Weil die grossen Saatgutkonzerne weltweit ihre Kontrolle über das Saatgut ausweiten wollen, sind die Kleinbäuerinnen und -bauern und in der ganzen Welt seit Jahrzehnten gezwungen, sich gegen die Verdrängung oder gar das Verbot ihrer traditionellen lokalen Sorten zu wehren. Europa beansprucht in dem Bereich der Regulierung des Saatgutmarktes eine weltweit führende Rolle.
2008 startete die EU einen Reformprozess für eine europaweite Vereinheitlichung der bestehenden Verordnungen. Es ging darum, welches Saatgut unter welchen Bedingungen vermarktet werden darf.
Dagegen engagierten sich kleine Initiativen von Erhalter·inne·n alter Sorten in vielen europäischen Ländern. Gerade in Europa sind in den letzten 60 Jahren, seit den ersten gesetzlichen Beschränkungen auf dem Saatgutmarkt, rund 80 Prozent der ursprünglichen Vielfalt an Kulturpflanzen verschwunden. So gesehen gibt es keinen Grund, dass Europa sich anmasst, weltweit die Richtung in der Saatgutpolitik zu bestimmen. Im Gegenteil, die EU hat sich in dieser Rolle disqualifiziert weil sie einseitig die Interessen der Saatgutzüchter und ihrer Konzerne vertritt. Nach fünfjährigen Verhandlungen legte die EU-Kommission im Jahr 2013 ein Gesetzespaket für die Neuregelung des Saatgutverkehrsrechtes vor. Für sein Inkrafttreten war nach den neuen Regeln nur die Zustimmung des Ministerrats und des Europäischen Parlaments notwendig. Das EU-Parlament lehnte den Vorschlag mit grosser Mehrheit ab. Daran konnte auch das Schreiben des Lobbyverbandes der europäischen Saatgutindustrie ESA an die Abgeordneten des Europaparlaments nichts ändern. ESA befürwortete das Gesetzespaket und begrüsste die «moderne, dynamische, harmonisierte und vereinfachte Reform des Europäischen Saatgutverkehrsrechtes für eine innovative Pflanzenzüchtung in Europa». Im vergangenen Jahr, also acht Jahre nach diesem Misserfolg, hat die EU-Kommission erneut die Reform des Saatgutverkehrsrechts auf die Tagesordnung gesetzt.
Ein autoritäres Instrument
Zur gleichen Zeit begann die Afrikanische Union im März 2021 ebenfalls einen Diskussionsprozess zur Vereinheitlichung der in Afrika herrschenden Regelungen für den Saatgutverkehr. Ausgeschlossen von den Gesprächen waren von vornherein u.a. das Afrikanische Zentrum für Biodiversität und die Allianz für Lebensmittelsouveränität in Afrika, sowie die zahlreichen Organisationen von Kleinbauern und -bäuerinnen. Die vorgeschlagene Vereinheitlichung soll auf der Basis der UPOV-Vereinbarungen1 geregelt werden. Darüber heisst es in dem Protestschreiben von rund 60 sozialen Bewegungen aus mehreren afrikanischen Ländern: «Die UPOV ist ein autoritäres Instrument zur Stärkung geistiger Eigentumsrechte und der Profite der kommerziellen Saatgutzüchter zum Nachteil der Menschenrechte und des kulturellen Erbes auf unserem Kontinent».
Der Vorwurf, die UPOV sei autoritär ist nicht unbegründet. Die Organisation wurde auf Initiative von Frankreich, Deutschland, England und den Niederlanden vor 60 Jahren mit Sitz in Genf gegründet. Sie vertritt die Interessen der weltweit grössten Saatgutkonzerne, wie Bayer, Limagrain, BASF, und andere, die ihren Sitz in diesen Ländern haben. Sie verfolgen das Ziel, geistige Eigentumsrechte auf gezüchtete Sorten durchzusetzen und gleichzeitig alle bäuerlichen lokalen Sorten, die nicht registriert sind und nicht die Kriterien moderner Sorten erfüllen, vom Markt zu verdrängen oder zu verbieten. Die UPOV erarbeitete eine erste Konvention, die seither regelmässig verschärft wurde. Alle Länder, die Zugang zu ihrem industriellen Saatgutmarkt haben wollen, müssen der jeweiligen UPOV-Konvention zustimmen. Die europäischen Länder und die EU berufen sich auf diese Konvention, als ob sie irgendeine gesetzliche Grundlage hätte. Beim Abschluss von internationalen Handelsverträgen müssen die betroffenen Länder die UPOV-Konvention unterzeichnen bzw. der UPOV beitreten.
