MIGRATION / LANDWIRTSCHAFT: Rechte ohne Grenzen

von Derechos Sin Fronteras, 10.11.2022, Veröffentlicht in Archipel 319

Anfang Oktober trafen wir uns im Departement Bouches du Rhône in Südfrankreich, um unser halbjährliches Treffen des Europäischen BürgerInnenforums (EBF) abzuhalten. Dieses Mal waren auch Freunde und Freundinnen der SOC-SAT(1) von Almeria, vom Codetras(2), sowie vom Kollektiv «Derechos Sin Fronteras» aus der Region und von Sezonieri(3) aus Österreich eingeladen, um sich kennenzulernen und ihre Erfahrungen auszutauschen.

«Derechos Sin Fronteras» ist ein Kollektiv von fünfzehn Personen, Saisonarbeiter·inne·n und Aktivist·inn·en, die sich miteinander organisieren, um eine wöchentliche Rechtsberatung in Beaucaire anzubieten, einer Kleinstadt im Departement Gard, im Herzen einer landwirtschaftlichen Region, in der die Ausbeutung von Menschen und von Land auf der Tagesordnung steht. Bei dem EBF-Treffen konnten sie die Freund·innen der SOC um Rat bezüglich der Unterstützung von Saisonarbeiter·inne·n in der Landwirtschaft fragen; sie hat seit über zwanzig Jahren Erfahrung in diesem Bereich und die Situation in den Bouches du Rhône ähnelt immer mehr der im Plastikmeer von Andalusien. In diesem Artikel wollen wir Sie mit der jungen Anlauf- und Beratungsstelle in Beaucaire bekanntmachen.

Ab den 2000er Jahren begann die französische Landwirtschaft, insbesondere über spanische Dienstleister und vor allem von April bis September auf entsandte Arbeitnehmer·innen zurückzugreifen.

Der Kontext in Beaucaire

Ein Teil dieser Arbeitskräfte lateinamerikanischer Herkunft liess sich nach und nach in den Departements Languedoc-Roussillon, Vaucluse und Bouches du Rhône nieder, nachdem sie die doppelte spanische Staatsbürgerschaft erhalten hatten, die ihnen die Möglichkeit gab, direkt von französischen Arbeitgebern eingestellt zu werden. Im Departement Gard wurde die Stadt Beaucaire aufgrund ihrer strategischen geografischen Lage für die Beschäftigung in der Landwirtschaft und ihres kostengünstiges Stadtzentrums zur wichtigsten Ankerstadt für Landarbeiter·innen südamerikanischer Herkunft. Hier befindet sich also ein Pool von Arbeitskräften, die für den saisonalen Bedarf von Gemüse-, Gartenbau- und Weinbaubetrieben oder auch für Verpackungsbetriebe für Obst und Gemüse in einem relativ grossen Umkreis zur Verfügung stehen. Obwohl sie mit französischen Arbeitsverträgen eingestellt wurden, durch welche sie auf soziale Rechte in Frankreich Anspruch haben, wurden viele dieser eingebürgerten spanischen Arbeitnehmer·innen in ihren Rechten verletzt, da die Behörden nicht in der Lage oder nicht willens waren, die Neuankömmlinge zu begleiten. Die Sprachbarriere macht es Letzteren nahezu unmöglich, ihre Rechte geltend zu machen, und viele Unternehmen nutzen diese grossen Schwierigkeiten, um die Arbeitnehmer·innen ungestraft auszubeuten. Während die Präsenz der südamerikanischen Gemeinschaft in der Region immer sichtbarer wird, äussert sich mehr und mehr Rassismus in verschiedenen Formen in allen institutionellen und sozialen Bereichen. Insbesondere der rechtsextreme Bürgermeister von Beaucaire hat Massnahmen gegen die lateinamerikanische Gemeinschaft ergriffen wie die verstärkte Überwachung von Sport- und Party-Treffpunkten der ecuadorianischen Gemeinschaft («Canchas») und die Schliessung lateinamerikanischer Einrichtungen, die mit einem «Kampf gegen Unzivilisiertheit» begründet wurde. Ausserdem haben rassistische Äusserungen gegen die lateinamerikanische Gemeinschaft in den lokalen sozialen Netzwerken zugenommen.

Entstehung der Anlaufstelle

In den letzten Jahren haben Begegnungen mit Arbeiter·inne·n in landwirtschaftlichen Betrieben, auf Canchas oder in den Strassen von Beaucaire deutlich gemacht, dass überall in der Region (Bouches du Rhône, Gard, Vaucluse...) ein dringender Bedarf an Zugang zu Informationen und Rechten besteht. Nach langer und vergeblicher Suche wurde einer Vereinigung ecuadorianischer Arbeitnehmer·innen, «Latinos Sin Fronteras» (LSF), im Herbst 2021 endlich ein Raum im Stadtzentrum von Beaucaire von Privatpersonen zur Verfügung gestellt. Der Zugang zu diesem Raum ermöglichte der Organisation, an den Abenden der Woche Französischkurse anzubieten und samstags eine Rechtsberatung einzurichten. Ein Kollektiv von Personen, darunter Landarbeiter·innen, Mitglieder von LSF und Codetras, bildete sich, um das Projekt der Rechtsberatung in spanischer und französischer Sprache voranzutreiben: «Derechos Sin Fronteras» (DSF) war geboren.

