MEXIKO: Vorboten einer neuen Revolution?

von Ana Esther Ceceña*, 08.02.2007, Veröffentlicht in Archipel 145

Vor hundert Jahren wurde die Devise «reelle Wahlen, keine Wiederwahl» zum Auslöser einer Revolte gegen das System der Haciendas, auf denen die Grossgrundbesitzer sklavenartige Verhältnisse aufrechterhielten, sowie gegen das politische System einer Elite, welche die Armee als ihre Privatgarde gegen Volksaufstände einsetzte.

Der damalige Premierminister und Modernisierer Porfirio Diaz liess ein Eisenbahnnetz bauen. Dessen Schienenstränge waren wie «offene Adern», um mit Eduardo Galeano zu sprechen, durch welche die Reichtümer Mexikos flossen, um die unersättliche Industrie Nordamerikas zu füttern. Gleichzeitig blieben die Privilegien der Grossgrundbesitzer sowie die aus der Kolonialzeit ererbten Arbeitsverhältnisse erhalten. Während der Revolution verwandelte sich dann die Eisenbahn allmählich vom Symbol des technischen Fortschritts und der Integration in den Weltmarkt in das Sinnbild des Volksaufstandes gegen die Grossgrundbesitzer und ihre Privilegien. Denn die Revolutionäre und die Adelitas - mutige Frauen, die das Mexiko des 20. Jahrhunderts mitaufgebaut haben – benutzten das Schienennetz und die Eisenbahn in ihrem Kampf für die Veränderung des Landes. Die schwelenden sozialen Widersprüche explodierten zu einem Zeitpunkt, der scheinbar mit den Wahlen zusammenhing: Das Wahlresultat und die Nicht-Wiederwahl von Porfirio Diaz sollten respektiert werden, was aber nicht geschah (Anm. d. Red.). Doch die Forderungen der Revolutionäre gingen weit darüber hinaus: Sie betrafen die Landverteilung, die Arbeitsverhältnisse, die politische Situation, die Pressefreiheit. Diese stellten vollumfänglich den Inhalt und die Formen der gesellschaftlichen Organisation einer Nation in Frage, die dabei war, sich überhaupt erst einmal zu konstituieren. Nachdem sie Porfirio Diaz von der Macht verjagt hatten und nach zahlreichen Kämpfen, traten die Revolutionäre in der Stadt Aguacalientes1 zu einem grossen Konvent zusammen, dem so genannten Souveränen Revolutionären Konvent, an dem sie die Verfassung der Vereinigten Staaten von Mexiko redigierten – einen sozialen Pakt, der aus dem Einvernehmen zwischen Zapatisten, Villisten, Carrancisten, Obregonisten2 und allen anderen beteiligten Kräften entstanden war. Der Konvent schuf eine neue Grundlage für die Wiedergeburt der Nation.

Etwa hundert Jahre später revoltierten sich die mexikanischen Indigenas, die sich auf Emiliano Zapata berufen, gegen die Einrichtung einer Nordamerikanischen Freihandelszone (ALENA) und gegen die damit verbundenen neoliberalen Änderungen der Verfassung, welche die durch Zapata erzwungene

Klausel über den kollektiven Landbesitz annullierte3. Der neue nationale Konvent (CND) wurde fast ein Jahrhundert später im Lakadonischen Urwald in Chiapas abgehalten, zu dem die in der zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN) organisiert indigenen Völker aufgerufen hatten. Der CND beschloss damals, gemeinsam politisch für die Veränderung des Landes durch einen neuen Verfassungsvertrag zu kämpfen, die jedoch bis zum heutigen Tag nicht realisiert wurde. Gleichzeitig verpflichteten sich die Zapatisten, nicht zu den Waffen zu greifen, und an diesem Prozess teilzunehmen. Am 16. September 20064 ergriffen dann diejenigen die Initiative, die noch an eine Demokratisierung des Landes unter den aktuellen institutionellen Bedingungen glauben, um die Vorbereitungsarbeiten zu einem neuen nationalen Konvent zu beginnen. Die erste Resolution besagte, dass man die aktuelle institutionelle Situation nicht anerkenne und einen legitimen Präsidenten ernennen will und zwar einen anderen, als denjenigen, der offiziell anerkannt worden war.