Vernichtung bäuerlicher Sorten
Einige erinnern sich vielleicht daran, wie in Kolumbien 2013 auf Grund von Freihandelsverträgen mit der EU und den USA die UPOV-Konvention von einem Tag auf den anderen durch die berüchtigte Resolution 9.70 umgesetzt wurde, und rund 4000 Tonnen bäuerliches lokales Saatgut mit Bulldozern in eine Mülldeponie geschoben und verbrannt wurden. Die Proteste gegen diese brutale Missachtung der kolumbianischen und indigenen Agrarkultur waren so gross, dass das Dekret wieder aufgehoben werden musste. Was aber die Durchsetzung der UPOV-Konvention in Afrika für Konsequenzen haben wird, ist nicht abzusehen. Der industrielle Saatgutsektor kontrolliert nur ungefähr 10-20 Prozent des afrikanischen Saatgutmarktes, 90 Prozent des Saatgutes kommen aus informellen bäuerlichen Strukturen.
Sollten die UPOV-Kriterien angewendet werden, würden alle bäuerlichen Sorten verboten. Gerade in einer Zeit, in der viele afrikanische Länder mit grossen klimatischen Veränderungen konfrontiert sind, hätte das Verbot der lokalen Sorten verheerende Auswirkungen auf die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung. Die UPOV-Kriterien für Saatgut stellen heute mehr denn je eine Bedrohung für die lebendige Agrarkultur und ihre regionalen und anpassungsfähigen Sorten dar. Die Kleinbauernorganisationen in vielen Ländern Afrikas sowie die Organisationen zur Erhaltung der Biodiversität haben sich gegen das Vorhaben der Afrikanischen Union mobilisiert. Für sie wäre es eine wichtige moralische und politische Unterstützung, wenn auch hier in Europa in Anbetracht der weltweiten Klimakatastrophen ein Umdenken beginnen würde.
Existenzgrundlagen?
In der Diskussion über ein neues Saatgutverkehrsrecht wäre eine zeitgemässe Forderung die Abschaffung der gesetzlichen Regelungen für den Saatgutmarkt. Denn das Saatgutverkehrsrecht dient nicht dem Schutz vor gentechnisch veränderten Pflanzensorten. Für die Regulierung von gentechnischen Konstrukten gibt es eine eigene EU-Richtlinie, unabhängig vom Saatgutverkehrsrecht. Es dient auch nicht dem Interesse der Landwirtschaftstreibenden an beständigen und homogenen Sorten. Wer Sorten erwerben will, die registriert sind und die DUS-Kriterien (DUS steht für Unterscheidbarkeit, Uniformität und Stabilität) erfüllen, kann zertifiziertes Saatgut mit Sortenschutz erwerben. Da das EU-Saatgutverkehrsrecht im Grunde nur auf diese drei Kriterien geprüfte Sorten für die Vermarktung zulässt, sind bereits viele alte Landsorten in Europa völlig ausgestorben.
Die Forderungen heute müssen lauten:
- Ersatzlose Abschaffung der Vermarktungsverbote und -einschränkungen des Saatgutverkehrsrechts.
- Ab sofort Befreiung und Förderung der Vielfalt von Kulturpflanzen auf den Feldern, Gärten, Weinbergen, Wiesen und Wäldern.
- Übereinstimmung der Politik der EU bezüglich der Kulturpflanzenvielfalt mit den internationalen Verträgen wie der Konvention über biologische Vielfalt und dem internationalen Saatgutvertrag (ITPGR-FA) und Kündigung der einseitigen UPOV-Konventionen.
