Seit Anfang dieses Jahres demonstrieren zehntausende Bauern und Bäuerinnen mit ihren Traktoren in einigen Ländern Europas. Der folgende Artikel berichtet über die Situation in Frankreich – aus einer kritischen Perspektive.
Am Freitag, den 19. Januar 2024, wird das Erdgeschoss der regionalen Direktion für Umwelt, Raumplanung und Wohnungsbau (DREAL) im Département Aude in die Luft gesprengt. Ein staatliches Gebäude wird also durch eine Bombe zerstört. Zu der Aktion bekennt sich das «Comité d’action viticole» (CAV), eine Untergrundgruppe von Weinproduzent·innen.
Kaputtmachen plötzlich erlaubt?
Die Aktion findet im Rahmen der landesweiten starken Protestbewegung der Bauern und Bäuerinnen statt. Zusätzlich zu dieser Explosion kommt es seit mehreren Wochen zu zahlreichen Sabotageakten, Autobahnblockaden durch Traktoren und Verwüstung von Präfekturen. Am 22. Januar wird sogar eine TGV-Linie in der Nähe von Sète von Traktoren blockiert, die alte Reifen und Müll auf die Schienen abladen. Alle diese Aktionen sind sehr beeindruckend. In diesem Zusammenhang erinnern wir uns allerdings daran, dass im Jahr 2008 ein Anti-Terrorverfahren gegen Vertreter·innen der so genannten «Ultra-Linken» eröffnet worden war, weil sie angeblich eine TGV-Linie sabotiert hatten. Dies war die erbärmliche «Affäre Tarnac»1. Wir erinnern uns auch an die Massenverhaftungen und Verstümmelungen von Demonstrant·innen bei anderen Protestanlässen aufgrund von Sachbeschädigungen, die im Vergleich zu denjenigen der Landwirt·innen verschwindend gering ausgefallen waren. Wir erinnern uns ebenfalls an die Beschuldigung des «Ökoterrorismus» im Zusammenhang mit den Demonstrationen für die Wasserressourcen in Sainte-Soline. Was die Sprengung eines öffentlichen Gebäudes angeht, so möchten wir uns die repressiven und medialen Konsequenzen gar nicht erst vorstellen, wenn diese von einer antikapitalistischen Gruppe ausgegangen wäre. Doch hier und heute ist nichts von all dem zu spüren. Präsident Emmanuel Macron fordert die Präfekten auf, sich die Probleme der wütenden Landwirt·innen anzuhören. Premierminister Gabriel Attal empfängt deren Vertreter·innen direkt im Regierungssitz von Matignon. Der rechtsextreme Sender Cnews, der sich sonst über «Verwilderung der Sitten» und «Gewalttaten» Sorgen macht, unterstützt die Bewegung und stellt sein Logo aus Solidarität auf den Kopf, so wie die Landwirt·innen die Verkehrsschilder umgedreht haben. Wenn eine Protestbewegung derart von der Regierung und den Medien abgedeckt wird, die sich in den Händen von Milliardär·innen befinden, ist etwas faul.
Ein unbestreitbares Leiden
Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Landwirt·innen haben allen Grund, sich zu empören. Frankreich ist ein grosses Agrarland und zählte 1945 noch 10 Millionen Bauern und Bäuerinnen, d. h. mehr als ein Viertel der Bevölkerung. Im Jahr 2019 gab es nur noch 400.000 Landwirt·innen, eine Division um den Faktor 20. Eine ganze Welt ist verschwunden mit ihrem Know-how, einem sozialen Leben und lebendigen Landschaften. Der Produktivismus hat alles zerstört. Die Flurbereinigung der 1960er Jahre hat grosse Parzellen geschaffen, die in immer weniger Händen konzentriert sind. Die Agrarindustrie hat die Bauern und Bäuerinnen in Unternehmer·innen verwandelt, die gezwungen sind, immer mehr zu produzieren, um rentabel zu gelten und Subventionen zu erhalten. Dazu kommen massenhaft Pestizide. Heute sind die Landwirt·innen von Suiziden, Unfällen, Krankheiten, Einsamkeit sowie vom Druck der grossen Handelsketten extrem stark betroffen. Die Landwirt·innen leiden, das ist unbestreitbar. Zudem wird in den kommenden Jahren ein Grossteil der Landwirt·innen in den Ruhestand gehen, und es besteht die Gefahr, dass grosse Konzerne das Land aufkaufen und Hektaren anhäufen, wodurch die produktivistische Logik auf Kosten der kleinen Bauern und Bäuerinnen noch verstärkt würde.
In den Armen der Agrarindustrie-Lobby
Noch tragischer ist es, dass sich diese notleidende Landwirtschaft in die Arme derer wirft, die für ihre Misere verantwortlich sind. Derjenige, der momentan über die Fernsehbildschirme schwirrt und in den Regierungsbüros ein und aus geht, heisst Arnaud Rousseau. Man hört ihn im Radio sagen: «Was die Landwirte wollen, ist, ihrem Beruf wieder Würde zu verleihen». Dennoch gehört Arnaud Rousseau zu denjenigen, welche die Würde dieses Berufsstandes zerstören. Er leitet die «Fédération nationale des syndicats d’exploitants agricoles» FNSEA, eine mächtige Lobby der Agrarindustrie, die mit der Regierung verbunden ist. Es ist die FNSEA, die den Produktivismus, die neoliberale Landwirtschaft und die Deregulierungen fördert. Es ist die FNSEA, die es den Grossbauern ermöglicht, die Kleinbauern zu fressen. Es ist die FNSEA, welche die Bauernschaft zerstört hat. Es ist daher verwirrend, dass die Organisation, die eigentlich für die Unzufriedenheit der Landwirt·innen verantwortlich ist, zu ihrem Sprachrohr geworden ist.
