GESTERN - HEUTE - MORGEN: Oasen des Friedens schaffen

von Raymond Gétaz, EBF Schweiz, 15.05.2025, Veröffentlicht in Archipel 347

Im Dezember 1992 gründeten 40 Schweizer Gemeinden die Initiative «Gemeinden Gemeinsam», um Partnerschaften zwischen Gemeinden im ehemaligen Jugoslawien und in der Schweiz aufzubauen. Ziel war es, die Gemeinden zu unterstützen, die sich für die Verteidigung der Menschenrechte und gegen den Krieg einsetzten.

Mit dem Zerfall Jugoslawiens 1992 sind in Europa Kriege ausgebrochen – eine Vorstellung, die mit der Einigung Europas als überholt, sogar unmöglich erschienen war. Europa präsentierte sich als «zivilisierter» Raum. Zahlreich waren die internationalen Konventionen und Abkommen, die nach dem Zweiten Weltkrieg unterzeichnet worden waren – der Zusammenschluss der Staaten zur Organisation der Vereinten Nationen 1945, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948, die Genfer Konventionen 1949, die Europäische Menschenrechtskonvention 1950, die Flüchtlingskonvention 1951. Sie liessen glauben, dass wir, zumindest in Westeuropa, die Barbarei hinter uns gelassen hatten und der Weg zu einer Periode dauerhaften Friedens geebnet war. Ein Trugbild – setzte sich doch die Unmenschlichkeit das ganze 20. Jahrhundert über fort. Sie wurde in die «kolonisierten» Länder exportiert und führte zu Kriegen in Vietnam, im Nahen Osten, in Algerien und anderswo auf der Welt. Der Aufstieg Gorbatschows in der UdSSR und in der Folge der «Mauerfall» weckten die Hoffnung auf ein Ende des Kalten Krieges, der die Beziehungen zwischen der sogenannten «kapitalistischen» und der «kommunistischen» Welt belastete.

Der Krieg vor unserer Haustür hat uns dann kalt erwischt. Wie konnten wir auf diesen Albtraum reagieren, um nicht in eine Depression zu verfallen? Das Europäische Bürger:innen Forum (EBF) pflegte schon lange vor dem Krieg zahlreiche Freundschaften mit Menschen in Jugoslawien, insbesondere durch die Teilnahme Einiger von uns an mehreren Jugendlagern in den 1980er Jahren in Jugoslawien und an den internationalen EBF-Treffen in der Provence. Das EBF lancierte daraufhin mehrere Initiativen zur Unterstützung von Bürger·innenbewegungen, die sich für Frieden im ehemaligen Jugoslawien einsetzten: Gründung einer «Jugoslawien-Konferenz», Delegationen mit Vertreter·innen der verschiedenen Kirchen ins ehemalige Jugoslawien, Aufbau eines Journalist·innennetzwerks zwischen den verschiedenen Republiken Ex-Jugoslawiens (AIM), Aufruf zur Unterstützung und Aufnahme von Kriegsdeserteuren in europäischen Ländern. In der Schweiz lud das EBF zu einer Tagung in Delémont ein, die unter dem Patronat des Stadtpräsidenten Jaques Stadelmann stattfand. Ein wichtiger Beitrag kam von Paul Hermant von «Causes Communes Belge», das kurz zuvor von zahlreichen Gemeinden gegründet worden war, um Partnerschaften zwischen Gemeinden in Belgien und in Ex-Jugoslawien aufzubauen. In Belgien, wie in vielen anderen europäischen Ländern, wollten «einfache» Bürger·innen auf die katastrophalen Auswirkungen des Krieges reagieren. Es fehlte jedoch eine geeignete Struktur, um diese guten Absichten umzusetzen.

Austausch und Unterstützung

So entstand die Idee, dass Bürger·innen ihre Gemeinden als nächststehende politische Instanz mobilisieren, um ihren Einsatzwillen zu bündeln. Diese Idee überzeugte auch an der EBF-Tagung und es wurde ein Initiativkomitee zur Gründung von «Gemeinden Gemeinsam Schweiz» (GGS) gebildet. Das Komitee lud die Schweizer Gemeinden zu einer «Tagsatzung der Gemeinden zur Lage im ehemaligen Jugoslawien» ein. Im Dezember 1992 wurde GGS von Vertreter·innen von rund 40 Schweizer Gemeinden offiziell gegründet. In Begleitung von Milo Petrovic, Soziologe aus Belgrad, bereiste daraufhin eine GGS-Delegation mehrere ex-jugoslawische Republiken, um Gemeinden zu identifizieren, die sich für die Verteidigung der Menschenrechte und gegen den Krieg einsetzten. In der Folge konnten über 150 Schweizer Gemeinden, zusammengefasst in 19 Regionalkomitees, Partnerschaften mit ex-jugoslawischen Gemeinden aufbauen. Dutzende von Gemeinde-Delegationen, oft finanziert von den beteiligten Freiwilligen, setzten daraufhin ihre Bereitschaft zum Austausch und zur Unterstützung der Zivilgesellschaft in den Partnergemeinden in die Tat um. Und meist war es Milo, der sie mit seinem Übersetzungstalent begleitete, sowohl bei den Begegnungen im ehemaligen Jugoslawien als auch in der Schweiz. Neben der unmittelbaren humanitären Hilfe für die von den ex-jugoslawischen Gemeinden aufgenommenen Flüchtlinge konzentrierten sich die Partnerschaften vor allem auf den Austausch in Bildung, Kultur, Sport, Gesundheit und in anderen Bereichen. Aus diesen Gemeindepartnerschaften, auf beiden Seiten von Freiwilligen getragen, entstanden manche Freundschaften und Verbindungen, die bis heute andauern.

