MAROKKO: Die Bewegung vom 20. Februar
Das Jahr 2011 wurde durch einen populären Aufschrei wachgerüttelt: «Verschwinde!» Zuerst in Tunesien, wo am 14 Januar der Diktator Ben Ali durch eine ebenso starke wie auch unerwartete Bewegung weggefegt wurde; anschließend erging es Mubarak am 11. Februar in Ägypten ebenso. Die Völker vom Maghreb bis zum Maschrek1 lehnen sich auf, organisieren sich selber, besetzen die Straßen auf friedliche Weise, wehren sich gegen die Repression, überwinden ihre Angst und erheben ihre Stimme: «Chaab Yourid» (das Volk will). Zweiter Teil
In Marokko gingen die Demonstranten in mehreren Städten und ländlichen Zonen am 20. Februar auf die Strasse, um die Völker von Tunesien und Ägypten zu unterstützen und eine umgreifende Änderung zu verlangen. Sie folgten einem Aufruf von jungen Aufständischen. Ein Jahr nach dem 20. Februar 2011 geht die Bewegung vom 20. Februar (B20F) weiter, sucht sich, formt und entwickelt sich, obwohl in den Medien wenig davon zu hören ist bleibt Safi, Zentrum des Widerstands und der Repression.
Die Stadt Safi an der atlantischen Küste war das Zentrum einer breiten Protestbewegung und gleichzeitig setzte seit des Beginns der B20F eine blutige Repression ein. Die Einwohner, vor allem die Jugendlichen organisierten riesige Volksmärsche. Kamal Umari, ein Mitglied der Bewegung, wurde entführt und gefoltert; er starb am 2. Juni im Spital. Seine Bestattung wurde von zehntausenden von Demonstranten begleitet, die die Verurteilung der Folterknechte verlangten. Die darauf folgende Repression verstärkte bloß den Zorn der Bewegung. Safi ist in einer Region, in der der Wahlboykott gegen das Referendum für eine neue Verfassung am größten war. Die Agenten des Makhzen wurden in ihrer Propagandaarbeit gehindert. Am 1.August brachen im Quartier Afsi, im Süden der Stadt, Unruhen aus. In diesem Industrieviertel sind Textilindustrie und Sardinenkonservenfabriken angesiedelt, die völlig exportabhängig sind und derzeit stark unter der internationalen Krise leiden. Die Folge: zahlreiche Fabriken sind geschlossen und 72.000 Familien arbeitslos. Allein der Hafen von Safi mit früher 15.000 Arbeitern verfügt heute gerade noch über 2000 Stellen. Die Textilkrise führte zur Schließung von drei Fabriken mit 1400 Arbeitsplätzen. Dieses ärmliche Wohnvierteln hat ungenügende Infrastrukturen und ist durch den Abfall der Phosphatindustrie stark verschmutzt, der Abfall wird direkt ins Meer geleitet. Die Ordnungskräfte umzingelten das Quartier, griffen die Demonstranten mit Tränengas an und verfolgten die Jungen in das südliche Wohnvierteln. Die ganze Bevölkerung wurde eingekesselt und war Angriffen ausgesetzt. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen dauerten den ganzen Tag und die darauf folgende Nacht. Zwei Polizeiposten wurden niedergebrannt. Teilnehmer des Aufstandes bezeugten, dass Vermummte aus Polizeiautos ausgestiegen sind. Sie bezweifeln die offizielle Version, die alle Schuld den Jungen zuschiebt. Vierzehn Jugendliche wurden verhaftet.
Überall Kämpfe
Die B20F ist der Anfang einer Bewegung für einen Wechsel in ganz Marokko. Ohne die Arbeiter, Bauern, die Ausgeschlossenen aus Stadt und Land kann er nicht stattfinden. In Imiter zum Beispiel, einer Stadt im Hinterland mit Silberminen denunzieren die Einwohner den Makhzen: Die Minen werden von Managem einer Holding der Gruppe ONA ausgebeutet, die sich im Besitz des Königs befindet. Die Stadt wird von der Partei «Authenzität und Modernität» (PAM) verwaltet, die 2008 von einem Freund des Königs, Fuad Ali El Himma, ehemaliger Innenminister, gegründet wurde. Die lokale Bevölkerung lebt in großer Armut. Seit August 2011 organisiert sie Friedensmärsche und fordert Arbeit in der Region, für ihre Kinder Schultransporte, Zugang zu sauberem Wasser und den Stopp der Verschmutzung.