Die soziale Realität zeigt ihr Gesicht Seit dem Jahr 1994 hat der zapatistische Aufstand die Grenzen des politischen Systems Mexikos aufgezeigt und dessen Krise offengelegt. (…) Doch sogar in dem engen Rahmen seiner Repräsentativität hat das politische System mit seiner ständigen Praxis der Verdrängung die Mittel gefunden, um einer sozialen Realität entgegenzutreten, die das System buchstäblich überbordet hat. Diese Realität trat über die Ufer der politischen Konventionen als im Jahr 2001 ein grosser und spektakulärer Marsch alle Kommandanten der EZLN in die Hauptstadt brachte, begleitet von ein paar Tausend Studenten, vielen anderen jungen Menschen, Arbeitern, Intellektuellen und Bauern, um vom Kongress die Verabschiedung des Abkommens von San Andres5 für die Rechte der indigenen Völker zu fordern. Doch das Abkommen wurde einstimmig abgelehnt. Die «Volksvertreter», die schon zu einer eigenen politischen Klasse mutiert sind, zeigten nicht einmal einen Hauch von Verständnis für das Anliegen dieses beachtlichen Teils der Bevölkerung, und die drei Machtpole der Union sprachen sich gegen die Forderungen der Demonstranten aus. Dann ging im Jahr 2006 nochmals eine grosse Welle der Empörung durch das Land, als die Institutionen, die eigentlich geschaffen worden waren, um die Transparenz der Wahlen zu garantieren, und das Zwei- oder Mehrparteiensystem der Versuchung nicht widerstehen konnten, die traditionellen Praktiken der Korruption und der Verteidigung der Privilegien zu wiederholen.

Ein Land mit drei Präsidenten Jetzt im Oktober 2006, nachdem die Wahlinstitutionen eine Tragödie der Demokratie verursacht haben, befindet sich Mexiko in einer nie dagewesenen Situation: Das Land hat drei Präsidenten zur selben Zeit. Der erste, Vincente Fox, ist dabei, sein trauriges und glanzloses Mandat6 zu beenden, das nicht einmal den Erwartungen seiner Wähler gerecht werden konnte. Denn seine Wähler hatten sich eine Öffnung des politischen Systems in Richtung von mehr Pluralismus erhofft, wenn auch nicht von unbedingt mehr Demokratie. Der zweite, Felipe Calderon, wurde von den Wahlinstanzen als der «gewählte» Präsident anerkannt und trat sein Amt am 1. Dezember an. Diese Anerkennung und der Ausgang des sehr umstrittenen Wahlergebnisses, das von vielen Unregelmässigkeiten begleitet war, sind sehr umstritten. Deshalb wird diese Präsidentschaft von einem sehr grossen Teil der Gesellschaft, ungefähr von der Hälfte der Wähler, nicht anerkannt. Der dritte, Andrés Manuel Lopez Obrador, hat die Wahlen - gemäss offizieller Zahlen - mit 0,6 % weniger Stimmen als Calderon verloren, wurde aber als «legitimer Präsident» in der Öffentlichkeit von der Bevölkerung als der wirkliche Sieger gefeiert. Er trat sein Amt am 20. November, dem Gedenktag für die mexikanische Revolution an. Sein Amtsantritt fand also vor dem des Felipe Calderon statt.

Was steht auf dem Spiel? Mexiko ist ein Scharnierland zwischen den USA und Lateinamerika, und dies nicht nur vom geografischen Standpunkt aus gesehen. Es umfasst das Territorium, welches den nordamerikanischen Block abschliesst, und wird heute von den USA als ihr Homeland angesehen, das sie der USNorthCom7 überlassen haben. Der territoriale Block des Nordens Amerikas ist zweifellos die erste Festung von der aus das Land der planetarischen Hegemonie seine Möglichkeiten für den Rest des Kontinents und der Welt plant. Vom materiellen Standpunkt aus betrachtet besitzt dieser Block einen guten Teil der strategischen Ressourcen, um das System als Gesamtes reproduzieren zu können sowie die Vorherrschaft in allen fundamentalen Bereichen behalten zu können. Vom geopolitischen Standpunkt aus gesehen ist der Block fast eine Insel, was ihm zusätzliche defensive Vorteile verschafft, die kein anderer Konkurrent besitzt. Die Grenze auf dem Festland, die sie mit dem Rest der Welt teilt, reduziert sich auf wenige Kilometer inmitten eines Waldes, der mit einem dichten Überwachungssystem vom Meer, vom Land und von Satelliten aus dem All kontrolliert wird.

