MIGRATION: Die Türkei - ein "sicheres Drittland"?

von Dirk Tobias Reijne, No Border Kitchen, Lesvos, 08.05.2024, Veröffentlicht in Archipel 336

Wie in vielen Teilen der Welt hat auch in der Türkei das Erstarken offen rassistischer und manchmal faschistischer Gruppen und politischer Parteien Menschen, die mit diesen Ansichten sympathisieren, dazu ermutigt, offener gewalttätig zu werden. Teil 2*.

Ayşegül Karpuz Tör ist eine bekannte Strafverteidigerin und Anwältin in der Region Izmir. Sie erwähnt speziell die Zunahme rassistischer und fremdenfeindlicher Gewalt. Überall in der Türkei, auch in Izmir, werden Häuser und Geschäfte von Migrant·innen angegriffen, und die Anti- Ausländer·innen-Rhetorik nimmt zu, meist gefolgt von rechten oder sogar faschistischen Parteien, die sich auf Anti-Migrations-Stimmungsmache konzentrieren. Ihr Hass und ihre Gewalt lasse Erdogan im Vergleich dazu wie einen Freund der Geflüchteten erscheinen, sagt Omar, der seit Jahren mit Migrant·innen im Stadtteil Basmani arbeitet.

Ayşegül Karpuz Tör vertritt gerade den Fall eines Syrers, der Opfer des derzeit in der Türkei herrschenden Anti-Migrationsklimas geworden ist. Sie möchte ihn uns mitteilen, da er symptomatisch für die aktuelle Stimmung ist. Hier eine Zusammenfassung der Ereignisse: Der 60-jährige Mann wird von 20 bis 25 Personen unter fadenscheinigen, unberechtigten Vorwürfen von Pädophilie im Hof einer Moschee mit Messern und Knüppeln schwer verletzt. Die Polizei kommt hinzu und befreit den syrischen Mann aus der Umzingelung der Gruppe. Wenig später versammeln sich fast 200 Personen und skandieren: «Wir wollen keine Syrer!». Die Polizei untersucht nicht, wer den Mann geschlagen hat, und interessiert sich nicht für Zeugenaussagen. Sie nimmt den alten Mann einfach fest, bringt ihn zuerst ins Krankenhaus und dann auf die Polizeiwache, um seine Aussage aufzunehmen, danach lassen sie ihn wieder frei. Später wird dieses Ereignis in den sozialen Medien geteilt, insbesondere von Mitgliedern der Victory Party (ultranationalistische Partei mit einer migrant·innenenfeindlichen Ausrichtung), mit Hashtags wie «Was ist los in Buca?» (Buca ist der Stadtteil, in dem der Vorfall stattfand.) «Die Polizei hat einen syrischen Pädophilen freigelassen!» Am nächsten Tag erteilt der Staatsanwalt der Polizeistation, auf der dieser syrische Mann festgenommen worden war, den Befehl: «Haltet diesen Mann fest und bringt ihn in die Abschiebehaftanstalt. Schiebt ihn ab, weil er die öffentliche Ordnung gestört hat». Sie konnten ihn aber nicht abschieben, weil dies nicht legal war.

Immer häufiger

Alle Personen, mit denen ich gesprochen habe, sei es in Interviews oder informell, haben bestätigt, dass Ähnliches im ganzen Land, vor allem aber in den Grossstädten, immer häufiger vorkommt. Wenn Sie sich auf Twitter umsehen, werden Sie feststellen, dass viele Accounts solche Geschichten verbreiten, um die Stimmung gegen Migrant·innen zu verstärken. Die grossen Medien, die unter der Kontrolle der Regierung stehen, scheinen ebenfalls dazu beizutragen. Bilen, Spezialistin für politische Kommunikation, Beraterin und Co-Direktorin des Verbands Media and Migration, von dem regelmässig Berichte über die Darstellung von Migrant·innen in den türkischen Medien veröffentlicht werden, veranschaulicht dies: «Zunächst einmal stellt das Fehlen eines Kontextes ein sehr grosses Problem dar. Man sieht in den Medien nur Menschen, die auf die Strasse rennen, die versuchen zu fliehen oder aus ihrer Heimat wegzugehen; man sieht nur das. Es wird nicht über die Gründe gesprochen, welche die Menschen dazu bringen, so zu handeln.»

Die unberechenbare Migrationspolitik der Regierung Erdogan hat eine starke rechtsextreme Bewegung hervorgebracht, die versucht, die Migrant·innen für die wirtschaftlichen Misserfolge des Erdogan-Regimes verantwortlich zu machen, und führt damit die Vorstellung, auf die das gesamte EU-Türkei-Abkommen gestützt war, ad absurdum. Die Türkei ist keinesfalls ein «sicherer Drittstaat», aber das Obengenannte ist nur ein Teil des Grundes.

