Serge ist an einem kollektiven Landwirtschaftsprojekt in der Bekaa-Ebene beteiligt, in dem Menschen aus dem Libanon, aus Frankreich und welche, die aus Syrien flüchten mussten, miteinander engagiert sind. Das EBF unterstützt dieses Projekt Juzurna Buzurna seit seinem Entstehen. Serge war auch massgeblich an der Revolution beteiligt, die im Oktober 2019 angefangen hat. Wir haben ihn kurz vor und auch direkt nach der Explosion in Beirut über die Situation im Libanon befragt.
Serge: Der Libanon ist ein gescheiterter Staat, ein Versager. Um das zu verstehen, muss man am Anfang beginnen, das heisst im zweiten Teil des Bürgerkriegs, der kein bewaffneter Krieg mehr war, sondern ein Krieg im feinen Anzug. Gegen Ende der Kämpfe in den Jahren 1991-1992 gab es eine Vereinbarung zwischen den verschiedenen kämpfenden Parteien. Sie teilten sich den Kuchen. Seitdem sind fast die gleichen Personen an der Macht, mit einigen wenigen Gesichtsveränderungen von Zeit zu Zeit. Das System ist wie ein Betrug in Pyramidenform, bei dem man Geld einbringt oder Geld nimmt, welches nicht wirklich existiert, es ausgibt und dann nach mehr verlangt. Unser Land ist diesem System und auch dem Neoliberalismus zu Dank verpflichtet. Alles, was in dieser Welt schief läuft, kann hier vorgefunden werden: Korruption, Diebstahl, sinnlose Ausgaben. Unsere Wirtschaft ist stark vom US-Dollar abhängig, unsere Währung ist völlig abgewertet, die Preise sind gestiegen. Ganz zu schweigen davon, dass wir auch den Importkartellen ausgeliefert sind. Fast alle Rohstoffe und Lebensmittelprodukte werden von kleinen Gruppen, die mit den Preisen machen können, was sie wollen, importiert und kontrolliert. Während die Preise stiegen, beschloss die Regierung kostenlose Internetanrufe zu besteuern; das war der Auslöser für den Protest. Wir waren sechs Monate lang auf der Strasse. Ich komme aus Tripoli und ging dorthin zurück; vom 22. Oktober 2019 bis Ende Januar 2020 war ich dort und lebte an vorderster Front. Wir stellten Zelte auf, schufen eine Agora, führten täglich Debatten durch, luden zum Beispiel Fachleute aus der Wirtschaft ein. Das Ganze wurde zu einem Raum für gegenseitigen Informationsaustausch und für unsere gemeinsame Hoffnung. Wir setzten all unsere Energie daran, um zu zeigen, dass wir, wenn wir zusammen sind, solidarisch leben und Dinge aufbauen können.
Danach bin ich wieder in die Bekaa zurückgekommen, weil es viel Arbeit im Projekt gab. Dann war noch der Covid. Der Staat und die Armee machten sich den Lockdown zunutze, um alle revolutionären Plätze in allen libanesischen Städten zu übernehmen, als ob nichts geschehen wäre. Während dieser Zeit begab ich mich mit einer Gruppe von Freunden auf Tournee. Wir gründeten eine Bewegung, die sich «Basilikumbewegung» nennt, um Netzwerke der landwirtschaftlichen Zusammenarbeit und Nahrungsmittelsolidarität zu schaffen – inspiriert von unserer Arbeit auf dem Bauernhof. Die Herausforderung besteht darin, unsere Erfahrung, wie wir unabhängig werden können, wie wir uns von Monopolen befreien und all dies in einen genossenschaftlichen Rechtsrahmen stellen können, auf den gesamten Libanon auszudehnen.
Wir haben es gerade noch geschafft, die ehemalige Regierung mitten in der Revolution zum Rücktritt zu bewegen, aber wir befinden uns auf einem Abhang, und siehe da, die Rutschgefahr nimmt zu. Wir sind von 1 Dollar für 1‘500 libanesische Pfund auf 1 Dollar für 8‘000 Pfund gestiegen, so dass die meisten Menschen drei Viertel ihrer Kaufkraft verloren haben, wenn nicht sogar mehr. Das hier ist eine tiefe Krise des Neoliberalismus. Es gibt keine Agrarpolitik, keine Überlegungen zur Industrie. Wir sind zu nichts mehr fähig, ausser qualifizierte Arbeitskräfte zu exportieren; das ist alles, was das System noch am Laufen hält. Menschen, die ihr Studium beendet haben, gehen in den Golfstaaten oder anderswo arbeiten und schicken ihren Eltern Geld.
Nick Bell: Während der Monate, in denen Sie in Tripolis in der Bewegung waren, war die Beteiligung der Bevölkerung sehr breit, sowohl was die verschiedenen Generationen als auch die Berufe betrifft?