Zusätzlich zum Freihandelsabkommen (ALENA), das übernationale Normen einführt, welche die Souveränität der inneren Angelegenheiten des Staates limitiert, wurde am 23. März 2005 «die Allianz für die Sicherheit und den Wohlstand von Nordamerika» (ASPAN) gegründet, um «die Region Nordamerikas gegen äussere Bedrohungen zu schützen» , indem «Mechanismen zum Informationsaustausch und zur Kooperation» entwickelt werden sollen, um «durch die Mobilisierung einer mit Hochtechnologie ausgerüsteten Spezialistengruppe an den gemeinsamen Grenzen» dem Terrorismus vorzubeugen und den Personenverkehr in der Zone zu kontrollieren. Wenn die ALENA vorher als ein Musterbeispiel für die anderen Freihandelsverträge des Kontinents gegolten hat, so scheint heute die ASPAN Speerspitze für die Verträge zu sein, welche aus Amerika einen einheitlichen Block mit einer einzigen Aussengrenze, jedoch mit Mauern und verstärkten Kontrollen im Inneren, formen sollen. Die Überwachung des nordamerikanischen Blocks in seiner Gesamtheit ist für die Vereinigten Staaten eine Frage der nationalen Sicherheit. Dies umso mehr, da die politischen Veränderungen in Südamerika die Bedingungen für den Zugang und die Mobilität auf dem Kontinent verändert haben. Die Absprachen, die sich zwischen verschiedenen Regierungen der Region etabliert haben, um den Spielraum gegenüber den Vereinigten Staaten zu erweitern, erlaubten einige autonome Entscheidungen sowie die Zurückweisung gewisser Initiativen, die von Washington8 ausgegangen waren. Dies gilt für die Amerikanische Freihandelszone (ZLEA), die, trotz aller Druckversuche welche heute noch nicht umgesetzt werden konnte. Unter diesen Bedingungen gewinnt Mexiko noch an Bedeutung als Mitglied der «gesicherten» Zone und als trojanisches Pferd, um die Initiativen der USA zu «lateinamerikanisieren»9 sowie um die Strukturreformen fortzusetzen, die bis jetzt von den Völkern der Region verhindert wurden.

Im Fall von Mexiko, wo die Privatisierungen bereits den höchsten Stand ganz Lateinamerikas erreicht haben, bleiben immer noch interessante Ressourcen für ausländische Investoren und deren strategische Projekte. Zu den von Fox angestrebten, aber nicht völlig realisierten Reformen gehören: Die Privatisierungen von Erdöl, Gas und Elektrizität, die einen Teil der Pläne der ASPAN bilden, welche die Integration der Energie für Nordamerika beinhalten. Die Privatisierung des Wassers, dieses Energie- und Lebensspenders, der vor allem im Süden und Südosten von Mexiko in grossem Masse vorkommt. Die Integrierung-Privatisierung des Kommunikationssystems, um sich die totale Kontrolle über Informatik und Medien zu sichern. Die Reformen des Arbeitsmarktes, die ein grosses Angebot flexibler und kontrollierbarer Arbeitskräfte bieten soll. Alle diese Reformen geben den Impuls für ähnliche Reformen auf dem Rest des Kontinents.

Herausforderungen und mögliche Lösungen Nach der offiziellen Anerkennung Calderons als zukünftigen Präsidenten wurden sofort die Stimmen von internationalen Organisationen, Unternehmern und hohen Funktionären aus Mexiko und den USA (und sogar aus der EU) laut, um auf die Beschleunigung der strukturellen Reformen zu drängen, die vorher nicht realisiert werden konnten10. Sie haben bei Fox gelernt, dass es besser ist, sich zu beeilen und machen Druck auf Calderon, der im Grunde die gleichen Ziele wie sie verfolgt, aber in einer ziemlich fragilen Position ist. Man kann annehmen, dass die ersten Massnahmen Calderons auf eine Absegnung der Reformen hinauslaufen. Diese werden die Fundamente der Nation total umkrempeln, wenn sie wirklich umgesetzt werden sollten. Auf der anderen Seite scheint Lopez Obrador auf die Strategie einer Exilregierung zu setzen, welche einst Benito Juarez während der französischen Invasion11 gebraucht hatte. Mit dieser Perspektive müsste er seine Minister nominieren und solange wie möglich die Haltung einer Widerstandsregierung einnehmen. Dies würde zumindest ein Gleichgewicht der Kräfte schaffen, das Calderon daran hindern könnte, das Land gänzlich dem Ausverkauf preiszugeben. Die Kernaufgabe dieser Exilregierung bliebe aber das Anstreben der legitimen Präsidentschaft von Lopez Obrador. Die Probleme, die diese Alternative stellt, sind vielfältig, komplex und auf diese Art noch nie da gewesen.

