Frankreich weist auf eine lange historische Tradition rassistischer Praxis (der Diskriminierung oder Hierarchisierung zwischen Menschengruppen) und Theoriebildung zurück. Alles andere wäre erstaunlich, blickt das Land doch, neben einer lange Kette sozialer Widerstände und demokratischer Bewegungen, auch auf eine Geschichte kolonialer Eroberungen, des Sklavenhandels (1) und der Bekämpfung antikolonialer Aufstände zurück.
Rassistische Inhalte kristallisierten sich im politischen Raum in Frankreich im letzten guten Vierteljahrhundert vor allem rund um die Präsenz des Islam, oder die als Muslime wahrgenommenen Menschen im öffentlichen Raum oder generell im Land. Auch Jean-Marie Le Pen, ebenso wie seine Tochter und politische Nachfolgerin Marine Le Pen, betrieben Politik damit; jedoch beileibe nicht nur sie. Dabei verschoben sich zum Teil die Angriffswinkel in ihrer Argumentation, denn dort, wo Jean-Marie Le Pen das katholische Abendland und seine Traditionen verteidigte, gibt sich seine Tochter – die eher wenig an religiösen Werten interessiert scheint und dafür auch aus anderen Teilen der (extremen und konservativen) Rech-ten kritisiert wird – weitaus eher als Vorkämpferin der Säkularisierung und französischen Laizität (laicïté), ja selbst als Verfechterin der Rechte von Homosexuellen und Juden durch deren „Bedrohung durch islamische Einwanderer“.
Dabei überlappten sich in jüngerer Zeit auf der politischen Rechten drei unterschiedliche Argumentationsmuster rund um das Thema „Islam“. Da wäre erstens ein aus kolonialer Tradition stammendes Herangehen, das nichts gegen die Präsenz muslimischer Menschen auf einem gemeinsamen Territorium einzuwenden hat, sofern (aber nur sofern) diese ihre Unterordnung akzeptieren und die systematische Überlegenheit der mal eher als christlich, mal eher als laizistische definierten „französischen Zivilisation“ hinnehmen. Zum Zweiten trifft man auf einen Diskurs, der den Islam als Feind und historischen Gegenspieler wahrnimmt, dessen Präsenz – über die Anwesenheit von sich zu dieser Religion bekennenden Menschen in Frankreich und Europa – mindestens enge Grenzen zu setzen seien. Er geht oft mit der Beschwörung von Ängsten und Bedrohungsszenarien über Immigration, „Invasion“ und Überschwemmung einher.
Und noch ein drittes Argumentationsmuster kann man innerhalb des ideologischen Felds der Rechten ausmachen: Es beschwört einen „Respekt aller kulturellen Identitäten“ und ihre „Gleichwertigkeit“ bei gleichzeitigem striktem Vermischungsverbot im Namen eines so genannten Ethno-Pluralismus. Das Konzept wurde in den 1970er und 1980er Jahren durch den Schriftsteller Alain de Benoist geprägt – die Gallionsfigur der damals so bezeichneten „Nouvelle Droite“ (Neue Rechte), ein Begriff, der in Frankreich anders als in Deutschland nicht beliebig auf irgendwelche an Einfluss gewinnenden rechten Gruppen angewendet wird, sondern eine Strömung mit sehr spezifischen Inhalten bezeichnet. In bestimmten Phasen machte auch ein Jean-Marie Le Pen – der sich wahlweise und abwechselnd bei allen drei Diskurssträngen bediente, je nach politischem Bedarf des Augenblicks – dabei Anleihen. So traf er im August 1997 an der Ägäis auf eigenen Wunsch mit dem soeben gestürzten, islamistischen türkischen Ex-Premierminister Necmettin Erbakan zusammen und begriff ihn dabei als Vorkämpfer gegen die Vermischung der Kulturen, in dem Sinne, wie auch die „Nouvelle Droite“ mitunter das Aufkommen des politischen Islam als „Erwachen des Wunschs nach Wiederaneignung kultureller Identität“ begrüsste. Dies hinderte denselben Le Pen (senior) nicht daran, in anderen Momenten „den“ Islam in düsteren Farben als Bedrohung für das Abendland auszumalen. Um Kohärenz war er nicht unbedingt bemüht – die Ideologen, die ihm die Stichworte im einen oder anderen Zusammenhang lieferten, hingegen schon. (...)