Die Abschiebegefängnisse

Zu der fremdenfeindlichen Atmosphäre und der Gefahr organisierter Gewalt kommen die Unterdrückung und Gewalt des türkischen Staates hinzu. Verstärkte Überwachung und Kontrollen durch uniformierte Beamte auf der Strasse sind üblich und nehmen zu. Ich persönlich wurde Zeuge, wie eine Frau von uniformierten Beamten auf die Strasse gezerrt, getreten und in einen zivilen Lieferwagen verfrachtet wurde. Und das mitten auf dem Basmani-Platz gegen fünf Uhr nachmittags. Alle Personen, mit denen wir gesprochen haben, bestätigten, dass es sich dabei um eine normale Praxis handelt, insbesondere in Basmani.

Dies wäre an sich schon beunruhigend genug, aber was dann geschieht, ist noch beunruhigender. Die Geschichte der Abschiebezentren in der Türkei ist nicht sehr bekannt, aber Organisationen wie das «Global Detention Project», für das ich tätig war, berichten darüber. Menschen werden in der Regel in diesen Zentren festgehalten, nachdem sie beim Versuch, die Grenze zu überqueren, festgenommen oder festgehalten wurden und auf ihre Abschiebung warten. Im Durchschnitt befinden sich zu jeder Zeit mehr als tausend Personen in diesen Zentren. In der Regel werden die Personen nach Geschlechtern getrennt und Familien dürfen zusammenbleiben. In den Zimmern leben durchschnittlich acht bis zehn Personen. Es herrscht oftmals ein Mangel an Matratzen und es gibt keine Aussenbereiche. Die Dauer der Inhaftierung der Menschen scheint meist willkürlich zu sein und reicht von einigen Tagen bis zu einem Jahr. Manchmal werden Leute freigelassen, weil die Zentren überfüllt sind.

«So ein Zentrum ist schlimmer als ein Gefängnis, nehme ich an. Sie sagen immer, dass es ein Gefängnis ist. Wenn mich jemand anruft, sagen sie immer: Einer meiner Freunde ist im Gefängnis», sie sagen nie «Haftzentrum» oder «Lager», antwortet Esem auf meine Frage nach den Haftbedingungen in den Zentren. Sie ist eine unabhängige Anwältin, die regelmässig mit Mandant·innen im Vorabschiebezentrum in Izmir zu tun hat. Wir haben lange über die Haftbedingungen in dem Zentrum gesprochen, und sie betont, dass die häufigste Beschwerde, die sie erhält, die mangelnde medizinische Versorgung im Zentrum betrifft. Ein typischer Tag von zwei Anwält·innen, die in dem Zentrum arbeiten, wurde aufgrund der überwältigenden Anzahl von Klient·innen, fehlender Übersetzungen und unkooperativem Personal von den Anwält·innen als lang und anstrengend beschrieben:

«Früher war es einfach, durch den Haupteingang in die Räume zu gehen, in denen wir die Gespräche führten. Aber jetzt nehmen sie unsere Handys weg, kontrollieren unsere Taschen und wollen sogar unsere Laptops mitnehmen. Wenn wir hineingehen, unterbrechen sie unsere Kommunikation mit der Aussenwelt. Wir verbringen den ganzen Tag dort, weil es wirklich schwierig ist, jemanden zu Gesicht zu bekommen. Alles dauert lange, der Ort ist überfüllt und es gibt nicht viele Anwält·innen. Im Gegenteil, sie tun alles dafür, dass die Migrant·innen keine rechtliche Unterstützung bekommen. Sie mögen uns Anwält·innen nicht. Deshalb haben sie diese neuen Methoden eingeführt», sagt Esem «Die Bedingungen, unter denen wir arbeiten müssen, erschweren nicht nur den Zugang für den Rechtsbeistand, sondern üben auch Druck auf uns Anwält·innen aus.» Ayşegül Karpuz Tör fügt hinzu: «Ich wurde verklagt, weil ich mich geweigert hatte, mich einer Leibesvisitation zu unterziehen und meine Tasche am Eingang eines Abschiebegefängnisses öffnen zu lassen, und wurde später freigesprochen. Nach türkischem Recht sind für die Durchsuchung eines Rechtsanwalts bzw. einer Rechtsanwältin besondere Genehmigungen erforderlich, wie z. B. die Entscheidung eines Richters. Oder die Person muss zu dem Zeitpunkt erwischt werden, an dem sie ein Verbrechen begeht. Wenn dies nicht der Fall ist, darf ein Anwalt oder eine Anwältin nicht durchsucht werden. Ich habe mich gewehrt, weil ich der Meinung bin, dass Abschiebe- und Haftanstalten keine Gefängnisse sind und Drittstaatsangehörige oder Migrant·innen keine Gefangenen. Ich bin deswegen vor Gericht gegangen und wurde für unschuldig erklärt und freigesprochen.»