Einerseits ist die Partei der demokratischen Revolution12 auf beiden Seiten eingebunden, da sie ein Teil des politischen Systems darstellt, welches aber im Moment in Frage gestellt wird. Wenn man die Vorgeschichte der Partei kennt, ist es leider gut möglich, dass sie nicht die Kapazität haben wird, um lange in Rebellion zu bleiben. Andererseits muss der Kampf, der sich auf die Figur von Lopez Obrador konzentriert, die Ausrichtung ändern, wenn er nicht mit der Zeit seine Kraft verlieren will. Zudem muss er für den Aufbau eines breiten Einverständnisses zwischen den verschiedenen politischen Kräften Platz lassen, welche sich auf verschiedene und manchmal auch gegensätzliche Art für den Erhalt des Patrimoniums und der Souveränität des mexikanisches Volkes einsetzen. Das bedeutet: Der Kampf gegen ein politisches System als Ganzes (Institutionen, einschliesslich Budget), der sich nur auf eine auch noch so repräsentative Person konzentriert, erfüllt nicht die Bedingungen, um langfristig durchhalten zu können. Vielmehr müsste dieser Kampf über sich hinauswachsen, und die Rettung der Nation sollte sein wichtigstes Ziel sein. Die heutigen politischen Umstände erfordern es, dass im Zentrum der Aktion die allgemeine Verteidigung der vordringlichen Ziele stehen muss, die aus den verschiedenen Bewegungen zusammenfliessen, wie die Verteidigung der Wahlresultate (ohne Manipulationen wäre Lopez Obrador gewählt worden, Anm. d. Red.), die Ablehnung der Privatisierung von strategischen Ressourcen für «die andere Politik und das andere Mexiko». Mehr punktuelle Forderungen sollten für spezifischere Austragungsorte aufgespart werden. Wenn heute die Verteidigung der Nation wirklich über die Forderung der Respektierung des (unverfälschten) Wahlresultats geht, so darf sie sich jedoch auf keinen Fall darauf beschränken.

Eine dritte Akteurin der politischen Szene, welche die Zukunft Mexikos mitbestimmen wird, ist die zapatistische Bewegung, die sich offen gegen die Strukturreformen ausgesprochen hat. Sie ist gegen die Hinwendung zur USA und gegen die unhaltbare soziale und politische Situation. Vor den Wahlen kritisierten die Zapatisten auch Lopez Obrador und vor allem sein Wirtschaftsprogramm, das nicht weit von der neoliberalen Orthodoxie entfernt ist.

Die mexikanische Gesellschaft befindet sich in einer Grenzsituation; sie ist sehr stark polarisiert, so wie es der knappe Stimmenunterschied zwischen den Präsidentschaftskandidaten gezeigt hat. Diese Polarisierung wird verursacht und verstärkt durch die bisher nie dagewesene Verflechtung mit den USA, durch den Vormarsch der ALENA und der ASPAN, durch das wachsende Gewicht der Kirche und der Unternehmer sowie durch die untolerante und repressive Option des «gewählten» Präsidenten. Die Chance, dass sich die Zapatisten und die Anhänger von Lopez Obrador annähern, ist momentan sehr klein, nicht nur wegen der andauerenden Streitereien, sondern weil die jeweiligen Protagonisten vor allem substantielle Differenzen trennen. Doch angesichts der Präsidentschaft eines Repräsentanten des konservativsten Lagers des Landes sind parallele Wege der beiden Strömungen durchaus denkbar, wenn auch keine Wege, die sich miteinander verschmelzen. Wenigstens in seinen letzten Erklärungen hat sich Lopez Obrador gegen die Privatisierungen und Strukturreformen ausgesprochen. Während der Präsidentschaft von Calderon wird es sicherlich mehr und mehr Ansätze für einen gemeinsamen Kampf von breiten Kreisen der mexikanischen Bevölkerung geben.

