MAROKKO : Politik der Zahlen

von EBF, 10.02.2020, Veröffentlicht in Archipel 289

In Marokko wurden im letzten Jahr 27'000 Migrant·inn·en verhaftet und ein grosser Teil von ihnen in den Süden des Landes abgeschoben, diese Zahl wird stolz von der «Generaldirektion für nationale Sicherheit» (DGSN) angegeben. Die Nachricht wird dann an die EU weitergeben, welche die Externalisierung der europäischen Grenzen finanziert. Zur Erinnerung: Im Jahr 2013 eröffnete König Mohammed VI, nach einem ziemlich vernichtenden Bericht des Nationalen Rates für Menschenrechte, zwei aufeinanderfolgende Perioden von Regularisierungen für Ausländer·in-nen ohne Aufenthaltsstatus, die auf marokkanischem Boden leben und arbeiten wollten. Rund 50'000 Menschen haben damals davon profitiert, darunter viele Europä-er·innen, die sich in Marokko niedergelassen hatten, jedoch aus verschiedenen Gründen oft in die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla reisen mussten und bei ihrer Rückkehr nach Marokko jeweils eine neue Einreisegenehmigung benötigten. Dennoch konnten auch viele Geflüchtete und Migrant·inn·en aus den Subsahara-Staaten diese Chance nutzen, um einen legalen Status zu bekommen, der ihnen ermöglichte, ein längerfristiges Leben auf marokkanischem Territorium ins Auge zu fassen. Viele Frauen haben in dieser Zeit ihre Kinder offiziell in marokkanischen Schulen eingeschrieben – ein erster Schritt zu einer sozialen Durchmischung, die bis dato kaum vorhanden war. Im gleichen Zeitraum führten die Ereignisse im Rif 1 und die darauf folgende Unterdrückung der Hirak-Protestbewegung dazu, dass Tausende von jungen Marokkaner·inne·n, darunter viele Jugendliche, versuchten, auf Pateras nach Spanien zu gelangen, um ihren Traum von einem «besseren Leben» zu verwirklichen. Später, im Jahr 2018 zwischen Juni und September, wurden 6'500 Immigrant·inn·en unter unerträglichen, gewalttätigen und demütigenden Bedingungen vom Norden in den Süden Marokkos deportiert.2

Erpresserischer Hebel

Die marokkanischen Behörden jagten in ihrer verhängnisvollen Logik auch die Migrant·inn·en in der Hauptstadt Rabat, genauer gesagt: am Rande des berüchtigten Armenviertels Takadoum, wo Zuhälter und Schlafhändler von denjenigen profitieren, die in ihrer Verzweiflung ein schützendes Dach suchen. Natürlich beinhalten die Zahlen auch die Zerschlagung von mafiösen Netzwerken und die Verhaftung von Menschenhändlern aller Art. Es wird jedoch nie erwähnt, dass es gerade die Politik der Grenzschliessungen ist, die deren Geschäfte erst möglich macht. Es gab sogar Verhaftungen in der Stiftung Orient/Occident (FOO), einem Aufnahmezentrum mit medizinischer Betreuung und verschiedenen Ausbildungskursen für Menschen, die Asyl suchen oder die bereits den Schutz des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) erhalten haben. Die Schutzberechtigten des UNHCR zeigten bei einer Identitätskontrolle durch die Polizei ihre gültigen Papiere (Antragsbescheinigung oder Zertifikat als schutzberechtigte Person) und wurden trotzdem direkt zur Polizeiwache gebracht, wo sie einen halben oder sogar ganzen Tag festgehalten wurden. Die Polizei nahm systematisch Fingerabdrücke und machte Fotos der Betroffenen, so dass die Frage lautet: Zu welchem Zweck werden die Verhaftungen auf diese Weise dokumentiert? Die einzige Erklärung, die wir dafür gefunden haben, ist die folgende: Die Polizei nützt die Konzentrierung von Migrant·inn·en um diesen Ort herum aus, um die offizielle Anzahl der Festnahmen zu erhöhen. Was diese Schikanen aber für die Menschen bedeuten, die jeden Tag unter schwierigsten Umständen überleben müssen, fragt sich niemand. Für Alpha, der sich in Rabat bei Ascom, einer Plattform von Vereinen aus Subsahara-Staaten engagiert, ist Marokko ein anstrengendes Schlachtfeld: Die Machtkonzentration und die verschiedenen Einflüsse und Interessen zwingen die herrschende Elite, die Wirtschafts- und Sozialpolitik einzufrieren. Die Folgen sind: wenig Veränderung, eine kaum vorhandene Mittelschicht, wachsende Armut und eine schwindelerregende Kluft zwischen Arm und Reich. Die Migrationsfrage dient dem Staat als erpresserischer Hebel in den Beziehungen zur EU und zu anderen reichen Ländern, die starke Verbündete in der Region suchen, um die Migration nach Europa einzudämmen. Sich als Migrant·in oder Exilant·in in diesem Land zu engagieren, bedeutet, Energie in mehr als nur das Überleben zu stecken, und dafür braucht es eine grosse Entschlossenheit. Alpha spricht mit mir ausführlich über die Erschöpfung, die sich breit macht. Als Beispiel führt er eine der bekanntesten Aktivistinnen aus Rabat an, die einst u.a. Frauenhäuser eröffnet hatte, dann aber eine Reise nach Spanien nutzte, um in Europa zu bleiben – selbst die überzeugtesten Aktivist·inn·en sind am Ende.

