Wir sind nach Marokko in die Hauptstadt Rabat gereist, um erneut unsere Freundinnen und Freunde von der «Association des Communautés Migrantes au Maroc» (Arcom) zu besuchen. Dies ist immer eine gute Gelegenheit, sich über die Entwicklung der Migrationssituation zu informieren – Migration in und aus verschiedenen Richtungen.
Marokko ist ein Transitland, eine Zwischenstation auf dem Weg zum europäischen Traum, aber auch ein Auswanderungsland. Die Süd-Nord-Migration wird daher zu einer komplexeren Süd-Süd-Nord-Migration. Dies hindert das Land jedoch nicht daran, für die Europäische Union die Rolle des «Wachhundes» zu spielen. Viele Leserinnen und Leser von Archipel haben bereits von der «Association des Communautés Migrantes au Maroc» (Arcom) gehört und die Zufluchtsorte unterstützt, die dieser Verein schwarzafrikanischen Frauen und ihren Kindern bietet, die nach ihrer meist extrem beschwerlichen Flucht oder Reise in Marokko gestrandet sind.
Heute betreibt Arcom drei Zufluchtsorte in mehreren angemieteten Wohnungen in Rabat, die als «Raststätten für subsaharische Frauen» bezeichnet werden: Eines wird von der IOM (Internationale Organisation für Migration) finanziert, die beiden anderen vom Europäischen Bürger:innenforum. Wir konnten diese beiden Orte in letzter Minute retten, nachdem die Finanzierung von «Médecins du Monde» ausgelaufen war. Die drei Raststätten beherbergen insgesamt mindestens 20 Frauen und ihre kleinen Kinder. Jede Frau hat die Möglichkeit, drei Monate dort zu bleiben. Den Frauen diese Möglichkeit zu bieten, bedeutet, ihnen eine – leider immer noch zu kurze – Zeit zu gewähren, um sich sowohl von ihrer anstrengenden Flucht oder Reise zu erholen als auch von einem Leben auf der Strasse sowie sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen, oft verbunden mit sexuellem Missbrauch. Hochschwangere Frauen, die in ihrer Zeit bei Arcom entbinden, können fünf Monate bleiben, wenn sie es wünschen. Nicht alle Frauen haben das Ziel, nach Europa zu gelangen. Für diejenigen, die sich in Marokko niederlassen möchten, bietet der Aufenthalt in einem der Zufluchtsorte die Gelegenheit, sich über eine mögliche soziale und berufliche Integration zu informieren. Diese gestaltet sich aber derzeit immer schwieriger.
Die Raststätten von Arcom beherbergen heute vorwiegend Frauen aus der Elfenbeinküste. Menschenhändlerringe bieten ihnen eine angeblich «angemessen» bezahlte Arbeit an. Der Vertrag: Arbeit gegen Erstattung der Reisekosten, natürlich mit einem gewissen Prozentsatz für die «Vermittler». Bei ihrer Ankunft in Marokko wird ihnen der Pass abgenommen, um ihnen ihre Bewegungsfreiheit zu nehmen. Dann werden sie als Hausangestellte an Familien weitergegeben oder auf grosse Gemüsefarmen gebracht, wie sie in Dakhla im Süden Marokkos existieren. Die meisten dieser Frauen müssen unter sklavenähnlichen Bedingungen leben und werden extrem ausgebeutet. Es gibt Berichte, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Wenn sich beispielsweise Frauen auflehnen, weil sie es nicht mehr aushalten, 20 Stunden am Tag zu arbeiten, werden sie auf die Strasse gesetzt und bekommen ihren Pass nicht ohne eine Bezahlung zurück. Darum müssen sie sich oft prostituieren oder eine andere erzwungene Arbeit verrichten, um genügend Geld zusammen zu bekommen. Dieses Vorgehen ist als Menschenhandel zu bezeichnen – eine Tatsache, die normalerweise vom UNHCR (UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge) für den Status von Schutzsuchenden berücksichtigt werden müsste. Das UNHCR ist in Marokko prinzipiell für Asyl zuständig, aber offensichtlich fallen diese Frauen in den Augen der UNHCR-Beamt·innen nicht unter diese Schutzkategorie. Ich habe jedenfalls keine Frauen in dieser Situation getroffen, die irgendeinen Schutz geniessen würden. Sie werden stattdessen allen möglichen «Raubtieren» zum Frass vorgeworfen. Viele von ihnen sind schlussendlich gezwungen, das Mittelmeer zu überqueren, weil sie in Marokko keine Sicherheit finden und gleichzeitig eine Rückkehr in ihre Heimat nicht mehr in Betracht kommt, weil sie bereits einen Teil des Weges in Richtung Norden unter grossen Qualen zurückgelegt haben.
