MIGRATION UND SOLIDARITÄT: Flüchtlinge in Como

von Michael Rössler und Hannes Reiser, Freundeskreis Cornelius Koch, 27.10.2016, Veröffentlicht in Archipel 252

Am 17. August 2016 fahren wir von Basel nach Norditalien, um die Flüchtlinge im Park am Bahnhof San Giovanni in Como zu besuchen. Hunderte von Menschen aus Eritrea, Äthiopien, Somalia, aus dem Sudan und Westafrika stranden dort. Sie werden an der Schweizer Grenze in Chiasso zurückgewiesen und an der Weiterreise in die Schweiz, nach Deutschland oder höher in den Norden gehindert.

Die meisten Flüchtlinge möchten zu Verwandten, die bereits vor Krieg, Verfolgung und Elend geflohen sind und schon in Europa leben – ein lebenswichtiger und verständlicher Wunsch. Sie haben oft ungeheuerliche Strapazen durchgemacht, bevor sie an die Schweizer Grenze kommen. Hier stehen sie aber vor einer verriegelten Tür und landen im Park von Como: obdachlos oder unter Zelten, die ihnen Freiwillige gebracht haben. Vor allem junge Menschen aus der norditalienischen Region sind präsent, um den Flüchtlingen Überlebenswichtiges zu organisieren.
Freiwillige aus dem Tessin
Es ist kurz vor Mittag, zum Glück sonniges Wetter: Viele Flüchtlinge, meist ganz junge, liegen oder sitzen am Boden, andere stehen in kleinen Gruppen zusammen. Auch Familien mit kleinen Kindern sind dabei. Das Warten zermürbt. Am Mittag kommt ein Kleinbus aus dem schweizerischen Tessin mit freiwilligen Helfer_innen. Sie schlagen einen Stand auf und bereiten die Essensausgabe vor. Die Flüchtlinge bilden eine lange Schlange, warten diszipliniert und nehmen einen Teller mit Reis, Bohnen und einem Apfel entgegen. Die Freiwilligen kommen jeden Tag, unter ihnen die 43-jährige Tessiner Kantonsrätin Lisa Bosia Mirra, Gründerin der Hilfsorganisation Firdaus1. Sie ist hier eine treibende Kraft, und wir treffen uns zu einem Gespräch im Bahnhofscafé. Obwohl wir uns noch nicht persönlich kennen, kommt schnell ein gegenseitiges Vertrauen auf.
Ein Ordner liegt vor ihr. Sie dokumentiert die Fälle von Flüchtlingen, die von den Schweizer Zöllnern am Nadelöhr vom Schweizer Grenzort Chiasso zurückgeschoben werden – oft mehrmals hintereinander.
Es sind viele unbegleitete Minderjährige, die automatisch Anspruch auf Schutz hätten, und auch Flüchtlinge, die ausdrücklich an der Grenze um Asyl gebeten haben. Lisa Bosia wird während des Gesprächs ständig weggerufen; die Flüchtlinge kommen zu ihr und sie versucht herauszufinden, wo die Menschen hin wollen und zu wem und erstellt ein Papier für den Zoll, mit dem sie es wieder versuchen. Wir sind beeindruckt von der aussergewöhnlichen Energie und Menschlichkeit dieser Frau.
Kein neues Phänomen
Für den nächsten Tag vereinbaren wir ein Treffen mit der ehemaligen Gewerkschafterin Rosangela Pifferi, die in Como lebt. Wir kennen uns seit dem Jahr 1989, als Hunderte von Kriegsflüchtlingen aus dem Libanon an der Schweizer Grenze scheiterten und – wie die Migrant_innen heute – obdachlos in Como blockiert waren. Zusammen mit dem Schweizer Flüchtlingspfarrer Cornelius Koch waren wir damals vor Ort und boten unsere Hilfe an2.
