MEXIKO: Die indigene Bewegung

von Cédric Bertaud, Radio Zinzine, 14.11.2025, Veröffentlicht in Archipel 352

Als die zapatistische Armee am 1. Januar 1994, nach 70 Jahren Herrschaft der «Partido Revolucionario Institucional», ihren Aufstand in Chiapas begann, rückte die Frage der indigenen Völker in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte in Mexiko. Im Zuge dieses Aufstandes kam es zu Landbesetzungen in Chiapas, aber auch in Oaxaca und Guerrero1, und zwar durch Bewegungen, die nicht zu den Zapatist·innen gehörten.

In dieser Zeit verstärkte sich die Dynamik der Kämpfe der Indigenen, deren Höhepunkt möglicherweise die Gründung des «Nationalen Indigenen Kongresses» (CNI) im Jahr 1996 war, einer Plattform, welche die Kämpfe der Indigenen auf dem gesamten mexikanischen Staatsgebiet koordinieren soll. Diese Bewegung setzt die historischen Kämpfe der indigenen Bäuerinnen und Bauern fort, von denen einige bis zur mexikanischen Revolution von 1910 zurückreichen, und erneuert sie gleichzeitig. Doch auch deren Unterdrückung geht weiter2, ebenso wie die Militarisierung der Gesellschaft.

Zwischen 2006 und 2010

Im Jahr 2006 verstärkten die Bewegung gegen den Bau eines Flughafens mit der Verteidigung des Gemeindelandes in Atenco sowie die «Kommune von Oaxaca» – trotz brutaler Repression – die Kämpfe um kollektives Land und die Dynamik der Wiederaneignung der indigenen Kultur und ihrer Rechte. Ab 2006 eskalierte die bewaffnete Gewalt in Mexiko unter der Ägide von Präsident Felipe Calderón (katholische Rechte), als er den «Krieg gegen den Drogenhandel» ausrief. Es kam zu einem explosionsartigen Anstieg von Toten, Verschwundenen und Massakern. Diese richteten sich nach wie vor hauptsächlich gegen die am stärksten benachteiligten und marginalisierten Bevölkerungsschichten, d. h. gegen die Indigenen, aber auch gegen die nicht-indigenen Armen oder die Migrant·innen aus Mittel- und Südamerika, die versuchten, über Mexiko in die USA zu gelangen3. Ich zitiere aus dem Sammelband «Mexique, une terre de disparus» (Mexiko, ein Land der Verschwundenen): «Seit 2006 hat sich die Zahl der Militärangehörigen verdoppelt, insbesondere dank der Unterstützung durch nordamerikanische Militärberater und der Bereitstellung hochentwickelter Ausrüstung durch das Weisse Haus (Bell UH-1H-Hubschrauber, Detektionsgeräte, Drohnen, elektronische Geräte), der Ausbildung der mexikanischen Gendarmerie durch die französische Gendarmerie, dem legalen Kauf von Waffen, beispielsweise in Deutschland, die dann illegal in den gefährlichsten Gebieten zirkulieren, wie es bei den M36 von Heckler & Koch der Fall war, die in Guerrero und Michoacán gefunden wurden. Die Armee bewirkt auch eine qualitative Veränderung der militärischen Intervention durch die Militarisierung der Gesellschaft und die Ausweitung der militärischen Befugnisse im zivilen Bereich, insbesondere um Durchsuchungen ohne Haftbefehl durchzuführen.»4 Trotz oder gerade wegen dieser direkten Konfrontation mit dem Staat und seinen mehr oder weniger legalen Hilfstruppen an vielen Orten in Mexiko bleiben die Kämpfe zur Verteidigung des Gemeindelandes stark, und in dieser Zeit entstehen sogar überraschende Initiativen, wie die Schaffung oder vielmehr die Stärkung der Gemeindepolizei, die erstmals in den 1990er Jahren entstanden ist.

Die 2010er Jahre

sind sowohl von der Rückkehr der PRI an die Macht als auch von einer verstärkten liberalen Offensive mit verschiedenen Privatisierungsreformen und gross angelegten Infrastrukturinitiativen wie dem «Projecto Integral Morelos» (PIM)5 geprägt. In der sechsjährigen Amtszeit der PRI unter Präsident Peña Nieto wird auch der sogenannte «Krieg gegen den Drogenhandel» wieder aufgenommen und damit die anhaltende oder sogar zunehmende Repression gegen die indigene Bevölkerung an verschiedenen Orten, der von den Indigenen hartnäckiger Widerstand entgegengesetzt wird. Dieser Widerstand hat manchmal einen hohen Preis, wie das Verschwinden der 43 Student·innen aus der ländlichen Lehrerbildungsanstalt von Ayotzinapa am 26. September 2014 zeigt.

