Die humanitäre Krise, die wir seit drei Monaten an der polnisch-weissrussischen Grenze (sowie an der weissrussischen zu Lettland und Litauen) erleben, ist beispiellos in Europa. Das belarussische Regime orchestriert die Migration als Mittel, um sich an der EU – und auch an Polen – zu rächen. Die Gruppe Granica* hat einen Bericht über die Lage der Migrant⸱inn⸱en im Grenzgebiet verfasst, sie stellt ihn selbst vor:
Wir möchten betonen, dass das, was sich an der Grenze zwischen Polen und Belarus abspielt, keine „Migrationskrise“ ist. Die Situation wurde nicht durch Krieg, eine Naturkatastrophe oder plötzliche Machtverschiebung hervorgerufen. Das belarussische Regime brachte die Menschen in das Grenzgebiet, um Verwirrung zu stiften und um innerhalb der polnischen Gesellschaft eine Polarisierung zu erzeugen. Aus dieser Perspektive können wir sagen, dass der weissrussische Präsident Alexander Lukaschenko sein Ziel erreicht hat – die polnische Bevölkerung war noch nie so gespalten.
Es handelt sich also ausdrücklich nicht um eine Migrationskrise – solche Krisen betreffen in der Regel Millionen von Menschen. Hier sind es nur ein paar tausend, die an die polnische Grenze gebracht wurden, das entspricht in etwa zwei ausgebuchten Sälen eines grossen Theaters – oder den VIP-Plätzen des nationalen Sportstadions. Was hier geschieht, übersteigt nicht die Möglichkeiten und Ressourcen unseres Landes, um diesen Menschen aus der Not zu helfen. Die belarussischen Behörden haben es jedoch ohne Weiteres geschafft, die polnische Regierung zu einer Reihe von radikalen Schritten zu bewegen: Einführung des Ausnahmezustandes, Einschränkung der Medienfreiheit, Verbot für Aktivist⸱inn⸱en, das Grenzgebiet zu betreten – ohne Ausnahme für diejenigen, die medizinische und humanitäre Hilfe leisten. Die polnische Gesetzgebung wurde geändert, wodurch die Menschenrechte und die Standards zum Schutz des menschlichen Lebens schwer beeinträchtigt werden.
Nach dem Zustrom einer grossen Anzahl von Migrant⸱inn⸱en nach Europa zwischen 2014 und 2016 ist der Umgang mit migrationsbezogenen Fragen besonders schwierig geworden. Sie führen häufig zu hitzigen Diskussionen und polarisieren die Gesellschaft. Diese Tatsache nutzt Alexander Lukaschenko aus. (…) Die belarussischen Behörden haben sich wie ein gut organisiertes Netzwerk von Schleppern verhalten. Sie nutzten auf zynische Weise die Pathologien des europäischen Visasystems aus, in dem die meisten Menschen, die einen sicheren Zufluchtsort oder eine Familienzusammenführung suchen, kein Visum für die EU-Länder erhalten. Lukaschenko lockte die Migrant⸱inn⸱en mit dem Versprechen eines einfachen und sicheren Zugangs zu Europa in eine teils tödliche Falle. Ab dem Moment ihrer Ankunft wurden sie mit brutaler Gewalt behandelt und dann gezwungen, die EU-Aussengrenze an unerlaubten Orten zu überqueren. Man brachte sie vorsätzlich in lebens- und gesundheitsgefährdende Situationen und verwehrte ihnen den Zugang zu Wasser, Nahrung und anderen Grundbedürfnissen.
Die Regierung Weissrusslands behauptet, dass diese Migration spontan sei und dass die Behörden lediglich aufgehört hätten, Migrant⸱inn⸱en daran zu hindern, westwärts über belarussisches Gebiet zu ziehen. Diese Behauptung ist schlichtweg falsch. Es gibt bestimmte Fluggesellschaften, von denen bekannt ist, dass sie Flüchtende nach Belarus bringen – eine Praxis, die erst jetzt eingedämmt wurde. In diesem Zusammenhang wird klar, dass es keine Migrationskrise an der der polnisch-weissrussischen Grenze gibt. Die derzeitige dramatische Situation der Menschen, die in den Wäldern im Niemandsland an der Grenze gestrandet sind, ist eine humanitäre Krise. Sie ist das Ergebnis einer Strategie, welche die polnische Regierung als Reaktion auf Lukaschenkos Vorgehen beschlossen hat. Sie betrifft die Migrant⸱inn⸱en, welche bereits die polnische Grenze überquert haben. Es geht darum, diese Menschen so schnell wie möglich und um jeden Preis nach Belarus zurückzuschieben.
Angesichts der Beschaffenheit des Geländes (dichte Wälder, Sümpfe und Flüsse) und der Tatsache, dass die Temperaturen derzeit häufig unter Null fallen, ist diese Strategie nicht voll aufgegangen. Dies ist eine klare Schlussfolgerung einerseits durch die vom Grenzschutz veröffentlichten Daten über die Anzahl der Personen, die nach dem Grenzübertritt festgenommen (und zurückgeschoben) wurden, und andererseits durch Informationen über Migrant⸱inn⸱en, die nach einer irregulären Einreise später an der polnisch-deutschen Grenze aufgehalten wurden.
Die polnischen Behörden haben sich auf die Auswirkungen der belarussischen Strategie konzentriert, anstatt über die Ursachen nachzudenken. Dies hat dazu geführt, dass sich die polnischen Behörden in einen erbitterten Showdown mit den belarussischen Behörden verwickelt haben, bei dem Menschenleben auf dem Spiel stehen. Polen hat alle Standards aufgegeben: die Respektierung der Menschenrechte, den Schutz der Geflüchteten und die Grundsätze der Menschlichkeit. Auch wenn die Situation an der Grenze von der belarussischen Regierung inszeniert wurde, ist sie genauso das Ergebnis von Entscheidungen der polnischen Politiker⸱innen.