Wir hatten bereits Mitte 1987, nahe der Schweizer Grenze auf italienischer Seite, das «Empfangsbüro für Flüchtlinge in Como-Ponte-Chiasso» zusammen mit Tessiner Freund_innen eröffnet, um Schutzsuchenden weiter zu helfen. So entwickelte sich eine dauerhafte Zusammenarbeit mit Rosangela Pifferi, dem Pfarrer Don Renzo Beretta, der seine Kirche an der Grenze für die Abgewiesenen offen hielt, und vielen anderen.
Diese Zusammenarbeit bewährte sich, als Tausende Flüchtlinge aus dem Kosovo im Jahr 1998 verzweifelt durch denselben Park unterhalb des Bahnhofs von Como hindurchzogen, in der Hoffnung, Schutz in der Schweiz oder weiter im Norden zu erhalten. Wir konnten durch die juristische und menschliche Begleitung der Flüchtlinge am Zoll eine teilweise Öffnung der Grenze in Chiasso erreichen. Was zu jener Zeit aktuell war, ist heute wieder ein brennendes Thema. Dabei sind momentan viel weniger Flüchtlinge in Como als damals. Trotzdem herrscht kalte Panik bei den Schweizer Behörden.
Essen und Obdach
Nach einer herzlichen Umarmung mit Rosangela machen wir uns gemeinsam auf den Weg nach Rebbio, einem Stadtquartier von Como, um Don Giusto Della Valle, Priester an der San-Martino-Kirche, zu besuchen. Der junge katholische Pater trägt keine Insignien seines Glaubens und wirkt wie ein Arbeiter, der mehrere Jobs gleichzeitig ausführt. Er ist uns auf Anhieb sympathisch. Seit fünf Jahren nimmt er in seiner Kirchgemeinde Flüchtlinge auf, unterstützt von einer Gruppe von Freiwilligen. Momentan sind es vor allem unbegleitete Minderjährige, die bei ihm zeitweise beherbergt und verpflegt werden. Don Giusto hat einen bestimmten, aber herzlichen Kontakt zu ihnen. 600 von ihnen sind seit Anfang Juli bei ihm durchgegangen. Die Gemeinde von Como und die Hilfsorganisation Caritas schicken die jungen Flüchtlinge, die an der Schweizer Grenze abgewiesen werden, zu ihm, weil sie selber ihre Aufgabe vernachlässigt und keine Empfangsmöglichkeiten eingerichtet haben. Der Pater präsentiert uns ein dickes Dossier von den Abgewiesenen an der Schweizer Grenze. Er freut sich zwar über unsere private Unterstützung aus dem Nachbarland, kann aber seine Enttäuschung über die Schweiz nicht verbergen. In einem Interview redet er Klartext: «Wir verstehen die Schweizer Politik nicht! Die Schweiz ist doch ein multikulturelles Land, welches das Geld von überall her empfängt, ohne zu fragen woher. Aber sie empfängt nicht die Menschen. (…) Die Welt ist gross, es wird immer mehr Migrantinnen und Migranten geben. Wir müssen unsere Lebensphilosophie ändern und die Türen öffnen.»3
Die letzte Bastion
Während unseres Aufenthaltes erfahren wir, dass Como in Kürze ein Containerlager für die Flüchtlinge einrichten will, um den Park zu «säubern». Doch das Problem bleibt das gleiche: Die Menschen wollen weiter reisen, und solange wir die Not in ihren Ländern nicht zur Kenntnis nehmen und nicht dabei helfen, diese zu verringern, kommt die Not zu uns. Die Haltung der offiziellen Schweiz ist beschämend! Vor allem der Rechtsaussen-Bundesrat Ueli Maurer, als Finanzminister zuständig für den Zoll, weist die Grenzbeamten an, hart und brutal gegen die Flüchtlinge vorzugehen. Er handelt jedoch nicht auf eigene Faust, sondern weiss sich einig mit der Strategie der Festung Europa, welche die Alpen vom Brenner über Chiasso bis Ventimiglia als letzte Bastion zu West- und Nordeuropa abriegeln will.