Aber es kommt noch schlimmer. Arnaud Rousseau leitet nicht nur die FNSEA, sondern auch einen riesigen Betrieb von 700 Hektaren und ist Vorsitzender der Avril-Gruppe, eines multinationalen Agrobusiness-Unternehmens, das sich auf Öle spezialisiert hat und bis 2022 über 9 Milliarden Euro Umsatz erzielt hat. Ja, 9 Milliarden! Was sind die Gründe für diese Rekordzahlen? Die Inflation. Sein Konzern hat seinen Umsatz im Vergleich zu 2021 um 32 Prozent gesteigert und vor allem 218 Millionen Euro Gewinn erzielt, was einem Anstieg von 45 Prozent im Jahresvergleich entspricht. Rousseau hat sich einfach an der arbeitenden Bevölkerung bereichert, die mehr bezahlen musste. Er ist auch Generaldirektor von «Biogaz du Multien», einem Unternehmen, das sich auf Biogasanlagen spezialisiert hat.
Arnaud Rousseau hat nichts von einem Bauern, der mit seiner Scholle verbunden ist. Er ist ein Unternehmer, ein grosser Patron, der über seine Hektaren herrscht wie ein Manager über seine Fabrik. Er ist Absolvent der «European Business School» in Paris und handelt auf den Finanzmärkten mit Agrarrohstoffen. Welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen Arnaud Rousseau und dem kleinen Landwirt aus der Bretagne, der kaum über die Runden kommt? Keine. Ausser, dass der Erste vom Elend des Zweiten lebt.
Doch kommen wir auf die Explosion in Südfrankreich zurück. Im November letzten Jahres versammelten sich fast 6000 Weinbauern in Narbonne, um einem Aufruf der FNSEA zu folgen, und prangerten die katastrophale Situation der Weinbauern im Jahr 2023 an. Für ihre Not machten sie «extremistische Umweltschützer» verantwortlich, die «unhaltbare» Normen aufstellen würden. Die FNSEA forderte die Regierung auf, einerseits Soforthilfen zu gewähren und andererseits den Wettbewerb mit ausländischen Weinen einzuschränken, obwohl viele französische Winzer·innen selbst vom Export ihrer Weine profitieren. Die Hauptforderung war also eine Art Protektionismus à la Trump, bei dem alle als Verlierer enden würden– natürlich ausser ein paar Unternehmer. Es scheint so, dass das «Comité d’action viticole» (CAV) das Recht hat, Bomben zu legen, während jeder sonstige soziale Protest mit eiserner Hand niedergeschlagen wird. Das CAV hat übrigens seit den 1960er Jahren zahlreiche Anschläge verübt. Darunter fielen die Ermordung eines Polizisten und die Sprengung eines Büros der Sozialistischen Partei in der Nähe einer Schule, ohne dass die CAV jemals wirklich behelligt wurde.
Ist es unausweichlich, dass die Wut der Landwirt·innen von den Lobbyisten des Agrobusiness zur grossen Zufriedenheit der herrschenden Neoliberalen vereinnahmt wird? Nein. Es gibt auch die Confédération Paysanne, eine linksgerichtete Gewerkschaft, die gegen die produktivistische Landwirtschaft ist und die von der FNSEA vertretenen Lösungen anprangert. Die Confédération Paysanne ist gegen Landgrabbing und die industrielle Landwirtschaft, kämpft für die Würde des Berufs, für das Ende der Monopole und eine Rückkehr aufs Land. (…)
Für den Respekt von Mensch und Natur
Im Gegensatz zur FNSEA und zum CAP sind die Mitglieder der Confédération Paysanne der staatlichen Repression ausgesetzt: Wenn sie die Heckenlandschaft von Notre-Dame-des-Landes gegen einen geplanten Flughafen verteidigen; wenn sie gegen GVOs oder Pestizide demonstrieren; wenn sie gegen die Landnahme durch die Agrarindustrie oder gegen Mega-Wasserbecken kämpfen. Sie – im Gegensatz zu den Mitgiedern der FNSEA – werden dann mit Tränengas besprüht oder festgenommen. In den Medien werden sie als gefährliche Protestierende und nicht als sympathische, wütende Bauern und Bäuerinnen dargestellt. Für die Mächtigen gibt es also gute und schlechte Bauernrevolten. Angesichts der Medienberichterstattung über die aktuellen Proteste können wir uns leicht ausrechnen, welche Interessen gerade vertreten werden. Die Vorschläge zur Unterstützung der industriellen und umweltschädlichen Landwirtschaft werden jedoch keine Lösung bringen. Es ist das Landwirtschaftsmodell, das geändert werden muss, nicht nur die Höhe der Zuwendungen oder die ökologischen Regeln. Über die Confédération Paysanne hinaus finden zur Zeit überall Experimente für eine andere Landwirtschaft statt, welche die Erde, die Vielfalt und das Leben respektiert. Diese gilt es zu unterstützen.
Quelle: Webseite von Contre Attaque.
- Nach jahrelanger Verfolgung durch die Behörden wurden die Angeklagten erst 2018 vollumfänglich freigesprochen. Die Tarnac-Affäre hatte sich als ein polizeiliches Lügengebilde erwiesen.