Heute herrscht erneut Krieg vor unserer Haustür, in der Ukraine, im Libanon, in Palästina. Die nach dem Zweiten Weltkrieg unterzeichneten Abkommen werden mit Füssen getreten, eines nach dem anderen. Nationalstaaten führen Krieg im Namen des Volkes. Aber wie im ehemaligen Jugoslawien ist es nicht das Volk, das diese Kriege will. Meist sind es wirtschaftliche oder politische Interessen ehrgeiziger Führer, die den Konflikten zugrunde liegen. Was können wir als Bürger·innen also tun? An die Einhaltung der Konventionen der Nachkriegsjahre appellieren? Oder überlegen, wie wir neue Oasen des Friedens schaffen können? Jedenfalls können wir nicht tatenlos zusehen.

Raymond Gétaz, EBF Schweiz

Partnerschaften zwischen Gemeinden in der Schweiz und in der Ukraine

Nach dem Vorbild der Aktion «Gemeinden Gemeinsam», die in den 1990er Jahren Partnerschaften zwischen Schweizer Gemeinden und solchen im ehemaligen Jugoslawien aufbaute, haben wir jetzt für die Ukraine ein ähnliches Ziel. Während deutsche Städte und Dörfer inzwischen mehr als 200 formelle und informelle Partnerschaften mit ukrainischen Gemeinden unterhalten, sieht die Bilanz in der Schweiz eher mager aus. Deshalb haben wir erste Kontakte geknüpft, um dies zu ändern. Mit der langjährigen Präsenz vom Europäischen Bürger:innen Forum in der Ukraine kennen wir viele zivilgesellschaftliche Initiativen und Gemeinden, die an einer Partnerschaft interessiert wären und deren Vertreter·innen nicht korrupt sind. Ein erster Schritt zu einer Partnerschaft ist das gegenseitige Kennenlernen. Deshalb laden wir interessierte Gemeindevertreter·innen aus der Schweiz in den westlichsten Teil der Ukraine nach Transkarpatien ein. Hier handelt es sich um die einzige Region, die von den Bombardierungen (mit zwei geringfügigen Ausnahmen) verschont wurde und daher ohne Lebensgefahr besucht werden kann. Zwar scheint hier der Schrecken des Krieges weit weg, aber über 300.000 Geflüchtete aus dem Osten und Süden des Landes – auf rund 1,2 Millionen Einwohner·innen vor dem Krieg – haben hier, im westlichsten Zipfel der Ukraine, Zuflucht gefunden. Das bedeutet, dass die Gemeinden eine immense Integrationsarbeit leisten müssen. Wenn Sie in Ihrer Stadt oder Ihrem Dorf Interesse an der Idee einer Partnerschaft haben oder diese dort einbringen wollen, nehmen Sie bitte Kontakt mit uns auf.

Michael Rössler, EBF

Milo Petrovic (1944 – 2025)

Im Gedenken an Milo Petrovic unseren jugoslawischen Partner von Gemeinden Gemeinsam Schweiz.

«Wie soll ich das sagen?» Diesen Satz bekamen wir von Milo immer wieder zu hören. Er zeigt deutlich, wie sehr er darum bemüht war, sich verständlich zu machen, das richtige Wort zu finden, und wenn er es nicht fand, erfand er es, indem er Adjektive in Adverbien umwandelte – «ungefähr so»! Milo war mehr als ein Übersetzer, er war unser Freund! Im Austausch mit unseren Gesprächspartner·innen in Montenegro war er stets darauf bedacht, dass die Kommunikation reibungslos verlief. Wie oft wies er uns darauf hin: «So wie ihr es ausdrückt, kann ich das nicht übersetzen.» Und er schlug eine andere Formulierung vor: «Seid ihr damit einverstanden?»

Wir haben Milo vor über 30 Jahren kennengelernt, der Krieg im ehemaligen Jugoslawien war gerade ausgebrochen. Milo war Mitglied des EBF, welches die Aktion GGS ins Leben gerufen hatte. In seiner Begleitung erkundete GGS im ehemaligen Jugoslawien (Kosovo, Montenegro, Serbien, Bosnien) Gemeinden, die für eine Partnerschaft mit Schweizer Gemeinden oder Vereinigungen in Frage kamen. Dem Neuenburger Berggebiet wurde die Gemeinde Plav zugeteilt, aufgrund ihrer Höhenlage sind sich die beiden Gebiete ähnlich. Milo war so freundlich, als Garant für unsere Kontakte zu wirken. Während 25 Jahren fanden zahlreiche Begegnungsreisen statt, von den Neuenburger Bergen nach Plav und umgekehrt. Zunächst lieferten wir materielle Hilfe, es folgten Vermittlung von Mitwirkungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft, Austausch von Lehrer·innen und Lernenden, Begleitung von Schulklassen und nicht zuletzt freundschaftliche Begegnungen. Milo war immer dabei, hat uns beraten, seine Sichtweise dargelegt und uns manchmal gar dazu gedrängt, noch mehr zu tun. Wir sind dankbar, Milo gekannt zu haben. Sein grosses Herz und seine tiefe Menschlichkeit haben uns ermöglicht, zu wachsen und uns für andere Kulturen zu öffnen. Wir danken ihm, für seine Zeichen der Freundschaft, für alles, was er für uns war. Wie soll ich das sagen? Sein Humor und sein Engagement werden uns fehlen!

Mariette Mumenthaler, Causes Communes des Montagnes neuchâteloises