Projekte statt Emigration

Bei meinem letzten Aufenthalt im November 2019 fahre ich in die Hafenstadt Tanger im Norden – geleitet von dem Wunsch, Initiativen zu treffen, die versuchen, jener rassistischen und diskriminierenden Politik die Stirn zu bieten. Unterwegs halte ich in Larache, einer kleinen Stadt am Mittelmeer, wo Boote, zum grossen Teil mit jungen Marokkanern, zur abenteuerlichen Überfahrt nach Europa aufbrechen. Als Reaktion auf die massive Abwanderung wurde in den 2000er-Jahren der Verein Pateras de la Vida ins Leben gerufen. Mohamed, einer der Gründer, erklärt mir, dass es Gewerkschafter waren, die diesen Verein gegründet hatten3. Die aktiven Mitglieder sind hauptsächlich Marokkaner·innen und arbeiten unentgeltlich. Ihre Arbeit besteht darin, über die Gefahren einer solchen Reise über das Mittelmeer zu informieren. Die Sensibilisierung richtet sich vor allem an Kinder und Jugendliche, die potenzielle Kandidaten für die Überfahrt sind. Foued, mein zweiter Gesprächspartner, war einer der Nutzniesser dieses Engagements. Jetzt arbeitet er bei Pateras de la Vida, aber auch für ein anderes Projekt, einer NGO namens Mujeres en Zona de Conflicto, die ein Sozialzentrum in Tanger betreibt mit einem Kindergarten, medizinischer und psychologischer Beratung sowie künstlerischen Aktivitäten. Ich konnte feststellen, dass sich in Tanger eine Menge Aktivitäten entwickelt haben, aufgrund der grossen Ansammlung von hauptsächlich jungen Menschen, die auf eine Überfahrt nach Europa warten, und wegen der zahlreichen Probleme, die sich aus dieser prekären Situation ergeben. Mit Junior, einem Maler aus Kamerun, der beim Watch the Med Alarmphone aktiv ist, besuche ich ein Projekt des Vereins Darna. Der von einer reichen Marokkanerin, Mounira Bouzid El-Alami, gegründete Verein verfügt über mehrere Orte, die einem sehr unterschiedlichen Publikum gewidmet sind. In einem grossen sozialen Zentrum in einem schönen Ryad (Innenhof in der Altstadt) werden junge Leute und Kinder empfangen und können dort verschiedenen Tätigkeiten nachgehen: Förderunterricht, Nähen, Sticken oder mit Holz und Metall arbeiten. Das Projekt ist eine intelligente Antwort auf das Elend, dem wir in den Strassen von Tanger begegnen. Junior und seine Künstlergruppe The Black Painters haben dort ein Malatelier; sie malen hauptsächlich auf Kieselsteinen und verkaufen ihre kleinen, wunderschönen Kunstwerke, um etwas Geld zu verdienen. Ihre Werke werden in sieben Galerien in Tanger ausgestellt. Darna betreibt auch ein Frauenhaus, in dem es eine Näh- und Webwerkstatt sowie ein Restaurant und einen Laden gibt und ein weiteres Gebäude, das als Theater- und Konzertsaal für Künstler·innen dient. Meine Gastgeber·in-nen in Tanger sind Bekannte aus Senegal, ebenfalls Aktivist·in-n·en vom Alarmphone, und ich bekomme die Gelegenheit, ihre Überlebensgeschichten zu hören; wie sie aktiv geworden sind und versuchen, sich eine Zukunft vorzustellen. Einer von ihnen ist inzwischen wieder nach Hause zurückgekehrt und die Anderen fragen sich, ob das nicht auch für sie besser wäre. Die Meisten von ihnen haben schon 20- bis 30-mal den Versuch unternommen, nach Europa aufzubrechen – dies ist unglaublich und zeigt, welche Entschlossenheit vorhanden ist.

