Nach zweieinhalb Jahren konnte ich endlich wieder nach Marokko reisen. Wie überall auf der Welt ist die Covid-Pandemie durch das Land gegangen und die Folgen sind spürbar, vor allem für diejenigen Menschen, die sich in prekären Lebenssituationen befinden. Es war sehr bewegend für mich, viele der Freundinnen und Freunde wieder zu treffen, die ich bei meinen Reisen nach Rabat zwischen 2016 und 2019 im Rahmen von Aktionen und Projekten mit Migrant•inn•en kennengelernt hatte.
Wir versuchten, uns in den letzten zweieinhalb Jahren nicht aus den Augen zu verlieren, indem wir regelmässig Nachrichten austauschten. Die Anti-Covid-Massnahmen, die hier bei uns in Europa oftmals als ein Angriff auf «unsere Freiheiten» empfunden wurden, waren dort für diejenigen Menschen, die sich bereits in einer sehr prekären Lage befanden, schlichtweg zu einer Frage des Überlebens geworden. Viele hatten keine andere Wahl mehr, als «ihr Glück zu versuchen». Yvonne, zum Beispiel, machte sich mit ihrer kleinen Tochter Lina Rose auf, weil sich angeblich ein Durchgang zur spanischen Enklave Melilla geöffnet hatte. Dabei handelte es sich jedoch um eine Falschmeldung, und Lina Rose hätte beinahe ihr Leben verloren. Das Mädchen stolperte und stürzte einen steilen Abhang zum Meer hinunter und ohne die Rettungsaktion eines Mitwanderers wäre sie in den Fluten verschwunden oder an der felsigen Küste zerschmettert. Viele von meinen Freund•inn•en hatten nur noch eine einzige Hoffnung: den Weg nach Europa zu schaffen, koste es, was es wolle.
Simple Anti-Mafia-Rhetorik
Nach offiziellen Angaben überwanden insgesamt 49 Personen die Zäune der nördlichen spanischen Enklaven Ceuta und Melilla in den ersten drei Monaten des Jahres 2021. Von Januar bis Ende Februar in diesem Jahr waren es 12, die in Melilla registriert wurden. Am 2. März 2022 versuchten dann 2500 Personen zusammen, in das spanische Gebiet zu gelangen – ein Rekord. Nach Angaben der Behörden gab es danach zwei weitere gruppierte Versuche mit 1200 bzw. 1000 Menschen; dabei gelang es immerhin 871 Migrant•inn•en, nach Melilla zu gelangen – im Vergleich zum ganzen Vorjahr, in dem es insgesamt 1092 Personen waren.
Ähnlich wie Libyen und die Türkei kann es sich Marokko aufgrund seiner Lage erlauben, seine Grenzen im Rhythmus vom diplomatischen Hin- und Her mit Spanien und der EU zu öffnen oder zu schliessen. Ein spanisch-marokkanisches Treffen mit dem spanischen Staatssekretär für Sicherheit, Rafael Pérez, bei dem die bilaterale Zusammenarbeit zur Steuerung von Migrationsströmen thematisiert wurde, fand im Frühjahr 2022 statt. Hier ein Auszug aus der Resolution, die bei diesem Treffen wurde: «Angesichts der gemeinsamen Herausforderungen, die durch die Aktivitäten von Schleppernetzwerken und durch das instabile regionale Umfeld verursacht werden, haben beide Seiten beschlossen, ihre Mechanismen der Koordination und des Informationsaustauschs zu verstärken.» Um nicht beschuldigt zu werden, einen unmenschlichen Krieg gegen Menschen zu führen, die ein besseres Leben suchen, wird hier eine Anti-Mafia-Rhetorik heraufbeschworen, die sehr simpel ist und die Anwendung illegaler staatlicher Methoden zur angeblichen Bekämpfung von «Kriminellen» rechtfertigt. In diesem Sinne schlägt Marokko vor, das zu tun, was dieses Land bislang kaum getan hat, nämlich die Rückführung der Geflüchteten anzugehen: «Im Kampf gegen kriminelle Schleppernetzwerke stellt die Rückkehr der Migranten auch ein wesentliches Abschreckungsinstrument dar.» Nur, die Komplexität von Abschiebungen bleibt bestehen, da es oft unmöglich ist zu beweisen, woher die Migrant•inn•en kommen, denn die meisten von ihnen haben keine Papiere. Und dann gibt es den finanziellen Aspekt, der für Marokko sehr interessant ist, weil dem Land besondere Bedeutung bei den verstärkten finanziellen Unterstützungen im mehrjährigen Finanzplan der EU zukommen soll. Die Zusammenarbeit ist lukrativ und neue Luxusautos und -häuser sind die konkreten Gewinne für diejenigen, die sich zur richtigen Zeit und am richtigen Ort die Taschen füllen.