Die leere Worthülse «Sicherung der Existenzgrundlagen in den Herkunftsländern», die gerne als Antwort auf die wachsende Migration benutzt wird, könnte damit einen wichtigen Inhalt bekommen. Der nicht unwesentliche Unterschied zwischen Afrika und Europa ist, dass in Europa bereits mehr als 60 Prozent des Saatgutmarktes in der Hand der Konzerne ist und die restlichen 40 Prozent zu einem Grossteil ebenfalls industrielle Sorten sind, die von Bäuerinnen und Bauern aus der eigenen Ernte zu Saatgut aufbereitet werden. Dementsprechend gross ist die Abhängigkeit von den industriellen Sorten in Europa und es gibt kaum mehr Landwirtschaftsbetriebe, die in der Lage sind, sich selbst mit Saatgut zu versorgen. Ist diese Abhängigkeit von der immer mehr zentralisierten Saatgutversorgung mit immer mehr hochgezüchteten Sorten in den heutigen Krisen überhaupt noch tragbar?
Wo sind die bäuerlichen Rechte?
Das kolonialistische Vorgehen der Saatgutkonzerne unter anderem auf dem afrikanischen Kontinent erfolgt unter dem Motto «wir garantieren mit unseren modernen Sorten die Lebensmittelsicherheit». Diesem Motto hat sich auch die potente Bill und Melinda Gates- Stiftung verschrieben, um in gönnerhafter Manier dem afrikanischen Kontinent zu Hilfe zu kommen. Unterstützung finden sie dabei zum Beispiel von der Deutschen Bundesregierung. Es klingt wie eine Neuauflage der «Grünen Revolution», die Ende der 60er Jahre in mehreren Ländern Afrikas und Asiens von der Organisation USAID (2) propagiert und umgesetzt wurde. Die Erfolge dieser Kampagne sind zweifelhaft. Sie hat die Ernteerträge erhöht durch industrielle Hochleistungssorten mit gleichzeitig hohem Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden. Die meisten Kleinbauern und -bäuerinnen konnten sich diesen teuren Einsatz nicht leisten und verloren ihre Existenzgrundlage. Die lokal angepassten und bewährten Sorten wurden nicht mehr angebaut. Die Krankheitsanfälligkeit der spezialisierten Sorten führt zu einem immer höheren Pestizid-Einsatz und damit zu einer Verseuchung der Gewässer durch Pestizide und Düngemittel.
Doch das jahrzehntelange Engagement kleinbäuerlicher Organisationen aus aller Welt hat zu einer weltweiten Vernetzung dieser Kämpfe «La Via Campesina» geführt. Die konsequente Präsenz in den internationalen Gremien hat bewirkt, dass die UNO-Vollversammlung die Rechte der Bauern und Bäuerinnen weltweit ansprechen musste. Daraus resultierte die UNDROP-Erklärung (3) vom Dezember 2018, die die bäuerlichen Rechte auf die Nutzung und Weitergabe ihres eigenen Saatgutes in Artikel 19 anerkannt hat. Das Problem ist nur, dass die EU-Länder, ausser Portugal, sich der Stimme enthalten haben, das heisst, nicht bereit sind, die bäuerlichen Rechte anzuerkennen.
Die weltweite Antwort der vielen Erhalter·innen der Biodiversität ist: «Lasst uns die Vielfalt befreien.»
Jürgen Holzapfel
- UPOV: Die Union internationale pour la protection des obtentions végétales (Internationaler Verband zum Schutz von Pflanzenzüchtungen) ist eine zwischenstaatliche Organisation zum Schutz von Pflanzenzüchtungen. Sie hat ihren Sitz in Genf.
- USAID: US Agency for International Development
- In der verabschiedeten «Erklärung für die Rechte von Kleinbauern und anderen Menschen, die in ländlichen Regionen arbeiten» (UNDROP) definiert die UNO in 28 Artikeln die wichtigsten Rechte, die Bauern und Bäuerinnen weltweit nun zustehen.