Marokko, ein Auswanderungsland
Von den 32 Millionen Marokkaner·innen leben heute 10 Prozent im Ausland. Diese Auswanderung ist auf das Bevölkerungswachstum zurückzuführen, das sich in den letzten 20 Jahren zwar deutlich verlangsamt hat, aber mit +1 Prozent pro Jahr immer noch hoch ist. Die Europäische Union ist für Marokko, vor allem via Spanien, ein wichtiges Einwanderungsziel. Die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla in Marokko sowie die Kanarischen Inseln, die zu Spanien gehören, aber nur etwa 100 Kilometer von der marokkanischen Atlantikküste entfernt sind, und die enge Strasse von Gibraltar (15 km) zeigen einerseits die geografische Nähe als auch die Rolle der kolonialen Geschichte zwischen den beiden Ländern auf. 85 Prozent der im Ausland lebenden Marokkaner·innen leben heute in Europa (die Zahlen variieren je nach Quelle): 1,2 Millionen in Frankreich, 550.000 in Spanien, 380.000 in Italien, 280.000 in den Niederlanden und 130.000 in Deutschland. Weit dahinter, mit 9 Prozent, folgen die Länder des Persischen Golfs, deren hoher Bedarf an Arbeitskräften Menschen aus der gesamten arabischen Welt anzieht, und mit 6 Prozent der amerikanische Kontinent.
Die Auswirkungen der Emigration auf die marokkanische Wirtschaft sind als positiv zu bezeichnen, auch wenn nicht alle Faktoren eindeutig sind. Die Geldbeträge, welche die Arbeitsmigrant·innen in ihre Heimat transferieren und die oft mehr als ein Viertel ihres Einkommens ausmachen, entsprechen insgesamt 10 Prozent des marokkanischen BIP und mehr als 44 Prozent der Exporte des Landes. Dieses Geld (ca. 5 Milliarden Euro pro Jahr) wird überwiegend in Marokko konsumiert und investiert. Die Auswanderung entlastet auch die Wirtschaft, die noch stark von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung betroffen ist (9 Prozent, aber mehr als 20 Prozent bei Jugendlichen im Alter von 15 bis 24 Jahren). Allerdings wandert auch zunehmend qualifiziertes «Humankapital» ab, heute fast 16 Prozent, was angesichts des Organisations- und/oder Modernisierungsbedarfs in vielen öffentlichen und wirtschaftlichen Sektoren sehr bedauerlich ist. Die Rif-Region im Norden des Landes stellt fast ein Drittel aller Emigrant·innen. Schätzungsweise 40 Prozent der Rif-Bevölkerung haben das Land in Richtung Europa verlassen. Das ist sehr viel.
In den letzten Jahren haben die verstärkten Grenzkontrollen entlang des Schengen-Raums, die militarisierte Schliessung der spanischen Enklaven Ceuta et Melilla, die Zunahme der Seepatrouillen und die Einrichtung der Europäischem Grenzschutzagentur Frontex (2004) alle Menschen, die nach Europa reisen wollten, ernsthaft behindert, aber nicht davon abgehalten, es doch zu tun. Die Politik der immer grösseren Externalisierung der Grenzen hat sich angesichts der steigenden Zahl der Ankünfte sowohl in Italien als auch in Griechenland sowie in Spanien bisher nicht bewährt. Stattdessen hat diese Abschottungsstrategie die Gefahren für die Migrant·innen und den Menschenhandel nur noch verstärkt.
