Kurz vor Ostern, am 29.3.2021 organisierten das Aktionsbündnis #evakuierenJETZT und Amnesty in Bern eine Pressekonferenz und eine Protestaktion vor dem Bundeshaus, um gegen die fehlende Bereitschaft der Schweizer Regierung zu protestieren, die Evakuierung der griechischen „Inseln der Schande“ ernsthaft anzugehen.
Ein Statement zog sich durch alle Redebeiträge: Die Schweiz kann und muss mehr tun! Bereits vor einem Jahr forderten 132 Organisationen und über 50.000 Menschen den Bund mit dem Osterappell von #EvakuierenJETZT dazu auf, die griechischen Flüchtlingslager zu evakuieren. Seitdem haben sich die Zustände für die geflüchteten Menschen durch den weltweiten Ausbruch der Pandemie und vor allem durch die Brandkatastrophe, die am 9. September 2020 das Lager Moria vollständig zerstört hatte, noch einmal massiv verschlechtert. Die offizielle Schweiz wiederholt seither gebetsmühlenartig, dass sie durch Hilfe vor Ort die Zustände für die Menschen verbessern will. Fabian Bracher, Mitglied der Kampagne #evakuierenJETZT, lebt und arbeitet auf der Insel Lesvos und stellt klar, dass diese Zusage bis anhin nicht eingelöst wurde: «Heute leben die Menschen in einem neuen Lager, das auf einem alten Schiessplatz eingerichtet wurde. Der Boden ist durch Blei verseucht und birgt daher erhebliche Gesundheitsgefahren. Vulnerable Personen, chronisch Kranke, körperlich Beeinträchtigte und krebskranke Menschen leben in den UNHCR-Zelten auf kaltem Boden», so Fabian Bracher über das Camp, in dem es weder einen Wasseranschluss noch eine adäquate Stromversorgung gibt.
Sind Bundesrätin Karin Keller-Sutter vom Eidgenössischen Departement für Justiz und Polizei (EJPD) und Mario Gattiker vom Staatssekretariat für Migration (SEM) blind und taub? Städte, Gemeinden und weite Teile der Zivilgesellschaft wollen und können geflüchtete Menschen aufnehmen. Wann endlich handelt der Bund?
Ungehört verhallt
Besorgt über die Zustände in den griechischen Lagern haben verschiedenste Schweizer Städte reagiert: Sie haben sich bereits im Frühsommer 2020 in der Allianz «Städte und Gemeinden für die Aufnahme von Flüchtlingen» zusammengeschlossen. Die aktuell sechzehn beteiligten Städte und Gemeinden (siehe Kasten) wollen, dass die Schweiz mehr geflüchtete Menschen aufnimmt, und sind bereit, diese zusätzlichen Menschen bei sich zu beherbergen. Zudem haben sich rund zwanzig kleinere Gemeinden unabhängig von der Allianz bereit erklärt, Geflüchtete aufzunehmen.
Mehrmals seien die aufnahmewilligen Städte der Allianz schon beim Bund vorstellig geworden, sagt Thierry Steiert, Stadtammann von Fribourg. Aber die Angebote seien «stets ungehört verhallt». Dass die Asylpolitik in der Zuständigkeit des Bundes liege, sei sich die Allianz bewusst, so die Berner Gemeinderätin Franziska Teuscher. Doch: «Die Städte wollen zusammen mit dem Bund pragmatische Wege finden, wie eine zusätzliche Aufnahme von Flüchtlingen und eine entsprechende Verteilung dieser Menschen auf die aufnahmebereiten Städte und Gemeinden umgesetzt werden kann. Dies zur Linderung kurzfristiger Not, aber auch als Bestandteil einer längerfristigen Weiterentwicklung der humanitären Tradition unseres Landes.» Raphael Golta ortet primär einen fehlenden politischen Willen auf Bundesebene. Für den Sozialvorsteher der Stadt Zürich ist klar: «Wenn die Hilfe vor Ort an ihre Grenzen stösst, müssen wir die Betroffenen in unserem Land aufnehmen.» Es sei zwar richtig, dass die Schweiz nicht sämtliche Not auf den weltweiten Fluchtrouten im Alleingang lindern könne. «Aber wir können wesentlich mehr tun, als das heute der Fall ist.»
Die Kirchen sind parat
Unterstützung würde der Bund auch von kirchlicher Seite erhalten. Franziska Driessen-Reding, Synodalratspräsidentin der Katholischen Kirche im Kanton Zürich, sagt: «Die Aufnahme von Menschen auf der Flucht gehört zur DNA der christlichen Kirchen, quasi zum Grundauftrag. Als Christinnen und Christen haben wir Flüchtenden beizustehen, ohne vorher abzuklären, woher sie kommen und ob sie ‘berechtigte’ Gründe für ihre Flucht angeben können.» Die Katholische Kirche im Kanton Zürich sei bereit, ihren Beitrag zu leisten. «Der Kanton weiss, dass wir zur Verfügung stehen. Es liegt am Bund, endlich ein Zeichen der Humanität zu setzen. Wir werden als Kirchen parat sein.» Auch die Frauenstreikkollektive melden sich zu Wort. Im Bewusstsein, dass besonders verletzliche Personen in den griechischen Flüchtlingslagern «massiver psychischer, physischer und sexueller Bedrohung und Gewalt» ausgesetzt sind, würden die Kollektive die Forderungen von #evakuierenJETZT klar unterstützen.
