Zweifellos kann man die gesamte Geschichte, die sich in Riace abspielt, auch über Internet mitverfolgen, denn die Dinge, die sich in diesem kleinen kalabrischen Dorf zutragen, wie auch das Schicksal seines Bürgermeisters, machen weiterhin Schlagzeilen in Italien und darüber hinaus. Etwas anderes ist es jedoch, nach Riace zu reisen und anderthalb Monate dort zu leben, denn nur so erfährt man, was die Medien nicht berichten können. Wir erlebten die Trauer, das Misstrauen und vor allem die Angst der Bewohner·innen. Wer diesen Ort gekannt hat – lange vor dem Sturm, der seit letztem Sommer über ihn hereingebrochen ist –, gewöhnt sich nicht an diese Stille, an diese verschlossenen Türen und verschlossenen Gesichter. Riace, wo es gelungen war, die Gleichung «Einwanderung = soziale Katastrophe» zu widerlegen, befindet sich im Fadenkreuz der italienischen Regierung, die immer offener rassistisch agiert, Hass schürt und alles daran setzt, anders tönende Stimmen mundtot zu machen. Riace war ein Dorn im Auge all jener, die ihre politische Karriere auf die Rhetorik der Migration aufbauten: «Wir können sie nicht alle aufnehmen, also lassen wir sie im Meer ertrinken» – diese Propaganda hatte Riace untergraben, und dafür soll es nun seinerseits untergehen.
Hexenjagd
Stellt euch ein Dorf vor mit 300 Menschen, viele von ihnen ältere Menschen, das von einer regelrechten Flutwelle von Polizist·inn·en, Anwält·inn·en und Journalist·inn·en überspült wird: 29 Personen kommen vor Gericht, der Bürgermeister darf sein Dorf nicht mehr betreten und wird exiliert wie der letzte Mafiosi, Telefone werden abgehört, das Rathaus steht unter Zwangsverwaltung. Zwar wurde bereits erwiesen, dass hier kein Betrug stattfand, dass die Unregelmässigkeiten, derer die Gemeindeverwaltung beschuldigt wurde, rein formell waren und nicht illegal. Sogar das Kassationsgericht entschied zugunsten von Domenico Lucano und seinem Dorf und ordnete an, diese Hexenjagd zu stoppen… doch nichts half. Der Regierung war es nicht genug, durch Streichung sämtlicher Subventionen, von denen Sozialarbeiter·innen, Migrant·inn·en und der lokale Handel abhingen, Riace in die Knie zu zwingen – nein, der Ort soll von der Landkarte radiert werden, um sicher zu gehen, dass er sich nicht wieder erhebt. Das Spiel ist so einfach wie pervers: man schafft Missstände, man zeigt auf Schuldige (immer wieder die Migrant·inn·en) und man stigmatisiert jene, die andere Wege aufzeigen wollten. Mit haltlosen, absurden und dennoch wirksamen Anschuldigungen wirft man ihnen vor, die Regeln zu brechen. Während unseres Aufenthaltes konnten wir diese permanente und schamlose Verfolgung hautnah erleben: der pädagogische Bauernhof von Riace, wo sich die zum Einsammeln des Mülls verwendeten (und nun beschlagnahmten) Esel sowie von Migrant·inn·en angebauten Gärtchen befinden, wurde amtlich versiegelt.
Wo ist das Verbrechen?
Wir begreifen es nicht: Dieser kleine Hof wurde an Stelle einer wilden Müllhalde, auf von Brombeeren überwuchertem Brachland errichtet. Was wird hier genau beanstandet? Die Verletzung von Privateigentum, Unregelmässigkeiten bei der Markierung von Eseln, oder vielmehr die Tatsache, dass das Dorf seine Müllabfuhr den Klauen der lokalen Mafia ('Ndrangheta) entrissen hatte? Und damit ist es nicht getan, denn etwa zur gleichen Zeit, Mitte April, wurde eine neue Untersuchung gegen Domenico Lucano eingeleitet, unter dem Vorwand, dass einige Aufnahmeeinrichtungen nicht den amtlichen Kriterien der «Bewohnbarkeit» entsprachen. Sorry, verstehen wir das hier richtig: In einer Region wie Kalabrien, wo in vergangenen Jahren fast täglich Flüchtlingsschiffe landeten, wo die Präfektur den Bürgermeister Tag und Nacht anrief und ihn anflehte, die Notlage zu kompensieren, in einer Region, in der Schulen, Krankenhäuser und sogar das Gerichtsgebäude wohl kaum alle Kriterien der Bewohnbarkeit erfüllen, wird Domenico Lucano ein erneuter Prozess gemacht, weil er verzweifelte Flüchtlinge in nicht ganz normgerechten Häusern untergebracht hat? Ist in einer Region wie Kalabrien, in der die heftigsten kriminellen Kräfte am Werk sind, tatsächlich niemand anderes als der Bürgermeister dieses Dörfchens auszumachen, um die Rolle des furchterregenden Outlaws zu spielen? Verzeihung, aber wir haben den Verdacht, dass das grosse Verbrechen Domenicos darin besteht, die Aufmerksamkeit der italienischen Medien gewonnen zu haben als ein Symbol des Anti-Salvinismus, ein Symbol der Öffnung und Empfangsbereitschaft gegen die Abschottung und die Angst vor dem Fremden.
