NAHER OSTEN: Ein Brief aus dem Libanon

von Clara*, Buzuruna Juzuruna, Saadnayel, 06.05.2024, Veröffentlicht in Archipel 336

Im Februar 2024 erhielten wir diesen Brief aus dem Libanon von unserer Freundin Clara*. Inzwischen haben wir ihr geholfen, in Deutschland, der Schweiz und Frankreich einige Informationsveranstaltungen zu organisieren, durch die auch finanzielle Unterstützung zusammengekommen ist. Der Krieg ist heute noch näher an die Menschen von dort herangerückt.

Liebe Freundinnen und Freunde, jeden Tag werden im Südlibanon, an der Grenze zum besetzten Palästina, Bomben aus Israel geworfen, die Leben zerstören, aber auch ganze Dörfer, Hoffnungen, die Natur. Der Süden ist nämlich wunderschön, mit all den Olivenbäumen und dem Berg Hermon, der in der Ferne zu sehen ist; das ganze Leben hier wird zerstört.

Ich schreibe Euch aus der Bekaa Ebene im Libanon. Vielleicht wissen viele von Euch nicht, dass in den letzten Monaten 80.000 Menschen1 im Südlibanon, an der Grenze zu Israel, wegen der Bombardierungen in die Nachbarregionen und -dörfer ziehen mussten. Sie werden von Bekannten oder Freund·innen aufgenommen, andere werden in Gemeindezentren, Schulen oder Festsälen untergebracht. Dort warten sie darauf, zurückkehren zu können. Die Kinder gehen nicht mehr zur Schule, die Menschen können nicht mehr arbeiten, sich nicht mehr um ihr Land kümmern und auch nicht mehr das Olivenöl herstellen, das sie jährlich produzierten und das eine wichtige Einnahmequelle für sie war. Die israelische Besatzungsarmee hat mehr als 50.000 Olivenbäume zerstört und das Land durch die Bombardierungen mit Phosphor verseucht. Zurzeit ist Winter; es ist kalt und nass, die Grippe geht um, Husten, Müdigkeit... Es gibt kaum geheizte Räume, da es weder Elektrizität noch Bäume für Brennholz gibt, und Heizöl ist teuer, so dass Heizen ein knappes Gut ist. Die Krise ist allgegenwärtig und durch den Krieg und die schnelle Vertreibung der Bevölkerung ist es sehr kompliziert, in der Region Lebensmittel, Kleidung, Decken, Hygieneartikel für Babys, Kinder und Frauen zu finden. Die meisten Märkte und Supermärkte in der Nähe der Grenze sind geschlossen, da ihre Besitzer·innen Angst vor Bombenangriffen haben. Es ist also kaum möglich, die wichtigsten Dinge für den täglichen Bedarf zu finden. Wir von Buzuruna Juzuruna2 versuchen, die Menschen in der Region und auch die Leute von der Zivilverteidigung an der Grenze zu unterstützen. Die Zivilverteidigung ist eine Art «Feuerwehr», sie ist Teil der Regierung und hat nichts mit der Hisbollah oder einer anderen Miliz zu tun. Es ist eine partei- und religionsunabhängige libanesische Hilfsorganisation wie z.B. das Rote Kreuz.

Ihr alle kennt die Geschichte der Länder hier, die Besatzung, die Spannungen zwischen der Besatzungsarmee und der Hisbollah, die Kriege ... Jetzt sind wir wieder so weit: Tausende von Menschen wissen nicht, wohin sie gehen sollen. Wir befinden uns in einer verrückten Welt und heute ist das Einzige, was uns bleibt, aktiv zu sein und zusammenzuhalten. Einander zu helfen, vor allem denjenigen, die dringend Hilfe benötigen. Daher fragten wir unsere Freundinnen und Freunde vom Europäischen Bürger·innen Forum um Hilfe. Es geht in Moment nicht um ein bestimmtes Budget, sondern eher um eine dringende Hilfe, damit wir bedürftige Familien im Süden mit dem Nötigsten versorgen können. Eine erste finanzielle Unterstützung hat uns die Organisation bereits zugesagt. Mit dem Geld werden Produkte für die Menschen, die noch im Grenzgebiet sind, eingekauft. Haltbare Lebensmittel, Hygieneartikel und Decken werden an Familien und Einzelpersonen, die noch an der Grenze leben, verteilt, wo die Geschäfte geschlossen oder zerstört sind. Die Sachen werden von Freund·innen verteilt, mit denen wir in Verbindung stehen; sie fahren damit in den Süden direkt zu den Einwohner·innen. Sie versuchen, das Ausmass des Bedarfs zu ermitteln und angemessen darauf zu reagieren. Auf weitere Sicht möchten wir den jungen Menschen ermöglichen, trotz der Kriegssituation ihren Studien nachgehen zu können – das kostet Geld, welches im Moment nicht vorhanden ist. Auch den Kindern, die nicht mehr zur Schule gehen können, möchten wir ein Alternativprogramm anbieten. Zur Zeit ist es unmöglich zu ermessen, wie lange die Menschen Hilfe brauchen werden.