Die Militarisierung, die Repression und die unregelmässigen, aber dennoch häufig durchgeführten Menschenjagden gegen die «illegalen» Migrant•inn•en, die auf eine Überfahrt nach Europa warten, saugen zudem einen guten Teil dieser Subventionen ab.
Ein neuer Hotspot im Süden
Für die anderen, die sich mit den Geflüchteten engagieren, bleiben die Reste. Damit können ein paar Hilfsprogramme eingerichtet werden: für die vorübergehende Aufnahme, die Hilfe bei Ausbildungen und der Arbeitssuche für diejenigen, die das Glück und die Möglichkeit haben, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Es gibt auch andere gute Projekte, die jedoch fast nie umgesetzt werden können. Glücklicherweise gibt es auch NGOs wie Caritas oder «Médecins du Monde» und andere weniger bekannte Organisationen, die im Bereich der Aufnahme und der Berufsausbildung tätig sind. Doch diese sorgen für ihre eigene Finanzierung.
Ich traf Iréné Ledoux, den Leiter der kamerunischen Gemeinschaft in Marokko. Er ist Mediator und Sozialarbeiter und wirkt als Bindeglied zwischen den Menschen aus Kamerun und deren Botschaft. Er reist nach Kamerun, um dort die notwendigen Papiere für diejenigen zu sammeln, die ihre offizielle Identität nachweisen wollen oder müssen, um die notwendigen Schritte für den Zugang zu einem legalen Aufenthalt einzuleiten. Iréné weigert sich, der Botschaft Identitäten nachzuweisen, die für Abschiebungen missbraucht werden könnten – ein Engagement, das nicht leicht zu halten ist.
Iréné ist auch im «Alarmphone» aktiv und hatte gerade einen Monat in El Aaiún im Süden Marokkos verbracht, um Informations- und Präventionsarbeit zu leisten und um zu berichten, was dort passiert. Marokko bleibt trotz allem ein Land, von dem die Überfahrt nach Europa noch möglich ist. Nachdem, aufgrund der Pandemie und der sukzessiven Lockdowns, die Übergänge von Ceuta und Melilla hermetisch abgeriegelt wurden und diejenigen von Tanger und der Nordküste kaum erreichbar waren, sammelten sich diejenigen, die «ihr Glück versuchen» wollten, vermehrt in den Städten im Süden, wie zum Beispiel in El Aaiún, bekannt als Abfahrtsort zu den Kanarischen Inseln. Die Repression in El Aaiún ist extrem: Verhaftungen sind an der Tagesordnung und finden in Form von Razzien statt, die völlig willkürlich zu einem x-beliebigen Zeitpunkt durchgeführt werden. Keine Gruppe von Migrant•inn•en, egal aus welchem Land, findet Gnade vor den Augen der Armee und der Polizei. Nachdem die Uniformierten ihre «Beute» vorübergehend in improvisierten Lagern eingesammelt haben, werden die Verhafteten an der algerischen Grenze ausgesetzt oder in kleinen Dörfern im Süden verteilt, die am Rande der Wüste liegen. Für sie ist es dann sehr schwierig zurückzukommen. Es sterben Menschen, das ist sicher, aber man hört nichts davon. Iréné war nicht zum ersten Mal hier, aber dieses Mal war er besonders schockiert über das, was er sah und hörte. Er versucht, seine geflüchteten afrikanischen «Schwestern und Brüder» zu überzeugen, in Afrika zu bleiben und ihre Talente und ihr Wissen dort weiterzuentwickeln.