Im Jahr 2018 erschütterten zwei wichtige Ereignisse die Dynamik des Widerstands und der Rebellion der indigenen Bevölkerung. Zunächst einmal hatte der Versuch, eine unabhängige indigene Kandidatin für die Präsidentschaftswahlen aufzustellen, gemischte Auswirkungen. Der CNI hatte auf Initiative der Zapatist·innen nach heftigen internen Diskussionen und Debatten die Idee, María de Jesús Patricio Martínez, genannt Marichuy, als Präsidentschaftskandidatin aufzustellen. Diese Kandidatur war sowohl als Provokation gegenüber der herrschenden Klasse gedacht – denn es war klar, dass der CNI die Machtübernahme ablehnte – als auch als Gelegenheit, eine Vielzahl von Initiativen, Gruppen, Kollektiven und Vereinigungen im Rahmen der Unterschriftensammlung zusammenzubringen.6 Und obwohl diese Kandidatur eine grosse Energie freisetzte und zur Gründung von Kollektiven führte, von denen einige bis heute bestehen und in ihren Kämpfen sehr einfallsreich sind, hat dieser Aufruf des CNI bereits zuvor bestehende Meinungsverschiedenheiten wiederbelebt. Einige Gruppen oder Gemeinschaften, die sich vehement gegen den Wahlkampf aussprachen, beteiligten sich nicht an der Unterschriftensammlung und reduzierten sogar ihr Engagement innerhalb des CNI. Andere konnten sich mit dieser Initiative identifizieren und setzten sich voll und ganz dafür ein, weil sie an diesen Wahlkampf glaubten. Die Idee dieser Kandidatur als Trotzreaktion hatte nicht das erhoffte Ausmass. Und in diesem Zusammenhang kommt die zweite wichtige Tatsache ins Spiel: die Machtübernahme von Andrés Manuel López Obrador (AMLO), dem ersten sogenannten «linken» Präsidenten Mexikos. Getragen von einer Welle der Begeisterung in der Bevölkerung führte er einige Reformen durch, die tatsächlich Anklang fanden: Erhöhung des Mindestlohns, Verdopplung der Renten, Erhöhung oder Schaffung von Stipendien oder Schulgeldbeihilfen usw. Aber diese wenigen sozialen Krümel zerschellen an der grossen Idee von AMLO: der «4T», der vierten Transformation, die ein Entwicklungsprogramm mit Megaprojekten zur tiefgreifenden Umgestaltung des Landes sein soll[7].

Während AMLO bestimmte Projekte wie das PIM fortsetzte, initiierte er gleichzeitig das Projekt der Maya-Bahn («Tren Maya») und begann, die alten Ideen eines transozeanischen Korridors in der Landenge von Tehuantepec zu modernisieren und zu verwirklichen[8]. Die Landenge von Tehuantepec wurde bereits durch die seit den 1990er Jahren errichteten riesigen Windparks entstellt. Die Regierung spricht von «Wohlfahrtsprojekten». AMLO bedient sich einer Rhetorik und einer Machtausübung, die als Populismus bezeichnet werden kann, sei es bei seiner täglichen morgendlichen Pressekonferenz oder bei der Durchführung von Pseudokonsultationen der Bevölkerung zu diesen Projekten, die alle das Gemeindeland zerstören. Und in dieser bereits stark militarisierten Gesellschaft ist AMLO nichts Besseres eingefallen, als den Bau und die Verwaltung der Maya- und Transozeanischen Eisenbahn entweder der Armee oder der Marine anzuvertrauen und ihnen damit eine finanzielle Einnahmequelle zu sichern.

