Unsere letzte Reise nach Bosnien-Herzegowina und Kroatien war vor eineinhalb Jahren. Damals trafen wir mehrere zivilgesellschaftliche Initiativen und auch Einzelpersonen, die sich auf der Balkanroute für Geflüchtete einsetzen. Seitdem unterstützen wir diese mutigen Menschen und sind mit ihnen in Verbindung geblieben. Jetzt besuchten wir* sie erneut.
Motiviert für diese Reise waren wir vor allem, um die Kontakte auszubauen, die Situation vor Ort zu spüren und Informationen zu sammeln, die uns in der Schweiz helfen könnten, Dublin-Ausschaffungen von Asylbewerber·inne·n nach Kroatien zu verhindern.
Am 10. November trafen wir in der Kleinstadt Velika Kladuša in Bosnien ein – einem der wichtigsten Durchgangsorte für Menschen auf der Flucht nach Westeuropa– unweit von der kroatischen Grenze gelegen. Tausende trafen in den letzten Jahren in der Stadt und im Kanton Una Sana ein, um ihr Glück zu versuchen. Doch die meisten der Schutzsuchenden wurden von den kroatischen Grenzern mit Unterstützung der EU-Grenzschutzagentur Frontex illegal nach Bosnien zurückgeprügelt. Es gibt hunderte Aussagen und Beweise von systematischen Misshandlungen und Demütigungen.
Heute ist die Stadt viel ruhiger als das letzte Mal. Es begegnen uns nur wenige «People on the move» auf den Strassen. Doch das heisst nicht, dass hier niemand mehr unterwegs ist. Wir treffen Admir1, der zusammen mit seinem Vater ein Café und Hostel betreibt, wo sich die Geflüchteten aufhalten und neue Kraft schöpfen können. Er ist einer der sogenannten «Locals», der Einheimischen, die sich für die Flüchtenden einsetzen. Immer noch hat er alle Hände voll zu tun, um Verzweifelte aufzuheitern, Unterbringung und sonstige Hilfe zu organisieren. Die Behörden haben immer wieder versucht, ihm Steine in den Weg zu legen – doch bis jetzt umsonst.
Gespenstische Leere
Alma, Lehrerin in einem Nachbarsdorf, hat den Verein «Rahma» (dt. Gnade) gegründet, der als erste einheimische Initiative offiziell als Hilfsorganisation anerkannt wurde. Wir besuchen am nächsten Tag ihr Lokal, wo es Räume für Nahrungsmittel, Kleider, Schuhe, Waschmaschinen und Duschen für die Vorbeiziehenden gibt. Ihr Mitarbeiter Idin, ebenfalls Lehrer, bereitet einen Transport mit Lebensmitteln und Hygieneartikel vor, der zu den leerstehenden Gebäuden führen soll, wo sich die Geflüchteten provisorisch eingerichtet haben. «Rahma» führt solche Transporte regelmässig durch, doch heute kommt ein Anruf dazwischen. Alma erzählt, dass die Gebäude von der Polizei geräumt und alle «Bewohner·innen» deportiert worden seien. Wir machen uns selbständig auf, um die Situation vor Ort zu begreifen: Im alleinstehenden, unfertigen Wohnhaus auf dem Land, wo die «People on the move» Obdach gefunden hatten und das sie «Bon courage» nennen, ist niemand mehr. Vor dem Haus ein Paar leere Schuhe, so als ob sich deren Besitzer in Luft aufgelöst hätte. Ein gespenstischer Anblick bietet sich auch in der riesigen Ruine einer Fabrik am Rande von Velika Kladuša: Überall Spuren von plötzlich verschwundenen Menschen in den kahlen Räumen und Hallen, die uns das Ausmass des Elends der Geflüchteten vor Augen führen. Wir erfahren später, dass die Menschen mit Bussen zwangsweise in das berüchtigte staatliche Lager von Lipa gebracht wurden, dass aber einige schon wieder auf eigene Faust den Rückweg angetreten hätten. Der Sinn dieser Polizeiaktion bleibt völlig unklar. Geht es um reine Schikane und Einschüchterung oder steckt mehr dahinter?