Schluss mit der Hinhaltetaktik!
Das Kampagnenteam von #evakuierenJETZT ist enttäuscht über die passive Haltung des Bundes. Man habe nebst Forderungen eine Vielzahl an Lösungsvorschlägen an das Staatssekretariat für Migration (SEM) und den Bundesrat geschickt. «Evakuierungsflüge, zivile Unterkünfte und die Bereitschaft vieler Schweizer Städte und Gemeinden zur Aufnahme von Geflüchteten sind nur einige Beispiele davon», sagt die Flüchtlingshelferin Janine Bleuler. Für sie ist klar: «Diese Hinhaltetaktik des Bundes muss ein Ende haben!» Und zugeschaltet von Lesvos, ergänzt der Co-Koordinator von #evakuierenJETZT Fabian Bracher: «Es braucht eine Neuausrichtung der europäischen Migrationspolitik. Eine Politik, bei der Solidarität, Menschlichkeit und die unbedingte Einhaltung der Menschenrechte im Fokus liegen.» Die Solidarität der Städte und Gemeinden sei dabei ein zentrales Mittel, um Veränderung zu bewirken.
Im Anschluss an die Lancierung des Osterappells 2020 haben die acht grössten Städte der Schweiz sich dem Aufruf für die Evakuierung der griechischen Inseln angeschlossen und dann im Rahmen der Städte-Allianz noch weitere acht dazugeholt. Somit sind seit dem 19. März 2021 sechzehn Städte dabei. Parallel dazu hat das Europäische BürgerInnen Forum (EBF) eine Gemeinde-Petition formuliert(1), die vom EBF und anderen Organisationen wie dem Netzwerk „Seebrücke“(2) und dem „Solinetz Ostschweiz“ in Umlauf gebracht wurde. Tausende von Menschen haben mit ihrer Unterschrift ihre Wohngemeinde aufgefordert, sich dem Appell anzuschliessen. Dies alles hat zur Folge gehabt, dass sich zusätzlich zu den 16 Gemeinden in der Allianz noch 20 weitere Städte und Dörfer engagiert haben. Es sind dies kleine und grössere Gemeinden kreuz und quer durch die Schweiz, fast aus allen Kantonen. (Vollständige Liste, weiter unten). Hier seien nur exemplarisch die zwei kleinsten Gemeinden Cormoret (BE) mit 491 und Penthalaz (VD) mit ihren 3283 Einwohner·inne·n genannt In ihren Stellungsnahmen waren die Gemeinden auch sehr unterschiedlich. So hat Sevelen explizit die Anzahl Familien vorgerechnet, die aufgenommen werden könnten: „(…) Interne Abklärungen haben ergeben, dass mittelfristig eine Familie, zusätzlich zu dem bestehenden Kontingent, aufgenommen werden könnte. Momentan leben in Sevelen 38 aufgenommene Asylbewerber und Flüchtlinge.“. Dagegen legten sich die meisten anderen Beschlüsse auf eine allgemeine vermehrte Aufnahmebereitschaft ihrer Gemeinde fest.
Ich möchte aus dem Brief vom 6.11.2020 der kleinen Walliser Gemeinde Grimisuat zitieren, die sagt, dass sie zwar nicht die politische Kompetenz hätte, sich für die Aufnahme von Geflüchteten in ihrer Gemeinde auszusprechen, dass aber jedes Mitglied des Gemeinderates vor Ende Jahr 100 Franken an Organisationen überweisen würde, die sich für das Wohl der Geflüchteten einsetzen.
Ich erinnere noch gerne daran, dass die Stadt Wil, wo Frau Keller-Sutter in den 1990er Jahren als Gemeinderätin amtete, sich ebenfalls der Allianz angeschlossen hat und damit mehr Herz und Verstand zeigt als die jetzige Bundesrätin. Nicht nur fehlt dem EJPD und dem SEM jegliche Spur von Menschlichkeit in der Handhabe dieses Dramas an den Toren Europas, sondern sie verweigern sich bisher auch dem Dialog mit den Städten und Gemeinden. Wir fordern Frau Keller-Sutter und Herrn Gattiker dringend dazu auf, endlich zu handeln.
Claude Braun, EBF Schweiz
- https://forumcivique.org/artikel/aufruf-an-die-gemeinden-nehmt-gefluechtete-von-den-griechischen-inseln-auf/
- https://seebruecke.ch/ueber-uns/erfolge/
Aufnahmebereite Städte in der Schweiz
Mitglieder Städte-Allianz, Stand 11.03.2021: Baden, Basel-Stadt, Bern, Delémont, Fribourg, Genf, Kriens, Lausanne, Luzern, Moutier, Prilly, Spiez, St. Gallen, Wil, Winterthur, Zürich.
Weitere Gemeinden, die sich dem Aufruf angeschlossen haben: Aarau, Arlesheim (BL), Biel, Brugg (AG), Buchs (SG), Burgdorf, Cormoret (BE), Kriens (LU), Laufenburg (AG), Lenzburg (AG), Neuchâtel, Penthalaz (VD), Saignelégier (JU), Sainte-Croix (VD), Sevelen (SG), Solothurn, Teufen (AR), Vernier (GE), Windisch (AG), Wohlen (BE).