Zudem wurde eine Strategie der Spaltung und Kooptierung der indigenen Widerstandsbewegungen umgesetzt, mit dem Ziel, die indigenen Gemeinschaften zu schwächen. Und wenn diese Strategie nicht ausreicht, wird sie durch Gewalt unterstützt, wie die Ermordung des bäuerlichen Aktivisten Samir Flores Soberanes in Amilcingo (Morelos) am 20. Februar 2019 gezeigt hat. AMLO hatte sich während des Wahlkampfs 2017 gegen das Wärmekraftwerk ausgesprochen, bevor er, nach seiner Wahl, die Meinung änderte. Er ist einer der geistigen Urheber dieses Mordes, weil er Samir Florès während einer seiner täglichen Pressekonferenzen angegriffen hatte und zudem noch sein Andenken beschmutzte. Der Tod von Samir Florès hat die Widerstandsdynamik der Gemeinde gebrochen, die eigentlich eine schöne Geschichte und Tradition des Kampfes hat, die bis in die Zeit Zapatas zurückreicht. Die Kooptierung indigener Führer·innen hat leider teilweise funktioniert, wie die Unterstützung der 4T durch Ignacio Del Valle, den historischen Führer von Atenco, beweist. Die Kooptierungserfolge, die mit internen Meinungsverschiedenheiten innerhalb des CNI zusammenhängen, haben diese wichtige indigene Vereinigung erheblich geschwächt und damit auch die indigenen Kämpfe im ganzen Land.

Die zapatistische Bewegung

Eine Dynamik, die von den Indigenen, in diesem Fall von den Maya, ausging, entwickelte sich jedoch während des gesamten hier beschriebenen Zeitraums weiter und erneuerte sich: Es handelt sich um den Kampf der zapatistischen Bewegung in Chiapas. Trotz allen Verrates (z. B. der Weigerung der Regierung, die Friedensabkommen umzusetzen), trotz der Angriffe oder Verleumdungen und des medienpolitischen Trends, sich von ihr abzuwenden, teilweise aufgrund ihrer Weigerung, an der Machtübernahme teilhaben zu wollen, bleibt die zapatistische Bewegung nach mehr als vierzig Jahren ihres Bestehens und mehr als dreissig Jahren öffentlicher Präsenz von erstaunlicher Kraft und Frische.

Seit mehr als zwanzig Jahren bauen die Zapatist·innen ihre Autonomie auf, entwickeln Bildung, Gesundheit und Landwirtschaft und regieren sich selbst auf einer Fläche, die etwa so gross ist wie Belgien. Sie analysieren ständig die Lage ihres Landes, aber auch der Welt9, greifen punktuell in die mexikanische Politik ein10 und ziehen sich dann wieder zurück, um den Weg der Autonomie weiterzugehen. Dann «erobern» sie plötzlich symbolisch Europa mit ihrer «Reise für das Leben» oder organisieren Treffen von Frauen, Künstler·innen oder Wissenschaftler·innen. Die zapatistische Bewegung hat während ihres dreissigjährigen öffentlichen Bestehens einen erstaunlichen Erfindungsreichtum und eine grosse Kreativität an den Tag gelegt.

Und es war keine geringe Überraschung, als bekannt wurde, dass die Zapatist·innen im letzten Jahr alle ihre Selbstverwaltungsstrukturen geändert hatten. Nach einem langen Prozess der Analyse und internen Beratung – man spricht von zehn Jahren – beschloss die Bewegung, die bisherige Struktur der Autonomie abzuschaffen.12 Die Zapatist·innen wollten die bei ihnen entstandene «Pyramide» der Macht abschaffen. So haben sie eine neue, horizontalere Organisation auf der Grundlage einer autonomen lokalen Regierung in den Gemeinden eingerichtet. Sie haben auch eine neue Initiative ins Leben gerufen, die ehrgeizig erscheint, genannt «das Gemeinsame». Durch «das Gemeinsame» laden die Zapatist·innen alle Menschen, also auch Nicht-Zapatist·innen (mit Ausnahme von Mitgliedern des organisierten Verbrechens) ein, sich an der Verwaltung des Territoriums zu beteiligen, um den kommenden «Sturm» zu überleben, der bereits begonnen hat und eine Allegorie sowohl für den Klimawandel als auch für den politischen Verfall darstellt. Diese neuen Initiativen werden im Rahmen verschiedener Treffen vorgestellt, die über ein Jahr, zwischen Dezember 2024 und Januar 2026, verteilt sind. Es ist noch zu früh, um Lehren aus dieser neuen Organisation zu ziehen, da sie erst seit zwei Jahren besteht. Sicher ist jedoch, dass diese Initiative Energie und Denkanstösse liefert – für die indigenen Bewegungen Mexikos und auch für Emanzipationsbewegungen überall auf der Welt. Die Dynamik der zapatistischen Bewegung zeigt sich nicht nur in ihrer Kreativität und Reaktionsfähigkeit, sondern auch in ihrer Struktur selbst. Bei dem Treffen «Las partes de todo» (Die Teile des Ganzen) vom 3. bis 16. August 2025 im Caracol von Morelia, an dem ich teilgenommen habe, konnte ich, neben einer enormen Mobilisierung der zapatistischen Basis für dieses Treffen (man spricht von 3000 Unterstützer·innen), auch eine sehr starke Präsenz von Jugendlichen und Frauen feststellen – ein Zeichen für die Vitalität der Bewegung.