Solidaritätsfest
Am 11. Mai fand ein grosses Solidaritätsfest vor Ort statt. Ein Manifest der «Künstler·innen für Riace», das Hunderte von italienischen Künstler·inn·en unterzeichnet hatten, sollte veröffentlicht werden und einige von ihnen hatten ihre Anwesenheit angekündigt. Die auf Wunsch von Domenico ins Leben gerufene Stiftung E’stato il vento (Es war der Wind), der es gelungen war, ein Startkapital von 100‘000 Euro zusammenzutragen, gab an diesem Tag ihre offizielle Gründung bekannt, sowie ihren Willen, dank nationaler wie internationaler privater Hilfe den Empfang von Migrant·inn·en, die Handwerksbetriebe und den Solidaritätstourismus wieder aufleben zu lassen. Und diese Solidarität wird wirklich dringend gebraucht, denn die Situation vor Ort ist sehr schwierig. Hohe Schulden haben sich angehäuft, die Schulen und die ärztliche Ambulanz mussten schliessen, mehrere eingewanderte Familien mussten fortziehen und die übrig gebliebenen leben unter prekären Bedingungen von den Almosen der Caritas oder der Solidaritätsbewegung. Für die Präsentation am 11. Mai hatte Domenico Lucano nach 7 Monaten Exil um die Erlaubnis gebeten, für einige Stunden in sein Heimatdorf zurückkehren und seine Mitbürger·innen wiedersehen zu dürfen. Ein völlig legaler Antrag, der umgehend abgeschmettert wurde, weil es diesem Mann anscheinend nicht gewährt sein darf, in Riace das Wort «Neubeginn» auszusprechen oder auch nur sein Gesicht zu zeigen, das gerade in der aktuellen Wahlperiode den Menschen wieder Hoffnung und Mut hätte geben können. Dieser jüngste Rückschlag war für alle sehr heftig: für Domenico, dem es immer schwerer fällt, nicht selbst den Mut zu verlieren, für die Bewohner·innen wie auch für die Organisator·inn·en und Teil-nehmer·innen der Solidaritätsveranstaltung.
Es gibt immer einen Weg
Dennoch haben wir uns nicht entmutigen lassen. Über den Weg hinter der Post kommt man in nur zehn Minuten Fussmarsch vom Amphitheater, wo das Fest stattfand, bis zur Ortsgrenze, wo Riace endet und Stignano beginnt. Ein Aufruf ins Mikrophon genügte, und eine Welle von mehreren hundert Personen erhob sich und zog durch die blühenden Felder bis zum beschriebenen Ort. Ein Telefonanruf an Domenico, der sich gleichzeitig von der anderen Seite aus bis an die Ortsgrenze aufmachte, und ganz spontan und ohne Ordnungsdienst konnte die solidarische Menschenmenge endlich ihren dankbaren und vor Überwältigung schluchzenden Bürgermeister in die Arme schliessen. Wir waren alle bewegt und getrieben von dem gleichen Gedanken: «Sie werden uns nicht aufhalten können. Wir werden immer einen Weg finden, der Ungerechtigkeit zu widerstehen, sie zu umgehen oder sie zu überrennen.» Die beiden Karabinieri, die in aller Eile an dieser unsichtbaren Grenze aufgestellt wurden, sahen dabei recht lächerlich aus.
Eine Zukunft aufbauen
Wir verlassen Riace von widersprüchlichen Gefühlen erfüllt, unter denen die Trauer nur einen geringen Platz einnimmt. Am stärksten ist der Wunsch zurück zu kommen, der Wunsch, diesem Dorf bei seinem Neuanfang zu helfen. Wir begegneten und diskutierten mit den Menschen, die in den Werkstätten arbeiteten, Riacesi wie Zugewanderte: Sie hoffen auf Unterstützung, um ihre handwerklichen Tätigkeiten wieder aufnehmen zu können. Riace ist der Ort, an dem sie leben wollen, hier gibt es eine Zukunft aufzubauen. Niemand will weiter migrieren müssen, weder die Neuankömmlinge noch die Alteingesessenen, denen die Begriffe «fortziehen» und «entwurzelt werden» nur zu geläufig sind, denn seit der Nachkriegszeit gehört diese Region zu den am schwersten von Landflucht und Verödung betroffenen. Wir haben mit den vor Ort gebliebenen Geflüchteten gesprochen, die uns von Telefongesprächen mit anderen berichteten, die weiterziehen mussten und einen einzigen Wunsch aussprechen: in ihre Häuser in Riace zurückzukehren. Wir sind so vielen Menschen aus ganz Italien und Europa begegnet, die bereit sind, tatkräftig mit anzupacken, und wir wissen, dass das Modell Riace auf der ganzen Welt bewundert wird. Es ist an der Zeit, zu beweisen, dass es der Dampfwalze der italienischen Regierungspolitik nicht gelingt, dieses Modell unter einer Betonschicht des Hasses zu begraben: die Samen der Menschlichkeit, die hier gesät wurden, werden wieder keimen und den Beton durchbrechen.
Barbara Vecchio, EBF, Mitglied der Stiftung E’stato il vento