Unter diesem Motto sind wir aufgewachsen, geprägt von der Zuversicht, dass es die Diplomatie und gemeinsame Interessen zumindest auf dem europäischen Kontinent immer wieder schaffen würden, Konflikte rechtzeitig zu entschärfen. Der in der Ostukraine seit 2014 herrschende Krieg war für die meisten denn auch zu weit weg, um genauer hinzusehen. Doch nun schafft der Kreml neue Realitäten und zwingt uns dazu, unser altes Weltbild zu überdenken.
Das Europäische BürgerInnen Forum (EBF) ist seit drei Jahrzehnten in der Ukraine vor Ort, und wir sind mit den Widersprüchen der ukrainischen Gesellschaft bestens vertraut. Kurz vor Drucklegung dieser Ausgabe von Archipel eskalierte die Situation völlig. Hier ein Auszug aus einem der täglichen Mails vom 23. Februar 2022: Gestern hat Putin die Volksrepubliken von Donetsk und Luhansk als unabhängige Staaten anerkannt, und zwar in ihren Grenzen als ukrainische Oblaste. Damit hat er die Weichen auf einen Eroberungskrieg auf ukrainischem Territorium gestellt. Die russische Armee würde dort ab sofort eine «friedensunterstützende Funktion» ausüben (das Mass an Zynismus ist nicht mehr zu überbieten). Seit Beginn der Eskalation am 17. Februar wurden mindestens 235 Wohngebäude und Wohnungen von Zivilist·inn·en beschädigt. Mehrere Zivilist·inn·en wurden getötet. Gestern wurde in Schastia (übersetzt «Glück») den zweiten Tag in Folge das grosse Wärmekraftwerk beschossen. Seither gibt es in der Stadt weder Fernwärme noch Trinkwasser. In den «Volksrepubliken» werden Männer unter 55 Jahren auf der Strasse aufgegriffen und zwangsrekrutiert. Einem befreundeten Musiker ist es so ergangen. Nach zwei Tagen postete er im Internet ein Foto von sich mit einem Maschinengewehr. Statt, wie angekündigt zur Ausbildung, wurde er direkt an die Front gebracht. Hier bei uns im Dorf in Transkarpatien empfangen wir morgen die erste Flüchtlingsgruppe: Jugendliche aus Luhansk. Erste Leute folgen unserem Aufruf und stellen Wohnraum oder Lebensmittel zur Verfügung.
Letzte Meldung vor Redaktionsschluss: Heute früh morgens hat eine grossflächige Invasion der russischen Truppen in der Ukraine begonnen. Zehntausende sind auf der Flucht. Wir organisieren Unterkünfte und helfen, wo wir können.
Jürgen Kräftner, Nischnje Selischtsche, 24. Februar 2022