Cédric Bertaud, Radio Zinzine

  1. Chiapas, Oaxaca und Guerrero sind die drei Bundesstaaten im Süden Mexikos mit dem höchsten Anteil an indigener Bevölkerung. Sie werden am stärksten durch den strukturellen Rassismus der mexikanischen Eliten marginalisiert.

  2. Massaker von Aguas Blancas: 17 ermordete Bauern, Guerrero 1995; Massaker von Acteal: 45 getötete Indigene, überwiegend Frauen und Kinder, Chiapas 1997; Massaker von El Charco: 11 ermordete Bauern, Guerrero 1998; um nur die blutigsten und symbolträchtigsten Taten zu erwähnen.

  1. Ein Beispiel: Massaker an Migranten in San Fernando, Tamaulipas 2010, 116 Ermordete

  2. In «Mexique, une terre de disparus, 19 Récits, 2 Enquêtes,1 Portfolio» (Mexiko, ein Land der Verschwundenen, 19 Berichte, 2 Untersuchungen, 1 Portfolio), Sammelband unter der Leitung von Sabrina Melenotte, Stiftung «Maison des sciences de l’homme» und Institut für Forschung und Entwicklung, 2021

  3. Das PIM will die Stromversorgung in der Region Morelos durch zwei thermoelektrische Kraftwerke sowie Gas-, Wasser- und Stromleitungen verbessern, um die Ansiedlung von Fabriken, u.a. von Autofabriken, zu ermöglichen.

  4. Um als unabhängiger Kandidat oder Kandidatin bei den Präsidentschaftswahlen in Mexiko antreten zu können, sind 866.593 Unterschriften oder Unterstützungsbekundungen in 17 Bundesstaaten innerhalb von 120 Tagen erforderlich. Die Einführung eines Systems mit Smartphones der neuesten Generation und eines Dispositivs, das eine gute Internetverbindung verlangt, hat die abgelegensten Gemeinden bei der Unterschriftensammlung stark benachteiligt. So konnten nicht alle Unterschriften rechtzeitig gesammelt werden.

  5. Die drei vorherigen Transformationen: die Unabhängigkeit von 1810; die Reform von 1857 bis 1861, welche die Trennung von Kirche und Staat einführte, und die Revolution von 1910. Diese drei Ereignisse waren gewaltsame Umbrüche, die mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung endeten.

  6. Der Maya-Zug ist ein touristisches Infrastrukturprojekt, das die Halbinsel Yucatán durchquert und zu den bekanntesten Maya-Pyramiden führt. Es wird von Luxushotelkomplexen und anderen Infrastrukturen begleitet. Das Projekt des transozeanischen Korridors stammt aus dem 19. Jahrhundert. Das von AMLO umgesetzte Projekt ist eine Eisenbahnstrecke, die den schmalsten Teil zwischen dem Pazifik und dem Atlantik durchquert, um den Panamakanal zu verdoppeln. Die Bahnstrecken sind fast alle fertig, der Umbau der Häfen von Salina Cruz und Coatzacoalcos für Mega-Containerschiffe steht noch bevor.

  7. So organisierten die Zapatist·innen am 13.3 2022 die wohl einzige Grossdemonstration in Mexiko gegen den Krieg in der Ukraine mit 25 bis 30.000 Teilnehmer·innen in sechs Städten in Chiapas.

  8. Zum Beispiel: die «Andere Kampagne» im Jahr 2006 gegen die Präsidentschaftswahlen

  9. Abgang («Fuera») der Räte der guten Regierung («Junta de Buen Gobierno», JBG) und der MAREZ (autonome rebellische Gemeinden der Zapatist·innen). Die Bewegung stellte verschiedene Missstände fest: einige Fälle von Korruption, eine zu grosse Abhängigkeit, Informationsverluste und schliesslich eine gewisse Hierarchie zwischen den JBG und den MAREZ.