Ghassan Salamé ist ehemaliger libanesischer Kulturminister, Diplomat und emeritierter Universitätsprofessor mit Schwerpunkt internationale Beziehungen. Er hatte mehrere verantwortliche Funktionen innerhalb der Vereinten Nationen inne, vor allem im Irak und in Libyen, wo er unter sehr schwierigen Bedingungen als Vermittler tätig war. Bei seinem Aufenthalt in Marseille konnte Alex Robin von Radio Zinzine ein Interview mit ihm machen. Hier die Auszüge aus einem langen Interview mit ihnen, in welchem sie gemeinsam auf die Fragen antworten.
Radio Zinzine: Wie sehen Sie die aktuelle Entwicklung in ihrem Herkunftsland Libanon?
Ghassan Salamé: Natürlich ist man im Libanon besser ausgerüstet als in Gaza. In Gaza gibt es keinen Rechtsrahmen, auf den man sich beziehen kann; es gibt keine Äusserung der Israelis, was sie mit der Bevölkerung dort machen wollen; es gibt keine Vorbereitung der arabischen Länder betreffend einer zukünftigen Sicherheitsstruktur, es gibt gar nichts! Gaza ist ein grosses Fragezeichen, das, wie soll ich es sagen, jeden Tag unser Gewissen und unsere Herzen verletzt. Im Libanon gibt es zumindest einen Rahmen. Dieser Rahmen ist eine Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, die 2006 nach dem letzten grossen Krieg zwischen der Hisbollah und Israel verabschiedet wurde. Es handelt sich um die Resolution 1701, die einen breiten Rahmen darstellt, insbesondere Artikel 8, der ziemlich genau beschreibt, was die beiden Parteien tun müssten, um den Frieden wiederherzustellen. Nach allem, was insbesondere seit Mitte September 2024 (die Offensive der israelischen Armee gegen die Hisbollah, Anm. d. Red.) geschehen war, sind beide Seiten dazu übergegangen, die Anwendung dieser Resolution zu akzeptieren. Also versuchten wir es, – ich war persönlich daran beteiligt –, und noch im September wurde ein 21-tägiger Waffenstillstand anvisiert. Doch nur wenige Stunden, nachdem Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der Hisbollah, die Formel, die wir ihm vorgelegt hatten, akzeptiert hatte, wurde er von den Israelis einfach ermordet (am 27. September, Anm. d. Red.). Dieser erste Versuch hatte also zu nichts geführt. Es gab einen zweiten Versuch Mitte Oktober, der ebenfalls erfolglos blieb. Und jetzt gibt es einen dritten Versuch, der vielleicht bessere Chancen hat, zu einem 60-tägigen Waffenstillstand zu führen, währenddessen eine multilaterale Kommission, hauptsächlich aus dem Westen, Mechanismen zur Umsetzung dieser Resolution 1701 einrichten soll. Ich bin relativ optimistisch, was die Chancen für diesen dritten Versuch eines Deals angeht. Ich sage nicht, dass er garantiert ist. Aber wir haben einen Rahmen. Wir haben eine Ermüdung auf beiden Seiten, so dass man sich vorstellen kann, dass sie die Umsetzung akzeptieren. Es gibt also einen kleinen Unterschied zwischen Gaza und Libanon. (Am 27. November 2024 wurde dieser Waffenstillstand effektiv vereinbart, Anm. d. Red.).
Welche Einschätzung haben Sie von den möglichen territorialen Ansprüchen Israels in der Region?
Ich lasse den libanesischen Fall erst einmal beiseite, denn bis jetzt kennen wir keine israelischen Ansprüche auf den Südlibanon. Es gibt Interessen der Sicherheit, der Dominanz, der Kontrolle, jedoch keine Pläne, den Südlibanon zu annektieren oder zu bevölkern oder zu kolonisieren. Währenddessen befindet sich der eigentliche israelisch-palästinensische Konflikt in einem seiner akutesten Momente, in dem die Risiken einer Verschärfung dieses Konflikts in meinen Augen viel grösser sind als die Aussichten auf eine Lösung. Ich kann mir daher nicht vorstellen, dass es in den kommenden Monaten zu einer Rückkehr zu einem Friedensprozess kommen wird. Was ich mir aber leider vorstellen kann, ist die Eröffnung einer Front, die zur Hauptfront der Konfrontation zwischen Palästinensern und Israelis werden würde, nämlich die des Westjordanlandes. Denn dort laufen die Landenteignungen und die Schikanen gegen die Bevölkerung auf Hochtouren. Auch die Vorbereitungen auf eine Besiedlung und Annexion sowie mögliche Umsiedlungen eines Teils der Bevölkerung ins benachbarte Jordanien laufen auf Hochtouren. Die Situation ist explosiv, und wenn es hier explodiert und zur Annexion kommt, ist das nicht nur aus demografischer oder humanitärer Sicht, sondern auch aus politischer Sicht äusserst schlimm. Denn das Westjordanland ist für diejenigen, die weiterhin auf die Zwei-Staaten-Lösung drängen, das Herzstück eines möglichen palästinensischen Staates. Das wäre das Ende dieser Option und damit das Ende einer Option, welche den legitimen Rechten der Nation des palästinensischen Volkes Nachdruck verleihen würde.