Der ethnisierende Blick
Ein weiterer, in rassistischen Diskursen üblicher Argumentationsstrang widerspiegelt die zugleich räumliche, soziale und herkunftsbezogene Segregation von Bevölkerungsgruppen in Frankreich. Diese existiert faktisch, nicht jedoch auf juristischer Ebene; am 20. Januar 2015 meinte der damalige – sonst nicht gerade als Kritiker sozialer Ungleichheiten, sondern eher als rechter Flügelmann seiner Partei bekannte – sozialdemokratische Premierminister Manuel Valls etwas unerwartet in einer Ansprache: „Eine territoriale, soziale, ethnische Apartheid hat sich in unserem Land durchgesetzt.“ Die Benutzung des Begriffs „Apartheid“, die damals frappierte, ist dabei in der Sache falsch: Es besteht kein Regelwerk von Gesetzen oder Verordnungen, die explizit rassistische Trennungen zwischen Bevölkerungsgruppen vorschreiben. In langjährigen Prozessen wurden jedoch seit der Industrialisierung in Frankreich (die später einsetzte als in Deutschland) „Risikobevölkerungen“ – also zunächst die Industriearbeiterschaft – in besonderen Zonen angesiedelt. Und diese waren in den wichtigsten urbanen Ballungsräumen weder Arbeiterviertel innerhalb der Städte noch ländliche Kommunen, sondern Wohngebiete in einem dritten Raum zwischen städtischen Zentren und Land, den man als „banlieues“ bezeichnete, nach den früheren „Bannmeilen“ rund um die Grossstädte im ausgehenden Mittelalter. Im Unterschied zu US-Grossstädten bestehen in Frankreich keine explizit „ethnisch“ defi-nierten Wohnviertel, vergleichbar mit dortigen „Schwarzenghettos“ und anderen räumlichen Einheiten. Überall in Frankreichs Unterschichtsvierteln – in denen die früher dominierende Industriearbeiterschaft weitgehend durch prekär Beschäftigte, Scheinselbständige und Arbeitslose abgelöst wurde – trifft man nicht auf eine dominierende, abstammungsdefinierte Gruppe, sondern auf eine durchmischte Bevölkerung, zu der „Herkunftsfranzösinnen und -franzosen“ ebenso zählen wie Einwanderergruppen aus den früheren französischen Kolonien und andere Bevölkerungsteile mit Migrationshintergrund. In der Wahrnehmung von aus-serhalb (…) jedoch dominiert deren Dar- und Vorstellung als „Wohnorte von Araber·inne·n und Afrikaner·innen“ und „islamisch geprägte Gebiete“.
Damit korrespondiert eine soziale Realität, die durch die Häufung von Problemfaktoren wie Armut, Prekarität, erlittene Diskriminierung und parallel dazu durch einen Anstieg der Häufigkeit von Spannungen und Gewalttätigkeiten aller Art geprägt ist. Der Blick von aussen, also aus der Mehrheitsgesellschaft auf die „Problemzonen“, wirkt dabei wie ein Brennglas, durch das hindurch die auch anderswo wirkenden gesellschaftlichen Verwerfungserscheinungen und sozialen Spannungen wahrgenommen – und zugleich oftmals „ethnisierend“ – interpretiert werden. In dieser Aussenwahrnehmung wird die Zusammenballung von Prob-lemen mit oftmals sozialen Ursachen dann als Ausdruck des gewaltaffinen, kriminogenen, potenziell gefährlichen Charakters bestimmter Bevölkerungsgruppen übersetzt, ja mitunter als Konsequenz eines „Kampfs der Kulturen“ interpretiert.
Umvolkungs-Ideologie
Auf den Punkt brachte dies der damals als Schriftsteller und Starjournalist bekannte, seit dem 30. November 2021 nunmehr erklärter französischer Präsidentschaftskandidat für die Wahlen im April 2022 – ein parteiloser Vertreter der extremen Rechten – Eric Zemmour. Am letzten Augustwochenende 2021 erklärte er bei einem Auftritt in Aix-en-Provence, es handle sich bei all den (in den „banlieues“ tatsächlich mittlerweile stark verankerten) Gewaltphänomenen sowie deren Auswüchsen und Auswirkungen „nicht um Kriminalität“ – keineswegs, vielmehr gehorchten sie alle einem übergeordneten Plan, den er als „Jihad“ auf den Punkt bringt. Ziel sei es, einen Bevölkerungsaustausch herbeizuführen und die weiss-christlich geprägten Bevölkerungsanteile durch Einschüchterung und Unterminierung der Werte aus ihren angestammten Territorien zu vertreiben.