Im Südlibanon sind vorläufig keine grossen Hilfsorganisationen unterwegs. Die Menschen helfen sich untereinander. Es gibt eine grosse Solidarität, doch die Gegend an der Grenze ist ein gefährliches Gebiet. Die Menschen, die da zurzeit Hilfe leisten, sind zumeist persönlich motiviert. Hier ein paar Worte unseres libanesischen Freundes Tamir*, der solche Hilfslieferungen macht: «Hier im Libanon, insbesondere im Südlibanon, ist seit Beginn im Jahr 1948 der Nahostkonflikt sehr präsent; die Bevölkerung hier hat viel ertragen: Besatzung durch die syrische und die israelische Armee, ethnische Säuberungen der in diesem Gebiet lebenden Bevölkerung, Zerstörung unserer Verbindungen, unserer Zusammenarbeit, unserer gemeinsamen Geschichte und Zukunft, unserer Kulturen und Traditionen. Da ich zu den Vertriebenen gehöre und eine direkte Verbindung zum Süden habe, ist es mir wichtig, den Bedürftigen so stark wie möglich zu helfen.» Um über die schlimme Situation hier zu berichten und Menschen zu finden, die finanzielle Hilfe leisten können, mache ich mit einer libanesischen Freundin von Mitte März bis Mitte April eine Informationstournee durch Deutschland, die Schweiz und Frankreich. Vielleicht treffen wir uns bei dieser Gelegenheit.

Clara, Mitglied von Buzuruna Juzuruna, Saadnayel, Februar 2024Die Eigennamen wurden von der Redaktion geändert.

Zum Thema Libanon und dem Projekt von Buzuruna Juzuruna haben wir in den letzten Jahren mehrere Artikel in folgenden Nummern im Archipel veröffentlicht: 327, 319, 295 und 259.

  1. Inzwischen sind es weit über 90.000 Menschen, die flüchten mussten.
  2. Seit sechs Jahren betreibt das Team von Buzuruna Juzuruna (BJ), das aus Libanes·innen, syrischen Geflüchteten sowie Franzosen und Französinnen besteht, auf einem zwei Hektar grossen Bauernhof im Libanon (in Saadnayel in der Nähe von Zahlé) eine Vielzahl von Aktivitäten: Saatgutproduktion, Suche nach lokal angepassten Sorten, Verkauf von Gemüsekörben und Blumensträussen in Beirut, verschiedene Schulungen (Kompostherstellung, natürliche Behandlungsmethoden, Saatgutgewinnung), Unterstützung von syrischen Geflüchteten in Lagern, Aktivitäten für Kinder (u.a. Zirkus in einem Zelt), sowie einen Gemüsegarten in Saadnayel, der von rund zwanzig Familien bewirtschaftet wird. Ausserdem unterstützt es Initiativen in der bäuerlichen Landwirtschaft in Syrien. Die Leute von BJ sind eng mit den Bewegungen verbunden, die an der «Revolution» im Libanon beteiligt waren, welche im Oktober 2019 ausgebrochen war. Mehrere Monate lang wurden damals die Plätze in vielen Städten besetzt und unter anderem wurde die Frage der Ernährungsautonomie aufgeworfen.

Libanon - seine Geschichte seit der Unabhängitkeit*

Der Libanon ist mit rund zehntausend Quadratkilometern flächenmässig ungefähr ein Viertel so gross wie die Schweiz aber mit 667 Einwohner·innen pro Quadratkilometer dreimal so dicht bevölkert. Dieser schmale 220 km lange Streifen Land entlang der östlichen Mittelmeerküste zwischen Israel und Syrien stand von 1919 bis 1943 gemeinsam mit Syrien unter französischem Mandat, bis er seine staatliche Unabhängigkeit in allgemeinen Wahlen beschloss. Das Land hat seit seiner Gründung nur wenige friedliche Perioden erlebt und viele Libanes·innen haben ihr Land verlassen, das zum Spielball der verschiedenen Interessen im Nahen Osten geworden ist. In den 1950er Jahren flohen viele Palästinenser·innen in den Süden Libanons, bis die Palästinensische Befreiungsfront PLO 1970 ihre Kommandostruktur aus Palästina nach Beirut verlegte und vom Libanon aus zahlreiche Anschläge auf Israel verübte. 1970 kam es zum blutigen libanesischen Bürgerkrieg, der erst 1989 ein Ende fand. Israel marschierte 1982 mit Bodentruppen im Libanon ein, mit dem Ziel, die PLO aus dem Libanon zu vertreiben. Die PLO-Führung verlegte daraufhin ihr Quartier nach Tunesien, aber rund 500.000 Palästinenser·innen leben bis heute noch im Land. Ein Grossteil der libanesischen Bevölkerung floh aus dem bis 2020 von der israelischen Armee besetzten Südlibanon. Zurück bleibt eine 6 Meter hohe Mauer, die den Süden Libanons von den besetzten palästinensischen Gebieten trennt. Auch Syrien hatte seit 1975 ständig Truppen im Libanon stationiert und wurde erst mit der Zedernrevolution1 im Jahr 2005 gezwungen, diese aus dem Libanon ganz zurückzuziehen. Kurz darauf führte die militärische Niederschlagung der Protestbewegung in Syrien zu einem anhaltenden Flüchtlingsstrom in die Nachbarländer. Bereits im März 2013 waren offiziell rund 700.000 syrische Geflüchtete im Libanon; heute wird die Zahl auf 1,5 Millionen geschätzt. Diese schmerzhafte blutige Geschichte des kleinen Landes hat zum völligen Zerfall der staatlichen Strukturen geführt. Seit 2019 befindet sich das Land in einer schweren Wirtschaftskrise. Der libanesische Staat hat fast 90 Milliarden US-Dollar an Schulden angehäuft. Ein Drittel seiner Bevölkerung ist derzeit von Hunger bedroht. Aktuell hat der Libanon von allen Staaten der Welt den höchsten Anteil von Geflüchteten an der Gesamtbevölkerung.

  1. «Zedernrevolution» ist die Bezeichnung für die Serie von Demonstrationen der Zivilgesellschaft im Libanon, hauptsächlich in Beirut, die durch ein tödliches Attentat auf den ehemaligen libanesischen Premierminister Rafiq al-Hariri am 14. Februar 2005 ausgelöst worden war.