Aus Sicht der Migrant⸱inn⸱en sind die Massnahmen der polnischen und belarussischen Behörden fast identisch: Beide respektieren weder ihre Würde noch ihre Rechte. Menschen, welche die Grenze passieren, werden von den polnischen Beamten angehalten und gewaltsam auf die weissrussische Seite zurückgedrängt, wo sie von den belarussischen Grenzschutzbeamten wieder brutal in Richtung Polen gezwungen werden. Selbst diejenigen, die inzwischen erkannt haben, dass sie in der Falle sitzen und in ihre Herkunftsländer zurückkehren möchten, können dies nicht tun.
Das Vorgehen der Beamten beider Länder hat zur Folge, dass die Migrant⸱inn⸱en wochenlang in den Wäldern nahe der Grenze in der Kälte und im Regen, ohne Nahrung, sauberem Wasser und medizinischer Versorgung ausharren müssen.
Die von Belarus verfolgte Politik richtet sich gegen die Europäische Union, obwohl im Mittelpunkt des Geschehens vor allem diejenigen Länder stehen, die eine gemeinsame Grenze mit Weissrussland haben, nämlich Polen, Litauen und Lettland. Die Rolle Deutschlands wird jedoch immer wichtiger, da diejenigen, die aus der Blockade an der Grenze ausbrechen konnten, nach Deutschland kommen. Bis Ende Oktober 2021 haben fast 9000 Menschen Deutschland über Weissrussland und Polen erreicht.
Unser Bericht konzentriert sich auf die Situation von Migrant⸱inn⸱en in der polnisch-weissrussischen Grenzregion. Er basiert auf Informationen von Aktivist⸱inn⸱en der Grupa Granica (GG), die seit Mitte August 2021 im Grenzgebiet tätig ist, um den Schutzsuchenden humanitäre Hilfe zu leisten und sie beim Zugang zu relevanten Rechtsverfahren zu unterstützen, mit dem zusätzlichen Ziel, die Rechts- und Menschenrechtsverletzungen zu überwachen und zu dokumentieren. In dem Bericht werden verschiedene Daten präsentiert. Einige sind Informationen des polnischen Grenzschutzes, die wir versuchen zu interpretieren und zu erklären. Wir haben auch Daten verwendet, die wir während der Feldarbeit direkt von Migrant⸱inn⸱en, Aktivist⸱inn⸱en und Bewohner⸱inne⸱n der Grenzgebiete sowie von Vertreter⸱inn⸱en verschiedener Hilfsinitiativen, die Teil von Granica sind, und von anderen Organisationen erhalten haben.
Wir verwenden den Begriff „Zwangsmigrant⸱inn⸱en“ für Personen, die an der Grenze festsitzen. Dies ist unserer Ansicht nach am besten geeignet, die Situation von Migrant⸱inn⸱en zu beschreiben deren Rechtsstatus bisher nicht geklärt werden konnte, weil in den meisten Fällen kein rechtliches Verfahren eingeleitet wurde. Wir möchten auch betonen, dass diese Menschen derzeit nicht frei sind, ihre Migrationswege zu wählen – sie wissen nicht, ob und wo sie die EU-Grenze überschreiten können, ob sie nach Belarus zurückgeschickt werden oder in ihr Herkunftsland zurückkehren müssen. All diese Entscheidungen werden von den Behörden verschiedener Länder getroffen, und die Migrant_inne_en selbst werden entmenschlicht und als Objekte wie Schachfiguren behandelt.
Ausserdem müssen wir die soziale und politische Situation in den Herkunftsländern der derzeit im polnisch-weissrussischen Grenzgebiet gestrandeten Menschen betrachten. Zu diesen Ländern gehören der Irak, Syrien, Afghanistan, Jemen, Somalia und der Iran. Sehr wahrscheinlich haben die Meisten von diesen Menschen gute Gründe, internationalen Schutz in der EU zu beantragen.
In unserem Bericht verwenden wir auch den Begriff „Abschiebung“ (poln. Wywózka) – so wollen wir die tatsächlichen Handlungen der polnischen Behörden bezeichnen. Obwohl der englische Begriff „push-back“ in diesem Zusammenhang verwendet wurde, sind wir der Ansicht, dass wir hier Zeug⸱inn⸱en von etwas wesentlich Schlimmerem sind, nämlich von massenhaften gewalttätigen und illegalen Abschiebungen dieser Menschen.
Grupa Granica
- Die Grupa Granica ist ein Zusammenschluss verschiedener NGO in Polen, die sich für die Belange von Geflüchteten einsetzen und an der polnisch-belarussischen Grenze aktiv ist – und dies entgegen aller Widerstände der Behörden. Inzwischen ist die Berichterstattung in den grossen Medien abgeflaut. Es stimmt, dass weniger Migrantinnen kommen, das heisst aber nicht, dass das Problem gelöst ist.
Die Arbeit an der belarussisch-polnischen Grenze
In dem Bericht der Grupa Granica werden chronologisch die Ereignisse an der polnisch-weissrussichen Grenze und ihr politischer Kontext sowie einzelne Schicksale seit Anfang Juli 2021 beschrieben. Die Arbeit von Granica und anderer Hilfsorganisationen wird dargestellt sowie die gesamte Situation an der Grenze, auch mithilfe von kartographischen Bildern. Sie können den Bericht (auf Englisch) bestellen bei: Europäisches BürgerInnen Forum (EBF), Postfach, CH-4001 Basel oder per Mail: ch@forumcivique.org. Das EBF hat Granica kürzlich finanziell unterstützt und kann Spenden an die Gruppe weiterleiten.