Prisca – die Überlebenskünstlerin
Prisca, eine junge Frau aus Kongo-Brazzaville, mit der ich mich angefreundet habe, überlebt mit einem kleinen Stand, den sie jeden Tag vor dem Haus aufbaut, in dem sie eine Notunterkunft gemietet hat. Der Vermieter hat ihr die Erlaubnis dazu erteilt. Morgens steht sie sehr früh auf, macht sich auf den Weg, um in ein paar Haushalten zu arbeiten, und wenn es Zeit ist, bringt sie ihren Sohn in die Schule. Denn er wird studieren, das ist Pflicht! Wenn sie nach Hause kommt, baut sie ihren Stand auf und schon geht es los, um wieder einen Tag lang subsaharische Waren aus dem Hafen von Casablanca zu verkaufen. Prisca kümmert sich um ihren jüngsten Sohn, den sie mit ins Exil genommen hat, aber auch um ihre beiden erwachsenen Söhne und ihren Ehemann, die in ihrer Heimat zurückgeblieben sind. Vor einigen Monaten ist ihre Schwester gestorben und niemand konnte deren Kinder ernähren, sodass Prisca auch für diese die Verantwortung übernehmen wird. Prisca ist 1,55 Meter klein, doch ihre Entschlossenheit ist riesig und wird nur noch von ihrer Wut auf den Diktator ihres Landes und auf die westlichen Länder, die zu seinen Komplizen gehören, übertroffen. Prisca hat einen Schutzstatus des UNHCR, aber Umsiedlungen nach Europa sind selten; trotzdem wartet sie geduldig darauf. Sie gehört zu denjenigen, die in der Anonymität der Großstädte Schutz gefunden haben, doch bei den verschiedenen Lockdowns nur mit Mühe überlebt haben – ohne Möglichkeit, den kleinen Laden aufzubauen und ohne Möglichkeit, Arbeit im häuslichen Sektor zu finden oder auch nur zu betteln. Die wenigen Künstlerinnen und Künstler aus Subsahara-Afrika, die vorher in den Strassen spielten, hatten nun keine Möglichkeit mehr, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, da es keinen Zugang mehr zum öffentlichen Raum gab. Vor der Pandemie war für viele die Option, nach Europa zu gehen, nicht mehr aktuell, denn sie hatten sich immerhin eine bescheidene Existenz aufgebaut, und nun – mit einem Schlag – brach alles zusammen. Das Überleben wurde fast unmöglich; viele hungerten und waren auf solidarische Netzwerke angewiesen. Die Solidarität in den jeweiligen Herkunftsgemeinschaften haben hier eine wichtige Rolle gespielt.
Der Zugang zu einer Aufenthaltsgenehmigung in Marokko wird immer schwieriger und vielen wird die Möglichkeit genommen, sie zu erneuern. Die Auflagen werden immer anspruchsvoller. Man muss einen Arbeitsvertrag, Mietvertrag, ein Bankkonto, etc. nachweisen. Man kann sich gut vorstellen, dass nur wenige der Neuankömmlinge Zugang zu diesen «Vergünstigungen» haben.
David – Poesie gegen das Elend
David ist Dichter. Dank der Unterstützung einer belgischen Stiftung hatte er die Möglichkeit, zwei Gedichtbände «Boza»(1) und «L'Enfant Clandestin» zu veröffentlichen. Nachdem er mehr als vier Jahre lang als «Illegaler» in Marokko gelebt hatte, kehrte er nach Kamerun zurück, um dann regelmässig wiederzukommen. Schlussendlich hatte er das Glück, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Doch der Lockdown warf ihn erneut ins Elend, aus dem er gerade dabei war, sich zu befreien. Zudem kam er durch einen Irrtum der Justiz siebeneinhalb Monate ins Gefängnis und wurde dort von den Behörden vergessen. Diese hatten dann die Grosszügigkeit, die unverdiente Strafe nicht in sein Strafregister einzutragen, was ihnen als Entschuldigung dienen sollte. David ist traumatisiert vom Vorgehen der Justiz und vom Verhalten der Behörden. Er braucht dringend Hilfe, um wieder auf die Beine zu kommen. Ich werde mich für ihn einsetzen.
Zum Schluss möchte ich noch einen Satz aus dem Abschlussbericht des spanisch-marokkanischen Kooperationstreffens zitieren, das sich mit der Steuerung von Migrationsströmen befasste; bitte lesen Sie ihn aufmerksam: «In Bezug auf die Verwaltung der Grenzen und ihren vielfältigen Herausforderungen wurde die Notwendigkeit betont, die Anstrengungen für die aktive Solidarität in Bezug auf eine dauerhafte technische und finanzielle Unterstützung zu artikulieren, um die Widerstandskraft und Effizienz operationell zu verbessern.»
Hier zeigt sich wieder einmal der ganze Zynismus der politischen und administrativen Rhetorik, die an den Grenzen Europas und weit über diese hinaus herrscht. Die immer grössere Externalisierung der Grenzen organisiert und steigert das Leid von denjenigen, die ins Exil gehen müssen und Zuflucht suchen.
Marie Pascale Rouff
- «Boza» ist die von den Migrant•inn•en verwendete Bezeichnung für die gelungene Überquerung des Mittelmeers nach Europa und heisst soviel wie «Sieg».