Lokale und internationale Helfer·innen
Neben den einheimischen treffen wir die internationalen Aktivist·inn·en von «No Name Kitchen» und «Blindspot», alles junge Leute, die normalerweise mindestens einen Monat hierbleiben, um auf verschiedenste Art die Menschen auf der Flucht unterstützen. Sie müssen sehr vorsichtig agieren, denn selbst die kleinsten Hilfeleistungen sind den Behörden ein Dorn im Auge und können zu Repressalien führen. Die Initiative «Medical Volunteer International» (MVI) ist neben «Rhama» offiziell anerkannt, darf aber nur allererste Hilfe leisten. Schon der Transport von Verletzten oder Kranken in ein Spital ist ihnen nicht gestattet. Sowohl die einheimischen als auch die internationalen Helfer·innen berichten, dass es weiterhin brutale «Pushbacks» gibt, aber weniger als zuvor, und dass inzwischen «People on the Move», die in Kroatien ankommen, ein Papier erhalten, das sie auffordert, das Land innerhalb von sieben Tagen zu verlassen. So werden sie immerhin während sieben Tagen in Ruhe gelassen, um weiterreisen zu können. Neben den vielen afghanischen Geflüchteten sind neuerdings zahlreiche Schutzsuchende aus Burundi unterwegs, die visafrei nach Serbien einreisen konnten. Doch dieser Weg ist auf Druck der EU und der Schweiz inzwischen wieder versperrt. Einige von ihnen sind über Bosnien und Kroatien in der Schweiz angekommen, haben Asyl angefragt, sollen aber nach dem Dublin-Verfahren nach Kroatien zurückgeschafft werden.
Am Nachmittag des 12. November fahren wir weiter nach Bihać, der Kantonshauptstadt, und treffen Daka und Nicola von «Kompas», einer ebenfalls offiziell anerkannten Initiative, die ihren Ursprung in Sarajevo hat. Der Verein öffnete seine Räumlichkeiten im Januar 2022. Seither sind ca. 1300 Flüchtende vorbeigekommen. Das Lokal liegt ausserhalb der Stadt an der Route nach Velika Kladuša. Die Helfer·innen bieten den Vorbeiziehenden Tee an, waschen Kleider, laden Telefone auf und stellen Duschen zur Verfügung. Ausserdem können sich die Reisenden das Nötigste in einem Freeshop aussuchen. Bei «Kompas» kommen seit rund drei Monaten viel weniger Menschen vorbei. Frauen und Minderjährige bleiben aufgrund erlebter Pushbacks und aus Angst vor dem Winter zumeist in den Camps, sowohl in Bihać als auch in Lipa – trotz sehr prekärer Verhältnisse. Deshalb vergeben die Helfer·innen momentan Kleider und andere Dinge an Einheimische, die selbst nicht viel haben.
Am Nachmittag des 13. November sind wir unterwegs von Bihać nach Sarajevo. Die Fahrt mit dem Auto geht durch Täler in hügeliger Landschaft, über ein Hochplateau im Nebel, durch Dörfer mit grazilen Minaretten und durch kleine Städte. Dort wo die Sonne durchkommt, taucht sie die Landschaft in ein sanftes herbstliches Licht, das die zerstörten Häuser, die wir fast überall sehen, unwirklich erscheinen lässt. Der Krieg ist seit 27 Jahren vorbei, doch die Wunden sitzen tief.
Von Blechcontainern und Menschen
In Sarajevo angekommen, treffen wir Dijana Muzicka von der Caritas; sie ist die Verantwortliche für Migrationsfragen. Sie gibt uns einen Überblick, wo und wie die Caritas tätig ist, und ermöglicht uns, zwei Flüchtlingslager in der Umgebung zu besuchen. Wir werden von einer jungen Mitarbeiterin begleitet und fahren zuerst in das Camp von Uzevak für Familien und Minderjährige. Das Lager besteht hauptsächlich aus Blechcontainern mit Stockbetten. Die Caritas hat ein «Social Corner» eingerichtet, das heisst einen Raum, wo die aktuellen Bewohner·innen etwas trinken und sich mit Zeichnen oder Brettspielen beschäftigen können. Es scheint der einzige gastfreundliche Ort im Lager zu sein. Eine «Community Kitchen» ist in Planung, wo Geflüchtete ihr eigenes Essen kochen können. Auf der Wand eines Containers, in welchem sich ein kleines Nähatelier befindet, prangt das Bild einer modisch gekleideten muslimischen Frau unter dem Emblem der IOM (International Organization of Migration). Die IOM organisiert auch Modeschauen, so als ob sie nicht wüsste, wohin mit ihren Millionen, die sie von den Mitgliedsstaaten und der EU bekommt. Die Organisation ist präsent in der Verwaltung der staatlichen Camps und durch Plakate, welche die Menschen zur «freiwilligen» Rückkehr in ihre Herkunftsländer aufruft. Überhaupt haben verschiedenste Organisationen ihre Logos an die Container geklebt, darunter auch die schweizerische «Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit» (DEZA). Doch die Lebensbedingungen für die Menschen bleiben hier sehr rudimentär. Zum Glück sind momentan nur rund zweihundert Menschen im Camp.
