MITTELMEER / MIGRATION: Trotamar – Rettung mit Segeln

von Till Hailer, Longo maï, CompassCollective, 18.07.2024, Veröffentlicht in Archipel 338

Seit dem 25. August 2023 unterstützen Aktivist•innen des CompassCollectives die Rettung von Flüchtenden auf dem Mittelmeer. Mit ihrem Segelschiff Trotamar III machen sie dreiwöchige Beobachtungseinsätze, bei denen sie Menschenrechtsverletzungen dokumentieren, nach Seenotfällen Ausschau halten und bei Rettungseinsätzen von grösseren (Rettungs-) Schiffen assistieren. Im Notfall retten sie auch selber.

Mein Name ist Till, ich wohne auf der politischen Landwirtschaftskooperative Ulenkrug in Mecklenburg-Vorpommern. Ich möchte an dieser Stelle von meinen Erlebnissen im Oktober/November 2023 mit dem Segelschiff Trotarmar III auf dem Mittelmeer berichten. Der Heimathafen des 13 Meter langen Schiffes ist Licata in Sizilien. Dort traf ich die sechsköpfige Crew des CompassCollectives. Das CompassCollective ist eine kleine NGO aus dem deutschen Wendland, die Beachtliches leistet und zeigt, dass auch wenige Personen und ein kleines Segelboot viel bewirken können. Während meines Einsatzes folgten – auf ein paar Tage Vorbereitung und Training – die Fahrt nach Lampedusa und dann weiter in Richtung Tunesien. Im internationalen Gewässer, im Korridor von 24 Meilen (etwa 39 Kilometer) vor der tunesischen Küste, suchten wir nach Booten mit Geflüchteten. Weiter durften wir uns der tunesischen Küste nicht nähern. Wenn wir ein Boot sichteten, liessen wir unser kleines Beiboot ins Wasser und untersuchten die Lage: ob das Boot noch einigermassen stabil im Wasser liegt, bereits Wasser im Boot ist, die Menschen Rettungswesten haben und ob es medizinische Notfälle gibt.

Europa versagt, lässt Menschen ertrinken

Frontex wird von der EU finanziert, schafft Flugzeuge und Drohnen an und meldet der sogenannten Libyschen Küstenwache gesichtete Seenotfälle. Diese nutzt die Informationen vermutlich, um illegale Rückführungen nach Libyen einzuleiten. Die EU-Mitgliedstaaten finanzieren, trainieren und stellen auch Schiffe für die sogenannte Libysche Küstenwache bereit, die mit Milizen zusammenarbeitet und selbst in Menschenschmuggel involviert ist und davon profitiert.

Libyen ist ein Bürgerkriegsland, in dem Städte mit Raketen beschossen werden und in dem es keine Sicherheit für Angehörige anderer Volksgruppen gibt, in dem schwarze Flüchtende auf offener Strasse entführt werden können und in Lagern gefoltert und vergewaltigt werden, bis ihre Bekannten sie freikaufen oder sie in die Sex- und Arbeitssklaverei weiterverkauft werden. Wir alle machen uns als Europäer•innen an dieser Katastrophe mitschuldig!

Beim Überqueren des Mittelmeeres von Tunesien oder Libyen in Richtung Europa (Malta, Lampedusa, Sizilien) kentern viele der zum Teil völlig überfüllten Boote oder es ist nicht genügend Treibstoff für die Überfahrt vorhanden, Aussenborder-Motoren fallen aus oder Menschen verirren sich. So kommt es, dass jedes Jahr tausende Menschen auf ihrer Flucht im Mittelmeer sterben. Seit 2014 sind mehr als 22.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Alleine im letzten Jahr sind mehr als 2.500 Menschen umgekommen. Doch niemend kennt die wirkliche Zahl.