Kein Wasser, kein Essen

Als wir mit Esem sprachen, berichtete sie uns, dass die Zentren in letzter Zeit überfüllt waren und die Behörden Hunderte von Menschen dorthin brachten, die dann im Hof ohne Zugang zu Toiletten, Duschen oder Wasser festgehalten wurden. Dies hatte sich in der Woche vor unserem Interview ereignet. Da Anwält·innen, die in der Türkei in diesem Bereich arbeiten, ihre Mandant·innen meist durch Empfehlungen gewinnen, begann sie aus Gründen, die sie nicht verstand, Anrufe von Personen zu erhalten, die sie nicht kannte.

«Eigentlich fing es letzte Woche an, als wir ankamen, um uns mit unseren Kund·innen zu treffen. Es waren Leute im Hof und zuerst dachten wir, dass es sich um eine Aufnahme ins Zentrum handelte, dass sie vielleicht Leute vom Meer oder aus dem Bus mitgebracht hatten und sie aufnahmen. Aber sie blieben den ganzen Tag dort. Dann fingen sie an, uns durch die Fenster des Zentrums um Wasser zu bitten. Wir durften nicht einmal mit ihnen sprechen. Wenn wir mit ihnen sprachen, kamen die Wachen und unterbrachen unser Gespräch. Sie erzählten uns, dass sie schon seit dem Wochenende und drei Tage danach hier waren, dass sie da schliefen, aber keine Decken, kein Essen und kein Wasser hatten. Es waren auch Kinder dabei. Als wir die Wärter über die Situation informierten, erhielten wir keine Erklärung. Am nächsten Tag wiederholte sich das und dauerte die ganze Woche an. Aber es waren plötzlich andere Leute da. Vielleicht hatten sie die Vorherigen ins Haus gebracht, um Platz für Neuankömmlinge zu schaffen. Wir erhielten ständig Anrufe von Menschen, die sich darüber beschwerten, dass sie seit einer Woche nicht geduscht oder gegessen hatten und dass es viele Kinder gab. Sie flehten uns an, etwas zu tun. Ich schrieb ein Dutzend Petitionen an den Leiter des Zentrums, aber ich erhielt nie eine Antwort und die Situation blieb gleich.»

Illegale Abschiebungen

Bald erreichte die Situation ihren Höhepunkt, wie sie weiter erklärte: «Gestern Abend riefen mine Klient·innen wieder an. Sie sagten mir, bitte holt uns hier raus, bitte helft uns. Als ich im Zentrum ankam, standen dort zwölf Busse. Die grossen wie die für die Transfers. Sie brachten die Menschen in andere Städte. Die meisten von ihnen wurden bis zur Ostgrenze deportiert. Das war seltsam, denn nach unserem Gesetz kann man, wenn ein Fall eröffnet wird, in dem es um die Ausweisung einer Person geht und ein Antrag auf Aufhebung der Entscheidung gestellt wird, diese Person nicht ausweisen. Aber dieses Mal haben sie sie abgeschoben, obwohl sie Anwält·innen, Gerichtsakten usw. hatten. Ich habe mittlerweile viele Kolleg·innen in der gleichen Situation, und deshalb verstehen wir nicht, was hier vor sich geht.»

Laut Esem finden diese Abschiebungen aufgrund eines ungeschriebenen Befehls aus Ankara statt. Interessanterweise wurden im selben Zeitraum die Überstellungen von den Ägäis-Inseln auf das griechische Festland aufgrund der Überbelegung der Einrichtungen auf dem Festland vorübergehend eingestellt. Darüber hinaus stieg die Anzahl der Menschen, die beim Versuch, die griechische Grenze zu überqueren, aufgegriffen wurden, in den letzten drei Monaten im Vergleich zum Rest des Jahres erheblich an. Unseren Gesprächen zufolge ist die Situation in den Abschiebegefängnissen schlimmer als erwartet. Und tatsächlich hat sich die Lage seit unseren Gesprächen nur noch weiter verschlechtert. Unter den Tausenden von Menschen, die sich in einer solchen Einrichtung befinden, können solidarische Anwält·innen nur einer begrenzten Anzahl helfen, während der Rest ohne jegliche rechtliche oder sonstige Unterstützung bleibt. Diese Orte werden häufig als Müllhalde für Geflüchtete genutzt, die aufgrund von Anklagen im Zusammenhang mit irregulärer Migration festgenommen werden, auch oftmals während eines einfachen Spaziergangs durch die Stadt.

Dirk Tobias Reijne, No Border Kitchen, Lesvos Fortsetzung im nächsten Archipel

  • Der 1. Teil ist nachlesbar auf forumcivique.org, Archipel Nr. 335, April 2024
  1. Im 1. Teil dieses Artikels beschreibt Ayşegül Karpuz Tör die Dichotomie der türkischen Migrationspolitik.