Danach geht es in das Camp von Blazu für allein reisende Männer, wo uns ein Mitarbeiter der Caritas empfängt und durchs Lager führt. Das Gelände ist wesentlich weitläufiger und über den Containern ragt ein Mirador in den Himmel, der aber nicht mehr in Betrieb sei. Das Camp wurde auf einem ehemaligen Militärgelände errichtet wie fast alle Lager in Bosnien-Herzegowina. Momentan sind 1800 Männer, vor allem aus Afghanistan da – bei einer Aufnahmekapazität von 2000. Auch hier gibt es kleine Projekte von der Caritas und anderen Organisationen, doch die Bedingungen bleiben äusserst prekär. Zur Mittagszeit reihen sich die Männer in eine lange Reihe ein, um Essen zu fassen. Es kann gut zwei Stunden dauern, bis der letzte verköstigt ist. Im Nachhinein fragen wir uns, wie weit solche Lagerbesuche sinnvoll sind. Man wird offiziell herumgeführt und bekommt das zu sehen, was man sehen darf, doch mit den Geflüchteten zu reden, ist kaum möglich. Wir denken, dass es trotzdem wichtig ist, einen Fuss in der Tür zu behalten.
Eine neue Route nach Europa?
Im Lokal von «Kompas 071» in Sarajevo empfängt uns Ilma, eine junge, sehr herzliche Frau mit Hidschab, einem Kopftuch muslimischer Frauen. Die Initiative funktioniert mit drei bezahlten Personen und zwei Freiwilligen. Auch hier gibt es einen Freeshop, Waschmaschinen und Duschen. Bei ihnen kommen rund achtzig Menschen pro Tag vorbei. Sie berichtet uns ausführlich über die aktuelle Lage. Sarajevo ist immer noch ein wichtiger Durchgangsort, inzwischen auch Tuzla, von wo aus die Flüchtenden die Republika Srpska durchqueren, um bei Gradiška nach Kroatien und damit in die EU zu gelangen. Dabei handelt es sich um eine neue Route, die gefährlich ist. Viele Flüchtende sind schon beim Überqueren der Save bei Gradiška umgekommen. 90 Prozent der Reisenden sind momentan Afghan·inn·en. Denn die Türkei schickt Menschen aus Afghanistan massiv in ihr Herkunftsland zurück. Es kommen auch immer mehr Iraner·innen. Seitdem sich herumgesprochen hat, dass Kroatien ein «7-Tage-Papier» ausstellt, sehen die «People on the Move» wieder bessere Chancen. Als wir auf dem Rückweg in die Schweiz in der kroatischen Hauptstadt Zagreb Vertreterinnen von «Are You Serious», «Border Violence Monitoring Network » und dem «Center for Peace Studies» treffen, klären sie uns auf. Das Dokument ist kein «Laisser-passer» für Europa – im Gegenteil, es fordert dazu auf, sowohl Kroatien als auch die EU zu verlassen. Die Odyssee der Schutzsuchenden ist damit nicht beendet. Ab 1. Januar 2023 wird Kroatien voraussichtlich Mitglied des Schengen-Raums. Bis dann scheint eine etwas leichtere Praxis zu herrschen, wahrscheinlich auf Grund der vielen Kritiken wegen den Menschenrechtsverletzungen an der Grenze zu Bosnien. Kroatien möchte seine Aufnahme in den Schengen-Raum nicht verspielen. Doch was kommt danach? Eine noch stärkere Abschottung ist ab 2023 zu erwarten. Kroatien wird dann zum Wachhund des Schengener Raums.
Dass die Schweiz Asylbewerber·innen gemäss dem Dublin-Verfahren nach Kroatien zurückschiebt, kritisieren alle, die wir treffen. Die Menschenrechtssituation für Geflüchtete sei katastrophal. Unsere Gesprächspartnerinnen geben uns viele Informationen, die diese Tatsache belegen. In den Niederlanden und Deutschland sind nach Gerichtsentscheiden keine generellen Rückführungen mehr möglich.
Michael Rössler
*Mitglieder der Delegation: Sophie Guignard, Solidarité Sans Frontières; Miriam Helfenstein, No-Frontex; vom EBF und Freundeskreis Cornelius Koch: Claude Braun, Camillo Römer, Michael Rössler.
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