Jugendliche in der Ausweglosigkeit
Es wird wenig über die Auswanderung junger Marokkaner·innen gesprochen, die vor einem schwierigen sozialen Umfeld fliehen. Seit Anfang des Jahres sind 160 junge Marokkaner in Ceuta angekommen, viele von ihnen schwimmend. Die schlechten wirtschaftlichen Aussichten haben sie schliesslich dazu gebracht, das «Riski», wie sie es nennen, zu probieren, um in Richtung Norden aufzubrechen. Das bedeutet, dass sie versuchen, in einem Lastwagen versteckt oder gar auf einem brüchigen Boot zusammengepackt, über die sehr gefährliche Meerenge von Gibraltar nach Europa zu gelangen. Immer wieder sterben Menschen unterwegs. Diejenigen, welche die Überfahrt schaffen und in Spanien angekommen sind, lassen sich bisweilen dort nieder. Die jungen Ankömmlinge bleiben aber meistens in Bewegung und reisen nach Frankreich, Belgien, in die Niederlande und nach Deutschland. Je nach den örtlichen Gesetzen und deren Lücken sowie den Verbindungen, die sie knüpfen können oder auch nicht, ziehen sie weiter. Ihre Bewegungen lassen sich daher nur schwer nachverfolgen. Manchmal sind diese Migranten sehr jung (10 Jahre), haben keine familiären Bindungen in Europa, sind polytoxikoman, obdachlos und äusserst gewaltbereit. Diebstähle, Überfälle, Einbrüche und der Handel mit allen möglichen Substanzen sorgen dafür, dass sie nicht verhungern und sich ein paar Kleider und Schuhe modischer Marken als Statussymbol leisten können. Die «Selfies», auf denen sie sich abbilden, werden dann in den sozialen Netzwerken verbreitet, um ihren ehemaligen Kameraden in der Heimat zu beweisen, dass sie nicht «auf dem falschen Weg» sind. Sie berichten nicht über das Leben auf der Strasse – die Gewalt, das Elend und das immer stärkere Abdriften in die Ausweglosigkeit. Ihre Lage ist schrecklich, und nur wenigen Organisationen oder Strassensozialarbeitern gelingt es, die Jugendlichen anzusprechen und ihnen zu helfen, andere Wege zu finden.
Widersprüche und Unterstützung
Heute häufen sich paradoxe Situationen, die mit dem Elend, der Deklassierung und der Gewalt verbunden sind, die all diese Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben erleiden. Es wird immer schwieriger, in diesen, sehr widersprüchlichen Kontexten zu handeln. Uns wurde wiederholt vorgeworfen, dass wir schwarzen Migrant·innen helfen, während in Marokko das Elend der Einheimischen durchaus zu spüren ist, auch wenn das «königliche» Rabat versucht, uns Besucherinnen mit glitzernder Pracht darüber hinwegzutäuschen. Die Kluft zwischen Arm und Reich, die es zwar in allen Ländern der Welt gibt, ist hier besonders gross.
Es gefällt uns nicht, wenn versucht wird, die verschiedenen Arten von Armut gegeneinander auszuspielen. Wir können nicht an allen Fronten sein, und die Frage der Migration bleibt vorerst unsere Priorität. Menschen die aus welchen Gründen auch immer freiwillig oder unfreiwillig entwurzelt wurden, brauchen auf jeden Fall Unterstützung. Solange nicht alle Menschen, sich frei bewegen und leben können, egal woher sie kommen und wer sie sind, werden wir uns für sie einsetzen.
Natürlich werden wir weiterhin die Zufluchtsorte der Arcom für subsaharische Migrantinnen unterstützen, die mehr denn je benötigt werden und angesichts der Nachfrage nicht ausreichen. Inzwischen hat die Arcom durch ihre konsequente Arbeit eine andere marokkanische Organisation mit Namen «Maroc Solidarité Médico-Sociale» kennengelernt, die in Oujda im Nordosten Marokkos entstanden ist. Ein Bündnis mit dieser Initiative könnte Chancen für noch vielfältigere soziale und solidarische Engagements eröffnen. Wir sollten aber realistisch bleiben, denn die erste Priorität ist nach wie vor, die bestehenden Schutzorte der Arcom zu erhalten, was noch nicht definitiv gelungen ist. Wir suchen weiterhin Unterstützung und sind gerne bereit, an Veranstaltungen oder anderen Gelegenheiten über die wertvolle Arbeit der Arcom zu berichten
Marie Pascale Rouff