Dieses „grand remplacement“, also der „grosse Bevölkerungsaustausch“, soll ein angeblich durch Teile der Eliten planmässig verfolgtes Projekt zur Unterminierung der angestammten Nationen, ungefähr im Sinne des früher durch Völkische und Nationalsozialisten in Deutsch-land vertretene Konzept der „Umvolkung“ sein. Geprägt hat diesen Begriff zunächst der Schriftsteller Renaud Camus. Er wurde im April 2000 wegen antisemitischer Buchpassagen und später (in zweiter Instanz 2015) wegen hetzerischer Äusserungen auf einer Anti-Islam-Konferenz im Dezember 2010 in Paris gerichtlich verurteilt. Das letztgenannte Urteil be-trifft eine Redepassage, in der Camus so wie elf Jahre später Zemmour erklärte, bei den Straftaten in sozialen Brennpunkten in Frankreich handle es sich nicht um (Alltags-)Kriminalität, sondern um einen, einer Gesamtplanung gehorchenden jihadistischen Angriff. Derselbe Begriff wird später im englischsprachigen Raum – unter anderem durch den Atten-täter von Christchurch vom März 2019, Brenton Tarrant – als „great replacement“ über-nommen.
Aber auch Teile der französischen Konservativen haben sich ideologisch radikalisiert. (...) Eric Ciotti, Abgeordneter der LR (Les Républicains) in Nizza, der sich gerne als Präsident-schaftskandidat präsentiert hätte, dafür jedoch nicht genug Stimmen innerhalb seiner Partei bekommen hat, ist ein Duzfreund des „Radikalisierten“ Eric Zemmour (so lautet der Titel eines Buches über ihn: „Le radicalisé“ von Etienne Girard). Er nimmt ebenfalls den Begriff des „grand remplacement“ in den Mund und kündigte an, im Falle einer Stichwahl zwischen Amtsinhaber Emmanuel Macron und dem Rechtsextremen würde er für Zemmour stimmen.
Programmatisch hat Zemmour ausser viel nationaler Lyrik bislang schlichtweg nichts anzu-bieten, was seine Anhänger·innenschaft nicht zu stören scheint – er selbst redet sich darauf hinaus, er sei nicht Kandidat für ein Fachministerium, sondern er sei für das grosse Ganze zuständig. Lediglich bei den geforderten drastischen Verschärfungen im Ausländerrecht wurde er in seiner anderthalbstündigen Rede konkret. Dabei geht es um Vorschläge, von denen viele längst durch Le Pens Partei „Rassemblement National“ (RN) bekannt waren.
Bernard Schmid, Anwalt, Paris
- Der Sklavenhandel in Frankreich wurde 1685 durch ein eigenes Gesetzbuch in Gestalt des „Code Noir“ akribisch geregelt, 1794 erstmals und 1848 zum zweiten Mal abgeschafft.
KASTEN Rechtsextrem und Präsidentschaftskandidat Eric Zemmour ist nicht nur rassistisch, islamophob und antisemitisch; er ist auch extrem frauenfeindlich. Hier einige seiner misogynen Zitate:
- „Die Menschen sind sehr primitiv. Wir haben ein archaisches, reptilienartiges Gehirn, und das muss man berücksichtigen. Wenn wir das leugnen, schaffen wir Generationen von Impotenten, Homosexuellen und Geschiedenen.“
- „In einer traditionellen Gesellschaft geht der sexuelle Appetit der Männer mit Macht einher. Frauen sind das Ziel und die Beute eines jeden begabten Mannes.“
- „Es ist eine Katastrophe für die Gesellschaft, wenn die weiblichen Werte dominieren.“
- „Frauen haben eine andere Form der Intelligenz als Männer. Und die grössten Genies sind Männer. Ich weiss, dass man das nicht sagen darf, aber es ist die Wahrheit.“