Didaktisches Lernen

Das Kollektiv DSF vereint Kompetenzen in den Bereichen Arbeitsrecht, Kranken- und Arbeitsversicherung, sowie Gewerkschaftsrecht. Um das Wissen innerhalb des Kollektivs zu teilen, haben wir Selbst-Lern-Workshops eingerichtet, ausgehend von unseren eigenen Kenntnissen, aber auch durch die Inanspruchnahme externer Kompetenzen, je nach den von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern des Kollektivs geäusserten Bedürfnissen. In Zusammenarbeit mit einer Jurist·inn·envereinigung aus Marseille haben wir mehrere Workshops zum Ausländerrecht organisiert, an denen rund 40 Personen teilnahmen.

Seit April dieses Jahres trifft sich jeden Samstag von 16.30 bis 18.30 Uhr eine unterschiedlich grosse Gruppe von landwirtschaftlichen Arbeitnehmer·inne·n und Unterstützer·inne·n und empfängt, jeweils zu zweit und zweisprachig, Personen, die sich mit den unterschiedlichsten Problemen an die Beratungsstelle wenden, da es ganz klar in Beaucaire und im gesamten Departement keine institutionelle Unterstützung gibt. Die Fragen betreffen hauptsächlich das Arbeitsrecht (Arbeitsunfälle, unbezahlte Arbeitsstunden, Schwarzarbeit, Berufskrankheiten), die sozialen Rechte (Sozialversicherung, Arbeitslosigkeit, Zugang zu Wohnraum), das Ausländerrecht (Familien- und Kindeszusammenführung, Regularisierung), zur Bildung (Schule, Studium) und zu allen Arten von Behördengängen, die aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse fast unmöglich sind (Steuererklärung usw.). Die Arbeitsweise der Anlaufstelle entwickelt sich je nach den Bedürfnissen der Betroffenen. Ein gemeinsamer Dialog am Ende der Sprechstunden ermöglicht einen Austausch über die am selben Tag angetroffenen Situationen und ihre möglichen Lösungen. Auch die ratsuchenden Personen können sich an dieser gemeinsamen Lösungsfindung beteiligen, um später auch anderen helfen zu können. Diese Organisationsform entspricht einem der Hauptziele der Anlaufstelle, nämlich zur Verbreitung von Wissen und zur Ausübung der Rechte der Arbeitnehmer·innen beizutragen.

Die meisten Formalitäten müssen unter der Woche während der Öffnungszeiten der Behörden erledigt werden und erfordern eine gewisse Verfügbarkeit der Mitarbeiter·innen. Die Besonderheit und Einzigartigkeit jeder Migrationsgeschichte und -route (zwischen dem «Herkunftsland», dann Spanien und Frankreich) erfordert oft eine extra Begleitung unter der Woche, insbesondere durch (schriftliche oder mündliche) Gespräche mit den verschiedenen Sozial- und Bildungseinrichtungen, Ärzten, Arbeitgeber·innen usw. Manche Situationen werden an die wenigen freiwilligen Fachkräfte der Anlaufstelle weitergeleitet. Bei einem monatlichen Treffen des gesamten Teams besprechen wir organisatorische und inhaltliche Fragen wie z.B. langfristige Betreuungen. In letzter Zeit hat jedoch die Reaktion auf dringende Bedürfnisse all unsere Zeit in Anspruch genommen.

Was sind unsere Ziele?

Die Bildung eines Kollektivs aus Aktivist·inn·en und Landarbeiter·inne·n entstand aus dem Willen und den Bedürfnissen dieser Personen, sich gemeinsam zu organisieren, um die Arbeits- und Niederlassungsbedingungen in Frankreich zu verbessern und um die Rechte von Landarbeiter·innen in landwirtschaftlichen Betrieben wirksam zu machen. Nach und nach bilden sich eine Gemeinschaft und starke Bindungen heraus, die hoffentlich als Grundlage für zukünftige kollektive Aktionen dienen werden. Das ist zumindest die Wette, die wir eingehen. Langfristig wollen wir zur Entstehung von Gewerkschaftsformen in der Landwirtschaft beitragen, die dem Arbeitsumfeld angepasst sind.

Wir möchten, dass die Anlaufstelle für alle Arbeitnehmer·innen in landwirtschaftlichen Betrieben zugänglich ist, unabhängig von ihrer administrativen Situation. Insbesondere auch für Arbeitnehmer·innen, die auf Betrieben weit entfernt vom Zentrum Beaucaires untergebracht sind und keinen Zugang zu einem Transportmittel haben. Wir planen daher, eine telefonische Hotline einzurichten und regelmässige Treffpunkte auf den Parkplätzen von Supermärkten zu organisieren, zu denen die Arbeitnehmer·innen einmal pro Woche von ihren Vorgesetzten zum Einkaufen gebracht werden. Wir möchten, dass sich die Anlaufstelle auf Rechtsfragen (Arbeit, Aufenthalt) konzentriert und Formen des kollektiven Kampfes unterstützt. Wir möchten uns auch am Aufbau eines europäischen Netzwerks zum Arbeitsrecht beteiligen, das Unterstützungsgruppen, Gewerkschaften und relevante Institutionen (Arbeitsaufsicht, Landarbeiter·innenversicherung usw.) umfasst, insbesondere zwischen Frankreich und Spanien.

Amandine, Janeth, Béa, Alice für Derechos Sin Fronteras

  1. SOC-SAT: Unabhängige Landarbeiter·innengewerkschaft in Andalusien

  2. Codetras: «Collectif de défense des travailleurs/travailleuses étrangers/ères dans l›agriculture» (Kollektiv zur Verteidigung ausländischer Arbeitnehmer·innen in der Landwirtschaft)

  3. Sezioneri: Initiative für die Einhaltung der Rechte von Erntearbeiter·inne·n in Österreich und für faire Arbeitsbedingungen.