Die Macht bleibt in den Händen des Königs
Die marokkanische Monarchie bleibt eine große Hürde für einen Wechsel. Vor allem auch, weil sie von den westlichen Mächten und den Monarchien im Golf unterstützt wird. Schon ist fast ein Jahr vergangen, aber der Makhzen bleibt taub für die Forderungen der B20F und versucht Zeit zu gewinnen. Das Referendum über eine Reform der Verfassung vom vergangenen März wurde mit 98,5 Prozent gutgeheißen. Die Bewegung boykottierte diesen Wahlgang und denunzierte Wahlfälschungen. Im Gegenzug organisierten die Machthaber Gegendemonstrationen mit Anhängern des Königs, die dessen Porträt mit sich trugen. Bezahlte Handlanger des Königs griffen Anhänger der B20F an und terrorisierten sie. Die Demonstrationen gehen trotzdem weiter. Am 25. November fanden die Parlamentswahlen statt, die von der B20F und der vereinten sozialistischen Partei boykottiert wurden. Die Beteiligung betrug nur 24 Prozent: eine Ohrfeige für den Staat und die etablierten Parteien2. Wahlgewinner mit 20 Prozent der Stimmen war die Partei Justiz und Entwicklung (PJD), eine islamistische, liberale und dem Makhzen hörige Partei, die von Abdelillah Benkirane geführt wird. Sie hatte lange Zeit Schwierigkeiten eine Regierung zu bilden. Währenddessen führt der Palast das Zepter. Mohammed VI. bestimmt seine Ratgeber, unter anderen seinen Freund El Himma, der bei den Demonstranten äußerst unpopulär ist. Die eigentliche Macht hat immer noch der königliche Palast.
Die B20F gibt nicht auf
Die Bewegung ist der Ansicht, dass sich, mit oder ohne PJD, nichts ändern wird. Der Regierungschef ist ein einfacher Handlanger des Königs. Wird er es schaffen, die B20F aufzulösen, die Repression gegen Engagierte fortzuführen und die Revolten über das ganze Land totzuschweigen? Trotz Repression und Verhaftungen gibt die B20F nicht auf und verlangt die Freilassung der Gefangenen, eine Untersuchung über die neun Toten der Bewegung, das Demonstrationsrecht, den Zugang zu den öffentlichen Medien, die Veröffentlichung der Dossier über Korruption. Priorität ist heute, die Bewegung zu erweitern, der Bevölkerung, die noch nicht reagiert, die Situation bewusst zu machen und die Menschen zu informieren. Bürokratien und Gewerkschaftsmafia, die die Kämpfe blockieren und die Arbeiter und Bauern spalten, müssen aufgerüttelt werden! Das Berufungsgericht von Safi veröffentlichte sein Urteil am 19. Januar 2012. Während des Prozesses fand vor dem Gericht eine Demonstration statt, die die sofortige Freilassung der vierzehn Verhafteten forderte. Das Urteil ist streng: Gefängnisstrafen von vier Monaten bis zu vier Jahren. Dieser Urteilsspruch fand in einer Situation statt, in der die Machthaber sich in einer Sackgasse befinden, unfähig Lösungen zu finden und auf die Forderungen der Jungen der B20F zu antworten. Am gleichen Tag, an dem der neue Regierungschef in Rabat sein Programm vorstellte, gaben die diplomierten Arbeitslosen ihrem Zorn vor dem Parlamentsgebäude Ausdruck: Am Vortag verbrannten sich fünf Arbeitslose, nachdem die Ordnungskräfte gewaltsam einer Besetzung des nationalen Zentrums für Erziehung ein Ende machten, das der ANDCM seit Anfang des Jahres in Beschlag genommen hatte, um sich für Arbeitsplätze einzusetzen. Die diplomierten Arbeitslosen beschlossen eine Mobilisierung im ganzen Lande, um Antworten von den Verantwortlichen und der neuen Regierung zu fordern. Die Befreiung des Rappers Muad El Haked nach einem Marathonprozess wird von der B20F als ein erster Sieg erachtet und ist für die Machthaber ein Misserfolg. Die Verurteilungen der Jungen aus Safi - einige von ihnen sind minderjährig - darf nicht in Vergessenheit geraten. Und es sind nicht die einzigen heute in Marokko. Es gibt andere in Buarfa, in der Minenstadt Khuribga... Das wirkliche Marokko, weit weg von den Fernsehkameras und Medien lebt in einer Situation des Aufstands. Die Jungen aus den Städten und den benachteiligten Wohnvierteln befinden sich in einer permanenten Revolte.
Internationale Solidarität
Es ist dringend notwendig sowohl die internationale Unterstützung als auch die Verbindungen der verschiedenen Bewegungen in der Region zu verstärken. Der Bankrott des weltweiten Systems der Beherrschung und der Privatisierung der Welt vereint uns, im Süden als auch im Norden: In einem vereinten Schrei der Revolte und mit dem Willen, unsere Zukunft selbst in die Hand zu nehmen.
1.Maschrek: Ein ungenauer Begriff, der i.a. die Länder im Osten Lybiens und im Norden Saudiarabiens umfasst (Ägypten, Palästina, Israel, Jordanien, Libanon, Syrien )
- Die offizielle Wahlbeteiligung betrug 45 Prozent