LAUTSPRECHER / FRANKREICH: Ein Etappensieg

von Die Redaktion, 12.09.2023, Veröffentlicht in Archipel 328

Das Verbot der «Soulèvements de la terre» (Aufstände der Erde) ist vorläufig aufgehoben. Doch die endgültige Entscheidung steht noch aus.

Der Richter für einstweilige Verfügungen des französischen «Conseil d’Etat» (Staatsrat)1 setzte am Freitag, dem 11. August, das Dekret zur Auflösung der «Soulèvements de la terre» aus, das am 21. Juni vom Ministerrat, also von der französischen Regierung, erlassen worden war. Das Verfahren war Ende März 2023 eingeleitet worden – wenige Tage nach einer unbewilligten Grossdemonstration gegen den Bau von riesigen Wasserrückhaltebecken in Sainte-Soline (Departement Deux-Sèvres). Die Regierung prangerte damals die «Anwendung von Gewalt» durch die «Mitglieder» dieser ökologisch-sozialen Bewegung an, obwohl es die Polizei war, die nachweislich extreme Gewalt gegen die zum allergrössten Teil friedfertigen Teilnehmer·innen der Kundgebung eingesetzt hatte. Die Regierung erklärte damals, dass die Protagonist·innen der Bewegung «unter dem Vorwand, für den Erhalt der Umwelt einzutreten» zur «Anwendung von Gewalt» gegen Polizist·innen und Sachwerte schreiten würden. Die «Soulèvements de la Terre» würden «zur Begehung von Sabotageakten und zur Verursachung von materiellen Schäden» anstiften, einschliesslich der Anwendung von «Gewalt». Für den Staatsrat besteht jedoch «ein ernsthafter Zweifel an der im Auflösungsdekret vorgenommenen Qualifikation der Provozierung zu gewalttätigen Handlungen gegen Personen und Güter» durch die Bewegung. Damit hat das oberste Verwaltungsgericht das Dekret zur Auflösung der «Gruppe» vorläufig suspendiert, indem sie auf die Anträge für eine einstweilige Verfügung der Anwält·innen der Bewegung einging. Die vorläufige Suspendierung des Erlasses ist aber noch keine endgültige Entscheidung des Staatsrats, ob die «Soulèvements de la terre» von der Exekutive schlussendlich verboten werden dürfen oder nicht. Trotzdem wurde die jetzige Entscheidung von allen ökologisch und sozial Bewegten in Frankreich mit Erleichterung aufgenommen.

Argumente der Verteidigung

Die «Soulèvements de la terre» sind keine «De-facto-Gruppierung», wie von Regierungsseite behauptet, sondern vielmehr eine Denkrichtung, die auf einer grossen Bewegung beruht, die weder eine Führung noch identifizierbare Mitglieder hat. Diese Bewegung organisiert sich durch eine Konstellation von Komitees sowie durch die Koordinierung zwischen zahlreichen Organisationen auf verschiedenen Versammlungen. Die dem gesamten Erlass zugrunde liegende Vorstellung einer von Rädelsführer·innen gesteuerten Gruppierung ist eine reine Phantasterei der Polizei.

Die meisten der im Auflösungsdekret angeführten Vorwürfe sind nicht auf die «Soulèvements de la terre» zurückzuführen und beruhen auf sachlich falschen Elementen.

Sachbeschädigungen, die nicht lebensbedrohlich sind, können rechtlich nicht als Gewalt eingestuft werden. So kann beispielsweise der Aufruf, die Plane eines Wasserbeckens zu zerschneiden oder sich gegen den Tränengaseinsatz der Polizei zu schützen, nicht als «gewalttätige Provokation» bezeichnet werden. Die Auflösungsentscheidung ist weder notwendig noch geeignet oder verhältnismässig. Sie stellt einen gefährlichen Präzedenzfall dar, der die Versammlungs- und Meinungsfreiheit massiv beeinträchtigt. Dieser Erlass stellt eine klare Verletzung der Artikel 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention dar. Die Redaktion

Conseil d’Etat: Der Staatsrat ist das höchste Verwaltungsgericht in Frankreich. Er hat zwei Aufgaben: Er urteilt über Konflikte zwischen Bürger·innen und der Verwaltung und erstellt Rechtsgutachten für die Regierung und das Parlament zu ihren Gesetzesentwürfen und Verordnungen. Er stellt sicher, dass diese mit der Verfassung sowie dem nationalen und europäischen Recht konform sind.