Drei Spannungsherde Im Mai 2006, als die Wahlkampagne bereits im Gange war, begingen die Sicherheitskräfte Massenvergewaltigungen während der Repression gegen die Bevölkerung von San Salvador de Atenco, die noch während der Amtszeit von Fox gegen den Bau eines internationalen Flughafens auf ihrem Land protestierte. Diese Verbrechen wurden durch die staatlichen Institutionen gedeckt. Die Menschen, die Opfer der Aggressionen in Atenco wurden, zum grossen Teil Frauen zwischen 17 und 25 Jahren, wurden nach den Vergewaltigungen ins Gefängnis geworfen und ohne medizinische oder psychologische Betreuung festgehalten. Noch heute sind sie im Gefängnis, und gegen die Führer der Bewegung gegen den Flughafenbau stehen Verfahren an. Hier handelte es sich um einen skandalösen Fall der Verletzung von Menschenrechten. Dadurch, dass diese im Endspurt der Präsidentschaftswahlen begangen worden waren, legt den Verdacht nahe, dass diese Art von Vorgehen bald salonfähig werden soll, vor allem wenn der neue und der vorhergehende Präsident aus der selben Partei stammen, so wie es jetzt der Fall ist. Damit würde ein Pegel der Repression erreicht, der jenem entspräche, den die USA auf der ganzen Welt durchsetzen möchten.

Das zweite Signal kommt aus Oaxaca, wo eine Mobilisierung der Lehrer für korporatistische Forderungen auf brutale Weise vom Gouverneur unterdrückt wurde. Daraufhin verwandelte sich diese Mobilisierung in eine Bewegung der ganzen Bevölkerung von Oaxaca, welche den Rücktritt des Gouverneurs forderte. Doch als Gouverneur des PRI hat es Ulises Ruiz bereits geschafft, ein Erpressungsszenario aufzubauen, um seine Absetzung zu verhindern: Im Austausch für das Verbleiben auf seinem Posten tritt er für die Allianz zwischen der Partei der institutionellen Revolution (PRI) und der Partei der Nationalen Aktion (PAN) im Kongress ein. Damit könnten die Strukturreformen schnell durchgesetzt werden.

In der Bewegung der APPO (Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca) sind die Lehrer vertreten, die eine lange Kampferfahrung mitbringen, aber auch die Bauern, die Indigenas und viele andere. Oaxaca ist eine der kämpferischsten Regionen des Landes. (…) Die Bevölkerung von Oaxaca ist gut organisiert, und es handelt sich um eine Bewegung, die nicht einfach einzuschüchtern und zu besiegen ist. Ihre unverhandelbare Hauptforderung ist der Rücktritt des Gouverneurs, der einen Stolperstein für die Allianzen der neuen mexikanischen Regierung darstellt. Die Lösung des Problems von Oaxaca muss Calderon als Erstes nach seinem Amtsantritt angehen. Dabei handelt es sich um einen Testfall für die neue Regierung, der sowohl deren Willensstärke als auch deren Schwäche, mit der sie an die Macht kam, widerspiegeln wird. Die Bundespolizei PFP (Policia Federal Preventiva), welche die Vergewaltigungen und die Repression in Atenco zu verantworten hatte, hat in der Stadt Oaxaca bereits Position bezogen13. Die Beunruhigung in der Bevölkerung ist gross. Der Mangel anLegitimität der neuen Regierung und die Abmachungen mit verschiedenen Kräften könnten die Regierung dazu verleiten, ihren Machtantritt mit Repression gegen die sozialen Bewegungen einzuweihen. Dies wäre ein schlechtes Zeichen für die kommenden Jahre.

Der dritte Spannungsherd betrifft die Integration mit den USA. Wie wir oben bereits gezeigt haben, wird diese Integration von strategischen Bereichen der mexikanischen Wirtschaft bereits in Verhandlungen vorangetrieben. Dies geschieht in den geheimen Versammlungen der ASPAN, an denen Leute wie Pedro Aspe (der ehemalige Finanzminister unter der Regierung von Salinas de Gotari) und verschiedene Berater von Calderon teilnehmen. Alle diese Verhandlungen finden hinter dem Rücken der mexikanischen Gesellschaft statt.

