PATRIARCHAT / FRAUENBEWEGUNG : Verkehrte Welt?

von Katja Heerkloss, Mediatorin, Wendland/ Berlin, 10.02.2020, Veröffentlicht in Archipel 289

Patriarchale Strukturen unterwerfen nicht nur die soziale Klasse der Frauen, sondern erhalten auch eine binäre, biologistische Ordnung der Geschlechter: mensch wird als Frau oder Mann geboren und hat sich «als solche/r» zu verhalten. Aber nicht alle Menschen können oder wollen mit der vorgeschriebenen Geschlechtsidentität leben. «Hallo, mein Name ist Katja. Ich bin das Pronomen ‘sie’ gewohnt, ‘er’ ist aber auch ok.» So oder so ähnlich stelle ich mich vor, wenn ich in Seminaren oder auf Treffen in einer Vorstellungsrunde sitze, in der es neben dem Namen auch um das Pronomen geht, also jede Person sagt, welches Pronomen sie für den Moment bevorzugt. Am Anfang hat mich das schwer irritiert. Es war neu für mich, dass es manchen Menschen offenbar als nötig erscheint, darüber zu sprechen. Ich habe mich immer als Frau, als die ich geboren bin, definiert und es war normal für mich als solche angesprochen zu werden. Ich habe noch nie so recht ins weibliche Rollenklischee gepasst und immer wieder gibt es irritierte Blicke auf dem Damenklo, weil ich aus den Augenwinkeln schnell mal als Mann gelesen, also wahrgenommen, werden kann. Ich hatte trotz allem nie Zweifel an meiner Geschlechtsidentität und auch nie den Wunsch, sie zu verändern. Ergo gab es für mich auch nie die Notwendigkeit, darüber zu sprechen, weil die Menschen um mich herum instinktiv das Pronomen ausgewählt hatten, mit dem ich mich auch wohl fühlte. Soweit so «normal». Nun gibt es aber ziemlich viele Personen, für die ist die Welt nicht annähernd so einfach wie für mich an dieser Stelle. Sie fühlen sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht wohl mit dem ihnen bei Geburt zugewiesenen Geschlecht oder grundsätzlich mit der Zuordnung zu einer der beiden Kategorien. Diese Realität ist nicht neu und mittlerweile auch in der breiten Gesellschaft angekommen. In Deutschland ist im letzten Jahr offiziell die dritte Option eingeführt worden. Das heisst, es ist seitdem möglich, auf die Frage männlich oder weiblich mit weder/noch oder auch «divers» zu antworten und auch bei Stellenanzeigen muss neben m/w auch noch d für divers stehen. Ein Anfang. Bis dahin war es ein weiter Weg und es ist auch noch ein gutes Stück Weg vor uns, bis die Realität diverser Geschlechter auch in den Köpfen und Herzen aller Menschen normal geworden ist.

Sich umstellen

Am Anfang hat mich die ganze Angelegenheit gestört. Ich fand es nervig, mich umstellen zu müssen, wenn ich mich daran gewöhnt hatte, eine Person als Frau oder Mann wahrzunehmen. Ich fand es affig und albern. Ich bin nicht stolz drauf. Jemand hatte an meiner Komfortzone gerüttelt. Inzwischen ist all das ziemlich alltäglich für mich, in meinem näheren Umfeld waren in den letzten zwei Jahren mehrere Personen, die mit ihrer Identität «gespielt» haben und mir dabei freundlich aber bestimmt Sachen beigebracht haben, dass sogar ich lernen konnte, dass mir ein bisschen Unbequemheit nicht schadet und dass es vielleicht einfach gerecht ist, wenn es auch mal für mich ein bisschen störend oder irritierend ist. Ja, es ist ungewohnt. Und auch ein bisschen unbequem. Denn es reisst mich aus meinen gewohnten Bahnen, da wo ich mich sicher fühle. Wir Menschen haben uns Kategorien für vieles ausgedacht, um Dinge, die uns begegnen, schnell einordnen zu können. Das gibt Sicherheit und ist in komplexen Situationen lebensnotwendig. Mann und Frau sind zwei solche Kategorien, mit denen wir versuchen, uns das Leben leichter zu machen. Aber sie funktionieren nicht für alle Menschen. Für manche ist es ständig unbequem, ständig werden sie dort eingeordnet, wo sie sich gar nicht wohl fühlen. Wenn ich auf dem Frauenklo kurz irritiert angeguckt werde, bekomme ich eine leise Ahnung davon, was das als Dauerzustand bedeuten muss. In welchem Verhältnis dazu steht der kurze Moment der Unsicherheit, der entsteht, wenn ich grad nicht genau weiss, wie ich jetzt umgehen soll mit einer Person, die sich diesen Kategorien entzieht. Aus Ungewohntem wird Gewohntes. Sprache bildet Realität. Und das ist für mich der zweite und vielleicht sogar wesentlichere Aspekt daran.