Zu diesem Schluss komme ich angesichts der Ereignisse im Westjordanland, der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und vor allem auf Grund der Ernennung einer Reihe von sechs wichtigen Posten durch Herrn Trump, darunter die Nominierung von Steve Witkoff zum Sondergesandten für den Nahen Osten und diejenige von Mike Huckabee als neuen US-Botschafter in Israel. Die beiden sind Befürworter der Annexion des Westjordanlandes, und die anderen sind das auch. Insbesondere der neue amerikanische Aussenminister, Marco Rubio, oder der nationale Sicherheitsberater Mike Waltz. Das ist ein Team, das den israelischen Extremisten absolut wohlgesonnen ist. Ich befürchte also, dass der israelisch-palästinensische Konflikt in den kommenden Monaten durch noch schwierigere Zeiten als in der Vergangenheit gehen wird. Das bringt diejenigen, die nach einer Lösung für diesen nunmehr anderthalb Jahrhunderte dauernden Konflikt suchen, in grössere Verlegenheit als je zuvor.
Auch für die Europäische Union, die sogenannte internationale Gemeinschaft, ist diese Entwicklung unangenehm, denn schliesslich ist dieser schreckliche Konflikt wohl einer, auf den wir am meisten Einfluss nehmen könnten, zum Beispiel auf der Ebene der europäisch-israelischen Abkommen. Bezüglich anderer Konflikte versucht die EU ja auch zu intervenieren, wenn man zum Beispiel an die Situation der Uiguren in China denkt; Druck auf China auszuüben, ist natürlich noch ein ganz anderes Kapitel. Aber selbst Druck auf Russland auszuüben, ist vielleicht noch schwieriger, und doch tun wir es. Im Gegensatz dazu sind wir hier komplett machtlos gegenüber einer Situation, die wir beeinflussen könnten. Ist das nicht ein grosses Paradoxon?
Ich glaube, dass die Europäer zwei grosse Probleme haben, um aktive und effektive Akteure in diesem Konflikt zu sein. Der erste Faktor ist, dass Europa seit Camp David und auch Oslo lange Zeit akzeptiert hat, eine Rolle zu spielen, die nicht sehr valorisierend ist, nämlich die des Bankiers des Friedensprozesses, aber nicht die seines Architekten. Europa hat die Architektur den USA überlassen – auf Wunsch Israels, das keinen anderen Vermittler als die USA wollte. Als der Hafen von Gaza zum ersten Mal von den Israelis zerstört wurde, zahlte Europa für seinen Wiederaufbau, obwohl es für dessen ersten Bau bezahlt hatte. Dasselbe war für den Flughafen der Fall und für den Haushalt der in Ramallah angesiedelten Palästinensischen Behörde. Das heisst, Europa akzeptierte eine Rolle als Banker und nicht als Architekt. Ich denke, solange Europa nicht verlangt, bei der Architektur, d. h. der Gestaltung eines Friedensprozesses, dabei zu sein, wird es immer in der zweiten Reihe sein.
Der zweite Faktor, der im Laufe des Konflikts der letzten Monate aufgetreten ist, besagt, dass Europa jetzt über den Nahen Osten gespalten ist, was es vorher nicht war, was es 1980 in Venedig nicht war, was es in der klassischen Diplomatie der Europäischen Union nicht war, die, so gut es eben ging, von Josep Borrell, ihrem ständigen Vertreter, repräsentiert wurde. Doch die Länder selbst waren in dieser Frage gespalten. Es ist passiert, dass die Europäer, die auf den Nahen Osten blickten, anstatt den Nahen Osten mit offenen und analytischen Augen zu betrachten, sich auf ihre eigene Geschichte zurückzogen. Sie betrachteten den Nahen Osten also als eine innere europäische Angelegenheit. Das hat wenig mit dem Nahen Osten zu tun. Diese Art von Verwirrung zwischen der Geschichte des Nahen Ostens und der Geschichte des europäischen Kontinents, die wir jetzt erlebt haben, war verheerend für die Positionen von Ländern wie Deutschland, Österreich und anderen, und ja sogar von Frankreich. Das hatte zur Folge, dass jeder, der das durchaus kritikwürdige Verhalten der israelischen Regierung kritisierte, damit bedroht wurde, des Antisemitismus bezichtigt zu werden.
