Am 4. März 2020 lehnte der Nationalrat mit 102 zu 89 Stimmen die parlamentarische Initiative «Schluss mit dem Solidaritätdelikt» der grünen Ständerätin aus Genf, Lisa Mazzone, ab (1). Ihre Initiative forderte eine Änderung des Artikels 116 des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG), damit Personen, die aus ehrenwerten Gründen Hilfe an Flüchtlinge ohne legale Aufenthaltserlaubnis leisten, nicht unter Strafe gestellt werden. Die Initiative hatte eine breite Unterstützung aus der Zivilgesellschaft erhalten. Mehrere bekannte Fälle der Kriminalisierung von Solidarität bekamen viel Aufmerksamkeit: Die Flüchtlingsaktivistin Anni Lanz, die Kantonsrätin Lisa Bosia Mirra (siehe Archipel 284 und 285) und der Pfarrer Norbert Valley.
Vielfältige Unterstützung
Zur Erinnerung: Solidarité sans frontières und Amnesty International hatten die Petition «Solidarität ist kein Verbrechen» (2) im Januar 2019 lanciert und 30‘000 Unterschriften gesammelt. Dann schlossen sich 200 Anwälte und Anwältinnen der Kampagne an, indem sie eine eigene Erklärung unterzeichneten (3). Am 4. Dezember 2019 wurden diese beiden Petitionen in Bern an die Parlamentsdienste übergeben. In christlichen Kreisen wurde die sogenannte «Groupe St-François» gegründet, um den Pfarrer Norbert Valley zu unterstützen, der für seine Hilfe an einen Togolesen ebenfalls verurteilt werden sollte. Die Mobilisierung dieser breiten Kreise hat es zwar ermöglicht, die Debatte über die Solidarität und ihre Kriminalisierung zu nähren und die Absurdität der Verurteilungen sichtbar zu machen. Trotzdem betrachtet aber die Mehrheit des Nationalrats nach wie vor Gesten der Solidarität gegenüber Migrant·inn·en als kriminell.
Solidarität versus Einhaltung der Gesetze
Die Plenardebatte des Nationalrates vom 4. März 2020 zeigte ein dominierendes Argument: den Handlungsspielraum der Richter·innen. Für die Gegner·in-nen der Initiative sei es sinnlos, Rechtsvorschriften zu erlassen, da die den Richter·inne·n zur Verfügung stehenden Ermessensspielräume bereits ausreichend seien, um in gewissen Fällen auf die Verurteilung zu verzichten. Den Verteidiger·inne·n der Initiative ging es hingegen darum, die ehrenwerten Motive wieder ins Gesetz einzuführen, um klar zwischen Hilfe zum Zwecke der unrechtmässigen Bereicherung und Solidarität bzw. humanitärer Hilfe zu unterscheiden. Ein weiteres Argument betrifft die zu verteidigenden Werte. Für die Gegner·innen der Initiative hat die Einhaltung des Gesetzes Vorrang. Mit der Initiative würde die Wiedereinführung ehrenhafter Motive darauf hinauslaufen «ein Widerstandsrecht einzuführen, das die Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit untergraben würde». Für die Befürworter·innen der Initiative geht es jedoch darum, den in der Präambel der Schweizer Verfassung genannten Wert der Solidarität zu würdigen.
Der Freispruch von Norbert Valley
Eine Woche nach der Abstimmung im Nationalrat wurde der Pfarrer Norbert Valley, der beschuldigt wurde, den «illegalen Aufenthalt» eines abgelehnten togolesischen Asylbewerbers «erleichtert» zu haben, vom Polizeigericht von La Chaux-de-Fonds freigesprochen. Diese Entscheidung ist zwar formhalber ein Sieg, aber weniger der Substanz nach. Der Richter hatte sich bei seinem Urteil nicht auf die von der Verteidigung vorgebrachten Prinzipien der Solidarität, der Religionsfreiheit oder der christlichen Werte gestützt, sondern nur auf den Umfang der geleisteten Hilfe. Er berief sich auf zwei Rechtsurteile und stellte fest, dass die geleistete Unterstützung minimal war, «punktuell und gelegentlich» und dass sie die «Durchsetzung der Administration nicht behindert hat».
Es geht weiter
Die Weigerung des Nationalrats, die Initiative von Lisa Mazzone anzunehmen, zeigt eines: Die Parlamentarier·innen haben sich dafür entschieden, das Erbe Blochers (4) und nicht das humanitäre Erbe der Schweiz zu würdigen. Das muss sich ändern. Auch wenn die Chancen auf parlamentarische Erfolge derzeit gering sind, gibt es andere Wege. Solidarité sans frontières hat sich verpflichtet, die Verurteilten im Falle einer Berufung zu unterstützen und ihre Fälle bekannt zu machen. Nicht zu vergessen ist zudem, dass die Richter·innen – um das Argument der Rechten zu verwenden – einen gewissen Spielraum haben. Hoffen wir, dass sie diesen zur Verteidigung der humanitären Werte nutzen werden.
PS. Zum gleichen Thema empfehlen wir den Bericht «Délit de solidarité» von Temps Présent (ausgestrahlt am 12. März 2020 auf der welschen TV-Kette RTS).