Es waren vor allem junge Menschen, viele junge Menschen und auch viele Menschen mit Familien und Kindern. Durch diese Welle der Hoffnung wurden viele Traumata einer Generation, die schreckliches Leid aus dem Bürgerkrieg mit sich trug, mehr oder weniger aufgelöst. Aber es sind vor allem die Jugendlichen, die die Dinge in Bewegung gesetzt haben, auch diejenigen, die jünger sind als ich: Schülerinnen, Schüler und die Studierenden, die im Moment an der Universität sind. Nicht zu vergessen all die jungen Menschen, die sich in einer extrem prekären Situation befinden, vor allem in den sehr armen Gegenden, in Tripoli oder anderswo. So entstand eine äusserst effektive Mischung, in der es eine Menge Lebenserfahrungen von überallher gab. Alle waren sich einig, dass etwas anderes getan werden musste.
Es scheint, dass bei zahlreichen jungen Menschen, von denen viele nicht im Libanon bleiben wollen, inzwischen grosse Verzweiflung herrscht.
Ja, das stimmt. Wir stecken viel Energie hinein, und wenn es zuerst viel Hoffnung und dann viel Enttäuschung gibt, ist das sehr ermüdend. Die Sorge der meisten Menschen ist, wie sie ihre Familie ernähren können und dass sie dafür weggehen müssen. Es ist immer die gleiche Dynamik. Die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte hat sich inzwischen verdreifacht, weil es im Libanon nur sehr wenige Möglichkeiten gibt, anständig zu leben. Viele Menschen haben ihren Arbeitsplatz verloren oder bekommen nur mehr ein Drittel ihres Gehalts. Doch selbst mit guten Gehältern können sich die Menschen grundlegende Dinge wie Windeln für Babys nicht mehr leisten, weil alles fünfmal teurer geworden ist. Viele Menschen verloren ihre Arbeit im Ausland und mussten in den Libanon zurückkehren. Der Geldfluss ist nicht mehr derselbe und die Verschuldung hat weiter zugenommen. Ich habe in letzter Zeit einige Artikel über das Finanz-Engineering gelesen, in denen anscheinend die Grossaktionäre der Banken, der Gouverneur der Libanesischen Bank und die Minister virtuell die Zahlen aufblähten und andere Zahlen senkten, um Gewinne zu machen. Am Ende waren es die Einlagen der kleinen Leute, die kleinen Renten, die dabei aufgefressen wurden.
Es gibt Länder, in denen Familien, die in der Stadt leben, auf dem Land verwurzelt sind. Manchmal besitzen sie Land, und oft nützen sie dieses in Krisensituationen, weil es ihnen einfach erlaubt zu essen. Gibt es dieses Phänomen im Libanon?
Die meisten Einwohner der Grossstädte, 60 bis 70 Prozent dieser Bevölkerung, sind Menschen, die vom Land in die Stadt gekommen sind, um etwas Besseres zu finden, um Gehälter zu bekommen. Die meisten dieser Familien besitzen Land, aber wegen der Immobilienblase haben die Menschen ihr Land verkauft und eine Wohnung in der Stadt gekauft. Viele Menschen finden sich also ohne Land wieder. Auf der anderen Seite fehlt es an Know-how. Eine ganze Generation hat ihr Dorf verlassen und will nicht in die Landwirtschaft zurückkehren, weil sie sahen, wie ihre Eltern sich lange Zeit für nicht viel abrackerten.
Wir versuchen mit unserem Projekt zu zeigen, dass man anständig leben kann, indem man ein Stück Land bewirtschaftet, das nicht unbedingt riesig ist. Wir befinden uns auf 2 Hektar und alles läuft sehr gut. Viele Leute haben gesagt, ich kann meinen kleinen Gemüsegarten haben und so zumindest bei meinen Gemüseeinkäufen sparen. Dies hat bei Menschen, die aus ländlichen Gebieten kommen und die gezwungen waren, in die Stadt zu ziehen, gute Erinnerungen geweckt. Es löste eine Menge Enthusiasmus, Initiativen, gemeinsame Gärten, Kooperativen und Arbeit aus. Wir organisieren Ausbildungskurse, die es den Menschen ermöglichen, sich zurechtzufinden, zu forschen und Erfahrungen auf diesem Gebiet zu sammeln. Wir teilen unsere Erfahrungen mit unserem Projekt «Juzurna Buzurna», was bedeutet: «Unsere Samen sind unsere Wurzeln». Wir produzieren mindestens 100 verschiedene Gemüsesorten.