1810, 1910, 2010 Im Jahr 1810 fand der Krieg zur Entkolonalisierung Mexikos statt. 1910 begann die Revolution gegen den Grossgrundbesitz und die damit verbundenen Privilegien. Jetzt, am Vorabend des Jahres 2010, ist die Nation erneut aufgewühlt. René Zavaleta soll die Hypothese vertreten haben, dass Mexiko sich alle hundert Jahre erhebt. Wenn dies geschieht, dann in Form von Revolutionen. Erleben wir momentan die Vorboten einer neuen Revolution?

Ana Esther Ceceña*

  1. Siehe Archipel Nr. 143 und Nr. 144

  2. Von dort kommt der Name, den die Zapatisten den Freiräumen für die Zusammenkunft mit der Zivilgesellschaft gegeben haben.

  3. Jeweils Anhänger von Emiliano Zapata, Pancho Villa, Venustiano Carranza und Alvaro Obragon. (Anm. der Red.)

  4. Diese Veränderungen sind ein Echo auf die Bedingungen der USA zum Eintritt Mexikos in die ALENA: Der Grossgrundbesitz und jedes andere individuelle Eigentum an Land wird unbeschränkt erlaubt; das kollektive Land wie das Gemeindeland (ejidos) wird zum Verkauf freigegeben.

  5. Unabhängigkeitstag von Mexiko

  6. Abkommen zwischen der mexikanischen Regierung und der zapatistischen Befreiungsarmee im Februar 1996 unter Beteiligung breiter Kreise der mexikanischen Bevölkerung.

  7. Felipe Calderon hat offiziell das Amt des Präsidenten am Freitag, den 1. Dezember 2006, angetreten – in der Nachfolge von Vicente Fox.

  8. Kommando der US-Armee, das nach den Attentaten vom 11. September 2001 gebildet wurde, um die innere Sicherheit gegen mögliche terroristische Angriffe von aussen zu schützen.

  9. Dabei sollte man die Anstrengungen – dank seines grossen Potentials an Erdöl - vom Präsidenten Venezuelas, Hugo Chavez, im Rahmen der ALBA hervorheben.

  10. Das Beispiel von Präsident Fox als leidenschaftlicher Vertreter der ZLEA illustriert dies: Ungewöhnlich für die mexikanische, aussenpolitische Tradition legte er sich ständig mit den Regierenden von Kuba und Venezuela an.

  11. Das Forum Mexiko Forbes CEO hat soeben in Mexiko-Stadt stattgefunden, an dem eine ausgewählte Gruppe von mexikanischen Unternehmern und Beamten – alle aus den Bereichen Energie, Luftfahrt und Telekommunikation – mit der amerikanischen Handelskammer, den Repräsentanten der transnationalen Konzerne dieser Sparten und den Mitgliedern der Forbes-Gruppe, die mit der Republikanischen Partei der USA liiert ist, zusammentrafen, um «das neue Mexiko zu entwerfen» , weil endlich «Felipe Calderon der offizielle mexikanische Präsident ist.» In der Präsentation des Forums wird präzisiert, dass die Lösung für Mexiko «in der Lancierung von Strukturreformen» besteht, insbesondere «in den Bereichen der Arbeit, der Steuern und der Energie.» (La Jornada, 22. 09. 2006)

  12. Es ist symptomatisch, dass die Persönlichkeit, die Lopez Obrador am meisten im Wahlkampf erwähnte, Benito Juarez war.

  13. PRD = Partei der demokratischen Revolution, Mitte-Links-Partei von Lopez Obrador (Anm. d. Red.)

*Koordinatorin der Arbeitsgruppe «Hegemonie und Emanzipationen» des lateinamerikanischen Rates der Sozialwissenschaften (CLACSO), Wissenschaftlerin am Institut für Wirtschaftsforschung (IIE) an der Autonomen Universität von Mexiko (UNAM)

Ihr Artikel ist auf den 4. Dezember 2006 datiert

Quelle: Revue de l’Observatorio Social de América Latina (OSAL www.clacso.org.ar/difusion/secciones/osal/)