeigt.
Dieser kurze und sehr fragmentarische historische Rückblick soll als Hintergrund für eine ebenso schnelle Reise in die Gegenwart dieser Region dienen. Diese scheint mir gespalten zu sein, vielleicht sogar auf dem Weg zur Schizophrenie.
Pierre Lieutaghi*
Botaniker, Mane, F
Fortsetzung in der nächsten Nummer
* Pierre Lieuthagi hat für das ehemalige Kloster von Salagon in den Alpes de Haute Provence einen ethno-botanischen Garten angelegt, wo jahrhundertealte Pflanzen und Kräuter bewahrt werden. Seine Bücher wurden beim Verlag Actes Sud veröffentlicht.