Die Mitglieder Eures Kollektivs in der Bekaa sind aus dem Libanon, aus Frankreich, aber auch syrische Geflüchtete, die von Anfang an dabei waren. Es gibt mehr als eine Million syrische Geflüchtete im Libanon, was in einer solchen Krisensituation unglaublich ist. Was lässt sich derzeit über das Zusammenleben und die Situation dieser Menschen im Libanon sagen?
Die Lage der Flüchtlinge im Libanon ist sehr schlecht. Die internationale Hilfe ist nicht mehr das, was sie zu Beginn der syrischen Revolution war; ganz zu schweigen von all dem, was durch die Korruption im Libanon abgeschöpft wurde. Wir versuchen zu zeigen, dass wir solidarisch zusammenarbeiten können. Da wir eine sehr kleine Vereinigung sind, ist die Wirkung nicht enorm, aber wir konnten dennoch mit mindestens 400 libanesischen, syrischen und palästinensischen Bauern und Bäuerinnen zusammenarbeiten und zeigen, dass ein anderes Modell möglich ist. Im Libanon haben wir ein grosses Problem mit Rassismus, mit dem wir uns Tag für Tag auseinandersetzen müssen. Die Art und Weise, wie wir die Dinge angehen, hat aber viel geholfen. Und damit es klar ist: Wir brauchen internationale Solidarität, es muss bekannt werden, darüber gesprochen werden; die Menschen anderswo, vor allem die, die sich auf landwirtschaftlicher Ebene gemeinsam einsetzen, müssen wissen, dass die Dinge hier nicht sehr gut laufen. Wir tun, was wir können, wir kämpfen jeden Tag, wir geben nicht auf, wir werden bis zum Ende dabei sein. Aber es wäre für die Menschen anderswo wichtig zu wissen, dass ihre Regierungen nicht die besten Verbündeten des libanesischen, syrischen, palästinensischen Volks und anderer Völker sind.
Serge einige Tage später, nach der Explosion:
Der Premierminister hat vor wenigen Minuten den Rücktritt der Regierung angekündigt. Es ist getan, aber es ist absolut nicht genug. Wie die Situation beschreiben? Ein grosser Teil der Stadt liegt in Trümmern. 2‘700 Tonnen Ammoniumnitrat: eine der grössten nicht-atomaren Explosionen in der Geschichte der Menschheit. Die totale Zerstörung eines ganzen Viertels, 300‘000 zerstörte Häuser, Hunderte von Toten, Tausende von Verwundeten, zwei verwüstete Krankenhäuser und eine völlig überlastete Ärzteschaft. Es ist ein Gemetzel. Ich habe es mir angesehen. Seit letzten Donnerstag bin ich jeden Tag hin gegangen, und offen gesagt: wir haben schon schreckliche Dinge gesehen, aber noch nie so etwas wie das hier. Seit der Explosion sind die Menschen auf der Strasse. In den ersten Tagen gab es eine grosse Solidaritätsbewegung, um die Verletzten zu finden, um zu versuchen, die zu retten, die hätten gerettet werden können, um die Strassen zu räumen, um den Menschen in ihrem Unglück zu helfen... Danach, am Samstag, gab es eine grosse Kundgebung, eine Demonstration. Wir wurden von der Polizei sehr freundlich mit Tränengasgranaten und Gummigeschossen empfangen. Wir wurden auch mit Pistolen beschossen, aber wir waren extrem zahlreich. Es ist eine ganze Bevölkerung, ein ganzes Volk, das sich an den 17. Oktober, den Beginn der Revolution, erinnert, mit viel Schmerz und Wut. Die Strasse leert sich nicht, aber Beirut steht unter militärischer Kontrolle. Die Volksbewegung muss auf der Strasse bleiben, um den Druck aufrechtzuerhalten, aber irgendwann werden wir uns den Streitkräften stellen müssen, seien es die Milizen oder die «offiziellen» Streitkräfte. Werden sie die Menschen erschiessen? Sie schiessen bereits, also weiss ich nicht, was passieren wird. Vorläufig sind wir diese Regierung losgeworden. Wir werden Unabhängige einsetzen müssen, in die wir Vertrauen haben und die in der Lage sind, ihre Arbeit zu tun, ohne dem Druck der verschiedenen politischen Akteure nachzugeben, um mit dem Aufbau dieses Landes beginnen zu können. Im Moment haben wir nichts. Wir müssen also wieder ganz von unten anfangen.
Das Interview führte Nick Bell, EBF, für Radio Zinzine
*Dieser Artikel ist eine Niederschrift von Auszügen aus der Sendung «Confins du Monde – Retour au Liban n°30» von Radio Zinzine. Ein Interview, das am 4. August 2020 mit Serge, einem libanesischen Freund, geführt wurde. Knapp zehn Minuten nach Beendung dieses Interviews ereignete sich die gewaltige Doppelexplosion in Beirut. Einige Tage nach der Katastrophe, sprach Radio Zinzine erneut mit ihm.