Schon als Kind

Vor allem von zwei Menschen habe ich in den letzten Jahren in dieser Hinsicht viel gelernt. Eine davon ist ein Kind, mit dem ich, seit es ein Jahr alt ist, zusammen lebe. Sie wurde Hannah genannt und hatte einen Zweitnamen, Mo. Sobald Hannah sprechen konnte, entschied sie sich für den Namen Mo. Mehrere Jahre gefühlt lief Mo vor allem in einem geschlechtsneutralen Fuchskostüm durch die Welt. Als ich letztes Jahr aus dem Urlaub zurückkam, hiess es, Mo sei jetzt ein Junge. Da war Mo gerade vier geworden. Aus meiner Beobachtung heraus ist es die Zeit, in der unausweichlich die als Mädchen sozialisierten Kinder anfangen rosa zu tragen und sich weniger zutrauen. Mo war, seit sie laufen konnte, unerschrocken und hatte Spass an waghalsigen Turnmanövern. Er hat mit dem Geschlechtswechsel den Weg in die Normalität gewählt. Spätestens mit vier oder fünf Jahren fängt es an, dass Mädchen, die sich etwas trauen, «cool, wild und anders» sind. Sie sind nicht «normal» sondern «besonders». In meinem Kopf jedenfalls ist das so: Mo wurde von einem coolen Mädchen zu einem Jungen, der sich verhielt wie Jungen sich verhalten – «normal». Super spannend! Ein paar Wochen später wechselte Mo den Namen, er hiess nun Jonathan. Die Zuordnung war dadurch noch eindeutiger. Nach etwas mehr als einem halben Jahr allerdings verkündete Jonathan, dass er nun wieder ein Mädchen sei. Die Begründung: als Junge kann sie keine Kleider tragen. Und tatsächlich hatte das Kind, aufgewachsen in einem aufgeklärten Umfeld, keine Rollenbilder zu sehen bekommen, in denen klar als Männer zu lesende Personen ganz selbstverständlich ein Kleid trugen. Inzwischen heisst Jonathan Ria. Und es wäre doch wirklich schön, finde ich, wenn Ria sich einfach als Person entwickeln könnte, ohne ständig zu fragen und gefragt zu werden, ob er denn nun ein Mädchen sei. Who cares? We care! Das Glück dieses Kindes ist oder war es vielleicht, in einer Umgebung aufzuwachsen, die diese Identitätswechsel gelassen begleitete. Ich glaube, dass der Widerstreit, der sich hier zeigt, in vielen Kindern und auch Erwachsenen stattfindet. Die Bewältigung aber besteht zumeist darin den «unnormalen» Impuls zu unterdrücken. Das Mädchen wird entweder Stück für Stück etwas vorsichtiger und mitfühlender werden, um dazu zu gehören, oder es wird Wege finden, mit dem Anderssein zu leben. Der Junge, der ein Kleid anziehen will, wird das mit fünf vielleicht mal dürfen, mit fünfzehn allerdings kriegt er massive Probleme, ausser er sortiert sich in eine andere Kategorie ein – eine auf der unausgesprochen «ALIEN» (=ausserirdisch) steht. Bis vor zwei Jahren dachte ich, dass ich an dieser Stelle aufgeklärt bin und alle Menschen zuerst als Menschen betrachte. Im Zusammenleben mit dem Kind habe ich gelernt, das dem nicht so ist. Denn das Kind hat einfach gehandelt. Alles weitere passierte in meinem Kopf.

Unbequem

Die zweite Person ist erwachsen und versteht sich als nicht-binär, also weder zu der einen noch zu der anderen Kategorie zugehörig, sondern manchmal so, manchmal so. Sie möchte darum auch abwechselnd mit dem Pronomen er oder sie angesprochen werden. Das ist wirklich herausfordernd für mich. Immer noch. Und ich finde es super spannend, mir dabei zuzusehen, wie sich mein inneres Bild von der Person ändert, je nachdem welches Pronomen ich ihr gebe. Zum Beispiel lasse ich ihr mackerhaftes, männlich-dominantes Redeverhalten viel eher durchgehen, wenn ich sie eine Weile mit weiblichen Attributen benannt habe. Dadurch dass Menschen in meinem Umfeld offen die Geschlechterrealität in Frage stellen und an meiner Komfortzone rütteln, ist mir vor allem eines bewusst geworden: Bloss weil ich an einer Stelle keinen Leidensdruck habe, kann es sein, dass andere Menschen Leidensdruck haben und ich daran mitwirke. Eine Erkenntnis, die sich immer einstellt, wenn privilegierte Personen sich ihrer Privilegien bewusst werden. Männer gegenüber Frauen oder Weisse gegenüber People of Colour. Und zum zweiten habe ich seitdem wahnsinnig viel gelernt über meine Bilder, meine Zuordnungen, meine Stereotype, meine Wertungen. Ich habe viel gelernt über meinen Wunsch nach Klarheiten, über den Wert von Schubladen und über den Wert, Dinge in Frage zu stellen. Mein Leben ist dadurch um einiges reicher geworden und meine Komfortzone hat sich um Meilen verbreitert.