Das Mittelmeer – ein Massengrab

Daher ist die Wahrscheinlichkeit gross, in diesem Gebiet auf Ertrunkene und tote Personen zu stossen. Der Anspruch des CompassCollectives ist es, auch tote Menschen zu bergen. Es gibt viele Boote, die einfach verschwinden und nie wieder auftauchen. Die Angehörigen leben in der Ungewissheit, ob ihre Familienmitglieder überlebt haben. Bei unserem Einsatz haben wir keine Toten entdeckt. Trotzdem war es sehr real und hätte für mich bedeutet, die toten Körper aus dem Wasser zu ziehen. Dieses Wissen hat mir Angst gemacht und die Bilder würden mich wohl ein Leben lang begleiten. Meine Aufgabe war die des Kommunikators oder Fahrer des Beibootes. Als Kommunikator war die Hauptaufgabe, mit den Geflüchteten zu sprechen, beruhigend einzuwirken, um Panik zu verhindern und per Funk die Crew im Segelschiff zu informieren. Das war sehr schwer, ganz nah bei den verzweifelten Menschen zu sein, herauszufinden wie wir uns verständigen können und den Menschen klar zu machen: «Wir sind hier, um euch zu helfen, und wir bleiben bei euch, bis Hilfe in Form eines anderen Schiffes oder der italienischen Küstenwache kommt, aber wir können euch nicht auf unser Schiff holen.»

Hier zwei Beispiele

Wir entdeckten ein mit Geflüchteten überfülltes Boot, das mit kaputtem Motor in starker Schräglage und ohne Rettungswesten auf dem Meer trieb. Die Wellen spülten fortwährend Wasser ins Boot. Wir konnten die Menschen auf dem Boot mit Rettungswesten, Wasser und Essen versorgen, ihnen abgeschnittene Plastikwasserflaschen zum Wasser abschöpfen geben und ihnen versichern, dass wir die italienischen Behörden informiert haben und bis zum Eintreffen der Küstenwache von Lampedusa (etwa 7 Stunden!) bei ihnen bleiben würden. Bei einem anderen Boot mit zwanzig Geflüchteten, das sich bei hohem Wellengang und ohne funktionierenden Motor in einer sehr gefährlichen Lage befand, war unsere einzige Möglichkeit, die Menschen auf unser Schiff zu holen und nach Lampedusa zu bringen. Das bedeutete eine sehr lange Fahrt durch meterhohe Wellen. Wir mussten die Menschen anbinden, damit sie nicht vom Deck gespült wurden. Die Menschen waren sehr erschöpft, zwei Personen wurden ohnmächtig. Sie erzählten uns, dass sie seit vier Tagen und Nächten unterwegs waren und wegen der hohen Wellen nicht den direkten Kurs nehmen konnten. Sie hatten grosse Angst zu ertrinken.

Es zeigt sich für mich, dass auch ein kleines Segelschiff Sinn macht und helfen kann, dass einfach nur entscheidend ist, dass viele NGO-Schiffe in diesem Gebiet präsent sind. Denn wenn NGO-Schiffe Boote mit Geflüchteten in Seenot finden und Druck auf die Behörden machen, kommt es zur Rettung. Sonst ist es ungewiss. Es ist mir schwergefallen, nach drei Wochen wieder aufzuhören und mit meinem gewohnten Leben weiterzumachen, da die Situation auf dem Mittelmeer die Gleiche bleibt. Ich habe vor, in diesem Herbst wieder mit der Trotamar auf dem Mittelmeer unterwegs zu sein – trotz der Enge auf dem Schiff, trotz des oft starken Wellengangs und der Ungewissheit, was uns erwartet.

Till Hailer, Longo maï

CompassCollective

Das CompassCollective reiht sich ein in die Gemeinschaft der «civil fleet», der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer.

Sie wollen die Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer vor dem Tod durch Ertrinken oder Verdursten bewahren und ihre unmittelbare Not lindern. Sie informieren mit ihrer Arbeit und machen damit auf die Schicksale flüchtender Menschen und die humanitäre Katastrophe im Mittelmeer aufmerksam. Sie kritisieren die europäische Abschottungspolitik und halten Nationalstaaten und Grenzen für institutionalisierten Rassismus.

Ihr könnt ihre Arbeit auch finanziell unterstützen: Mehr Infos unter

www.compass-collective.org