Ankunftshilfe
Zwei Wochen nach unserem Besuch in Como erfahren wir aus den Medien, dass die Tessiner Kantonsrätin Lisa Bosia Mirra, die wir im Park von Como getroffen hatten, an der Grenze von Chiasso kurzzeitig verhaftet worden ist. Sie soll versucht haben, minderjährige Flüchtlinge in die Schweiz zu «schleusen». Das Geschrei ist gross. Die rechtsextreme Lega im Tessin fordert ihren Rücktritt aus dem Kantonsparlament und die rechtspopulistische Schweizer Volkspartei SVP eine konsequente Bestrafung wegen Schleppertätigkeit.
Nach dem Gesetz steht auf die «Hilfe zur rechtswidrigen Einreise» eine Gefängnisstrafe von bis zu einem Jahr oder eine Busse; bei gewerbsmässigem Handeln droht ein Freiheitsentzug bis zu fünf Jahren. Es kann aber von einer Strafe abgesehen werden, wenn die Art und Schwere der Verfolgung des Ausländers den rechtswidrigen Grenzübertritt rechtfertigen und aus achtenswerten Gründen geholfen wurde. Letzteres trifft zweifellos auf Lisa Bosia zu. Fluchthilfe ist Ankunftshilfe: Menschen dabei zu unterstützen, endlich an einem sicheren Ort anzukommen, ist eine ehrenhafte Tat. Der Fall liegt jetzt bei der Tessiner Staatsanwaltschaft.
Breite Solidarität
Viele solidarische Stimmen nehmen die angegriffene Flüchtlingshelferin in Schutz. Sie reichen vom ehemaligen Staatsanwalt des Kantons Tessin, Paolo Bernasconi, bis zum bekannten Rapper Greis. Sogar die Boulevardzeitung «Blick» titelt ihren Artikel mit dem wohlwollenden Zitat «Fluchthelfer sind keine Schlepper»4. Dies ist mehr als recht, nachdem die Journalist_in-nen von allen grossen Medien während Tagen über das Elend in Como und die illegalen Rückweisungen in Chiasso berichtet hatten, ohne dass die Behörden auch nur einen Deut von ihrer Lüge abgewichen wären, sie würden alle Asylanfragen am Zoll entgegennehmen, wie gesetzlich vorgeschrieben.
Daran änderte auch eine Delegation mit Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss und Schweizer Parlamen-tarier_innen nach Como nichts, die sich schockiert über die Zustände zeigte und das Gespräch mit den Grenzbehörden und dem Bundesamt für Migration suchen wollte. Wer verhält sich hier also illegal?
Eine Petition für Lisa Bosia ist im Umlauf, die schon beinahe 2‘000 Menschen unterschrieben haben5, und von verschiedenen Seiten kommen Aufrufe, die uns nahe legen, Flüchtlinge über die Grenze zu begleiten – auf welche Art auch immer. Ein gutes Beispiel dafür ist die Initiative «Schienenersatzverkehr für Flüchtende»6, die im September 2015 zwischen Budapest und Wien zum Einsatz kam. Ziviler Ungehorsam ist nötig, wenn die Politik versagt. Lisa Bosia hätte statt eines Prozesses einen Menschenrechtspreis verdient!

  1. www.firdaus.org
  2. Biografie und Geschichte der Flüchtlingsarbeit: Claude Braun und Michael Rössler: «Ein unbequemes Leben – Cornelius Koch, Flüchtlingskaplan», Verlag Zytglogge, Oberhofen am Thunersee, 2011.
  3. Le Quotidien Jurassien, 29.8.2016
  4. Blick, 2.9.2016
  5. Fluchthilfe ist kein Verbrechen – Straffreiheit für Lisa: www.actionsprout.io
  6. www.fluchthelfer.in, siehe auch folgenden Artikel in dieser Nummer