Wir haben also einen absolut surrealen Moment erlebt. Dazu nur als Beispiel: Einer jüdischen Journalistin russischer Herkunft, Masha Gessen, wurde ein Preis beinahe aberkannt, der in Deutschland im Namen der jüdischen Philosophin Hannah Arendt verliehen wird, nur weil sie über den Holocaust in Bezug auf Gaza gesprochen hatte.[1] Wohlgemerkt, sie ist Jüdin und es handelt sich um einen Preis im Namen einer grossen jüdischen Philosophin. Wenn man zu einer solchen Verkennung gelangt von dem, was wirklicher Antisemitismus ist, und zu einer solchen Verwirrung zwischen der Geschichte zweier Regionen, die relativ autonom voneinander sind, dann geht man sehr weit in die Irre.
Und dann weiss man nicht nur nicht, wie dieser Konflikt enden wird, der Gaza und Palästina betrifft, sondern man weiss auch nicht, was man vielleicht einmal für diese Art der Gleichgültigkeit oder der Anpassung an den Stärkeren bezahlen muss. Auf jeden Fall ist hier keine Suche nach einer Lösung erkennbar und auch keine Anstrengung, die Dinge beim Namen zu nennen.
Was uns teuer zu stehen kommen wird, haben wir bereits gesehen. Am Donnerstag, den 21. November 2024, sagte ein Teil der europäischen Staats- und Regierungschefs, dass sie die Entscheidung des Anklägers des Internationalen Strafgerichtshofs von Den Haag in Bezug auf die Anklage gegen Benjamin Netanjahu und Joaw Gallant[2] nicht respektieren würden. Am Tag darauf, am 22. November, sagte Dmitri Medwedew, der Klon von Herrn Putin, dass auch er den Internationalen Strafgerichtshof nicht anerkennen würde.
Hätte er diese Erklärung am Mittwoch vor der Netanjahu-Affäre abgegeben, wären alle Vertreterinnen und Vertreter des gesamten Westens auf die Barrikaden gestiegen und hätten gesagt: «Hey! Das geht gar nicht, das könnt Ihr nicht machen: Der Internationale Strafgerichtshof muss respektiert werden.» Das hatten sie bei Präsident Bashir aus dem Sudan getan, das hatten sie auch in anderen Fällen schon getan. Aber da sie selbst dem Gerichtshof an jenem Donnerstag in den Rücken gefallen waren, konnten sie Medwedew am Freitag nicht mit einem Nein antworten. Ich nehme diesen Vorfall zum Anlass, um zu behaupten, dass der Westen daran ist, seine Hauptargumente für die Verteidigung der Universalität seiner eigenen Werte zu verlieren. Wenn man eine Ausnahme für Israel macht, gibt es keinen Grund, warum man nicht auch eine für Putin machen sollte. Wenn man mit Ausnahmen anfängt, hört man nicht mehr damit auf. Es ist wie in der Grammatik. Wenn man mit einer Ausnahme anfängt, ist sie ansteckend. Also werden Europa und der ganze Westen teuer dafür bezahlen, wenn sie eine Ausnahme für Israel einführen.
Das ist wie eine der Schlussfolgerungen Ihres neuen Buches «La Tentation de Mars».[3] Wenn Sie sagen, dass sich der Westen nicht unbedingt im Niedergang befindet, so ist er aber in zunehmender Isolation. Und es stimmt, dass der Begriff eines doppelten Standards immer mehr in der Welt empfunden und ausgesprochen wird, und nicht nur in der Welt, sondern auch innerhalb unserer Gesellschaften.
Ich würde es sehr begrüssen, wenn es nur zweierlei Massstäbe gäbe. Es gibt jedoch inzwischen ein Vielfaches an Gewichtungen und Massstäben – und das für jeden Fall. Das heisst, es gibt kein Festhalten mehr an der Universalität von Werten. Das bedeutet, dass man Ausnahmen macht. Man sagt, in diesem Fall ist es nicht das Gleiche, in jenem Fall hat das Opfer Unrecht, etc.! Es werden immer Mittel und Wege zur Rechtfertigung gefunden. Was der Westen insbesondere verliert, ist das Prinzip der Beständigkeit. Wenn man bei der Anwendung von Gesetzen, Regeln und Verträgen nicht beständig ist, ruiniert man letztendlich das Prinzip der Regel selbst. Und der Westen verrät gerade seine eigene Beständigkeit. Und als Folge davon gibt es keine globale Architektur der Welt mehr, die er verteidigen könnte.
Masha Gessen kritisierte die israelischen Bombenangriffe auf den Gazastreifen als vergleichbar mit der Liquidierung eines osteuropäischen Ghettos durch die Nazis. Deshalb kam es zu einer Kontroverse um die Verleihung des «Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken» an sie. Nachdem die Verleihung zuerst abgesagt worden war, konnte sie den Preis dann doch in einer verkleinerten Zeremonie am 16. Dezember 2023 in Bremen entgegennehmen.
Gallant war von Dezember 2022 bis November 2024 Verteidigungsminister im Kabinett Netanjahu und wurde dann von Premierminister Netanjahu selbst entlassen.
Ghassan Salamé: «La Tentation de Mars – Guerre et paix au XXI siècle», Fayard, Paris 2024