Wo sind die Frauen?

Auf der Suche nach Projekten von Frauen bin ich auf mehrere Vereinigungen von Frauen aus Subsahara-Staaten gestossen. Oft ist eine einzige Frau für einen Verein verantwortlich und hat grosse Schwierigkeiten, sich mit anderen zu vernetzen, einfach weil das Überleben zu schwierig ist und die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Vereinigungen sehr gross; alle möchten die wenigen Krümel an Subventionen bekommen, die an Projekte im Zusammenhang mit Subsahara-Staaten ausgegeben werden. Es gibt einige wenige Frauenverbände, wie z.B. die Vereinigung der geflüchteten Frauen und Migrantinnen in Marokko (AFRMM). Diese Frauen betreiben einen kleinen Laden, in dem sie Schmuck, der von einigen von ihnen hergestellt wird, sowie Lebensmittel, Schönheits- und Bekleidungsprodukte aus der Subsahara-Region verkaufen. Der Verein wurde von den marokkanischen Behörden offiziell anerkannt, was relativ selten vorkommt. Die Frauen organisieren hier Ausbildungskurse und Präventionskampagnen für junge Mädchen im ihrem Viertel, die sich prostituieren, um überleben zu können, und finden sich in den winzigen Räumlichkeiten zusammen, um sich auszutauschen und zu organisieren. Es gibt leider viel Misstrauen zwischen den verschiedenen Verbänden; mit der Erleichterung ihrer schwierigen materiellen Verhältnisse könnte die Solidarität untereinander gefördert werden. Viele von diesen Frauen, die ich treffe, haben mutig das Leben abgelehnt, das ihnen in ihrem Land auferlegt wurde (Zwangsheirat, Armut, Unterwerfung). Wir können viel von ihnen lernen, mit ihnen teilen, erfinden und vor allem erleben. Die Kraft dieser Frauen ist enorm. Wie könnten die Orte, die Räume, die Projekte aussehen, die sie bräuchten, um sich von einem allzu beschwerlichen und gefährlichen Alltag zu emanzipieren und um sich genug Freiheit verschaffen zu können, um über eine gemeinsamere und freudigere Lebensform nachzudenken? Diese Frage stelle ich mir und sehe sie als eine immense Herausforderung an, die wir in den kommenden Jahren annehmen sollten.

  1. Massenproteste, die es im Zuge des Arabischen Frühlings auch in Marokko gegeben hatte. Bei diesen ging es um den Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Korruption sowie um die Verteidigung der Rif-Region und der Identität als Berber.
  2. Siehe Artikel «Verschleppt vor den Toren der Festung», Archipel Nr. 277.
  3. Sie können die Webseite von Radio Zinzine (http://www.zinzine.domainepublic.net) besuchen und ein Interview auf Französisch mit Mohamed und Foued über Pateras de la Vida anhören.