Derzeit richten sich alle Blicke auf die EU-Aussengrenze zwischen Griechenland und der Türkei und zudem auf den Balkan und aufs Mittelmeer. Allzu oft wird vergessen, dass es auch mitten in Westeuropa eine tödliche Grenze gibt. Für Menschen mit gültigen Papieren ist wenig präsent, dass zwischen dem Vereinigten Königreich und Festland-Europa die Schengener Abkommen nie gegolten haben und vorzeigbare Ausweispapiere für einen Grenzübertritt immer notwendig blieben. Calais, früher das Durchgangslager Sangatte, später die Jungles – irgendwann und irgendwie davon gehört hat jede·r. Die aktuelle katastrophale Lage gerät hinter noch tödlicheren Zuständen an anderen Grenzen dagegen fast in Vergessenheit. Regelmässig sterben in diesem Grenzraum Menschen. Erwachsene, Kinder und Jugendliche – wieviele genau, weiss niemand.(1) Ohne Zugang zu Fährtickets und Eurotunnel hatten sie andere Wege gesucht, um Grossbritannien zu erreichen. Jenseits des Kanals warteten Familie oder Bekannte auf sie, wollten sie ihre Englischkenntnisse für den Aufbau eines neuen Lebens nutzen oder schlicht als Papierlose·r eine möglichst angstfreie Zukunft in einer Gesellschaft ohne Ausweiskontrollen beginnen. Ihre Versuche haben sie mit ihrem Leben bezahlt. Viele andere zogen und ziehen sich schwere Verletzungen zu. Allerdings wissen alle, dass es auch Chancen gibt, das Vereinigte Königreich unbeschadet zu erreichen. Trotz aller sicherheitstechnischen Hochrüstung der Grenze – mit Stacheldraht, kilometerlangen Zaunanlagen, künstlichen Sumpfgebieten, Überwachungskameras, Röntgengeräten, CO2- und Herzschlagdetektoren, Spürhunden etc. – gelingt es Menschen ohne Papiere immer wieder den Ärmelkanal und die Nordsee zu überqueren. Calais ist durch die massive Repression mit Dauerpräsenz der französischen Spezialeinheiten zur Aufstandsbekämpfung (CRS) nicht mehr der zentrale Ort des Geschehens, sondern nur noch ein Ort unter vielen.(2) Die Migrant·inn·en sind im Hafen von Calais kaum noch sichtbar und ihre Zelte in Gebüschen am Stadtrand werden binnen Stunden oder Tagen von den «Ordnungs»kräften zerstört. Menschen ohne Papiere versuchen im bretonischen Roscoff, in Spanien oder den Niederlanden in LKWs Richtung Grossbritannien zu gelangen oder heimlich passende Fähren und Schiffe zu besteigen. Dort sind die Kontrollen zwar weniger dicht, allerdings gibt es auch sehr viel weniger Reisemöglichkeiten und somit nur bedingt bessere Erfolgsaussichten. Relativ neu werden seit circa eineinhalb Jahren Überfahrten mit Schlauchbooten dokumentiert. Angesichts der gewaltigen Gezeitenströme und des massiven Schiffverkehrs im Ärmelkanal ein ebenfalls lebensgefährlicher Weg.
Solidarische Küsten
Im Sommer 2020 vernetzen sich unter dem Motto «Coasts in Solidarity – Open borders, open eyes» viele lokale Initiativen entlang von Nordsee und Ärmelkanal, um auf die Situation aufmerksam zu machen und gemeinsame Strategien zu entwickeln. Zwischen Anfang Juni und Mitte Juli wird das traditionelle Segelschiff Lovis von Hamburg bis Brest (F) segeln. In den Häfen entlang der Strecke werden öffentliche Veranstaltungen zum Themenkomplex «Flucht und Migration» geplant. Nicht nur antirassistische und Solidaritätsgruppen engagieren sich, sondern auch andere, wodurch die ganze Breite des Themas beleuchtet wird: Klimaaktivist·inn·en beteiligen sich ebenso wie eine Gruppe, die zu Waffenexporten arbeitet, oder Menschen, die bei Rettungseinsätzen im Mittelmeer mitwirken; die koloniale Geschichte der besuchten Länder rückt in den Fokus und alternative Konzepte des Umgangs mit Migration (wie z.B. «Solidarische Städte») werden bekannt gemacht. An Bord und an Land soll viel Raum gelassen werden für Menschen, die selbst Erfahrungen machen mussten mit dem aktuellen Grenzregime und den rassistischen Grundmustern in europäischen Gesellschaften. Ihre Stimmen werden oft nicht wahrgenommen. Ein Schiff, vor allem ein altes wie die Lovis, erzeugt immer Aufmerksamkeit. Es ist eine Projektionsfläche für Träume, zieht Menschen an und kann sie zusammenbringen. Kulturelle Aktivitäten und öffentliche Picknicks schaffen zusätzlich einen Rahmen, der Begegnung erleichtert. Einen vorläufigen Abschluss findet «Coasts in Solidarity» bei den internationalen Hafenfesten in Brest und Douarnenez, wo die Themen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. Zur Unterstützung des Projekts wird demnächst eine Spendenkampagne gestartet. Weitere Informationen und die Etappen der Reise finden sich dann auf der Webseite der Lovis. (3)
- https://calaismigrantsolidarity.wordpress.com/deaths-at-the-calais-border/ (11.03.2020)
- Thomas Müller, Uwe Schlüper & Sascha Zinflou (2019): Querung des Kanals. Calais, der Brexit und die Bootspassagen nach Grossbritannien. München. Online unter bordermonitoring.eu/berichte/2019-querung-des-kanals/
- http://lovis.de