Während im vergangenen September Zehntausende Flüchtlinge über Ungarn nach Österreich kamen und grösstenteils weiter nach Norden reisten, hat sich die Route wegen der Grenzschliessung Ungarns verschoben. Die Flüchtlinge kommen heute über Slowenien an die österreichische Grenze. Lisa Bolyos* erzählt ihre Erfahrungen als freiwillige Köchin für die Ankommenden.
Archipel: Lisa, du kommst jetzt, Ende Oktober, direkt von Spielfeld, wo du mitgeholfen hast, Flüchtlinge mit warmem Essen zu versorgen. Spielfeld ist der Grenzübergang von Slowenien nach Österreich in der Steiermark. Welche Eindrücke hast du gewonnen?
Lisa Bolyos: Ich bin nach Spielfeld gefahren, weil Leute von dort gemeldet haben, dass sie Unterstützung und Hilfe in der Küche brauchen. Dort spielt sich alles direkt am alten Grenzübergang ab, wo die ehemaligen Zollhäuser sind. Eine Art Camp wurde da aufgebaut, wo Flüchtlinge in geheizten Zelten übernachten können und wo eine Essensausgabe stattfindet. Verschiedene Hilfswerke und staatliche Institutionen sind vor Ort: das Rote Kreuz, Caritas, die Polizei und das Bundesheer. Dazu kommen die Putzfirma «Saubermacher» und viele freiwillige Helfer_innnen. Es handelt sich hier um eine klassische, hausgemachte Flaschenhals-Situation. Die Leute werden an jeder Grenze entlang der Balkanroute so lange aufgehalten, bis sie sehr viele sind. So kommen auch sehr viele auf einmal an und dann kann man sich aufregen, dass es zu viele sind und man nicht weiss, was man tun soll. Tatsächlich sind während den Tagen, die ich dort verbrachte, etwa zehntausend Flüchtlinge angekommen. Die bereit gestellte Infrastruktur reicht dazu nicht aus.
Wie ist der Mangel an Versorgung zu erklären?
Es gibt verschiedene Engpässe und diese Engpässe, das möchte ich betonen, sind gemacht – die müssten überhaupt nicht sein. Es gibt beheizbare Zelte, wo die Leute schlafen können, aber es gibt zu wenige Schlafplätze. Als wir dort waren, sind die Kinder einfach gestanden, weil sie sich nicht einmal hinsetzen konnten. Es war einfach nicht genug Platz da. Der Boden war schmutzig, sogar schlammig, da will man sich natürlich nicht hinsetzen. Es gibt keine Isomatten, es gab anfangs nicht genug Decken, nur vom Roten Kreuz Heizdecken für den Notfall. Ende Oktober und Anfang November kommen die Menschen total verfroren an. Es ist ja auch weit kälter als an der ungarisch-österreichischen Grenze, wo die Flüchtlinge vor zwei Monaten ankamen. Einige Familien haben mit den Kindern draussen auf dem Betonboden geschlafen. Der zweite Engpass ist die medizinische Versorgung.
Wie sieht also die medizinische, aber auch die sanitäre Versorgung aus?
Die sanitären Einrichtungen sind gar nicht so schlecht. Natürlich gab es für 10.000 Leute nicht genug Klos. Zum Glück war diese Firma «Saubermacher» vor Ort: Die Angestellten haben wirklich schwerstens gearbeitet, das heisst, sie haben masslos Überstunden geleistet und waren total übermüdet. Viele von ihnen haben gesagt, wenn das so weiter geht, dann würden sie streiken. Das Putzen der ganzen Anlagen sei auf die Dauer rund um die Uhr nicht machbar, um irgendwelche Krankheiten zu verhindern und damit die Leute noch unter halbwegs würdigen Bedingungen aufs Klo gehen können. Es sind auch Ärzt_innen und Sanitäter_innen vor Ort. Sie sind nie genug. Die Flüchtlinge sind von Vielem betroffen: von starken Erkältungen bis hin zu schweren Verletzungen. Mehrere Frauen haben Kinder bekommen, eine Frau sogar Drillinge. Wir befinden uns in einer vollkommen apokalyptischen Situation, wie in Notstandsgebieten, wie zum Beispiel nach einem Erdbeben. Dabei geht es ja nur um ein reiches Land, das gerade ein paar Leute aufnimmt.
Wie steht es mit dem Essen?
Das Essen ist leider der dritte Engpass. Wir sind Leute, die im Zuge dieser Fluchtsituation schon öfters gekocht haben. Wir haben eine Küche aufgebaut, selbst organisiert und unabhängig von allen Organisationen vor Ort. Das ist notwendig geworden, weil das österreichische Innenministerium warmes Essen verweigert. Die Flüchtlinge kommen an und erhalten Toastbrot, Apfel, Banane und Schokolade, was unverträglich ist für Menschen, die vier bis fünf Tage nichts gegessen haben. Abgesehen davon, dass es nicht gesund ist für kleine Kinder, die auf der Flucht und ausserdem unterkühlt sind, einen Apfel zu essen, finde ich, dass auch eine negative Botschaft übermittelt wird: «Ihr seid uns nicht wert genug, damit wir euch ein warmes Essen machen.» Das Essen hat mit Willkommenskultur zu tun und deshalb verstehe ich das Kochen auch nicht nur als karitativ, nicht nur als Hilfsgeste, die ich ja schon gut genug finde, sondern auch als symbolische Geste, die besagt: «Wir freuen uns, dass ihr hier seid, wir machen euch hier erst einmal ein gescheites Essen.» Das wird uns aber schwer gemacht. Zwar will uns das Rote Kreuz mit Lebensmitteln versorgen, aber das Innenministerium verbietet es de facto dem Hilfswerk. Denn das Ministerium sagt, sie bezahlen die Rechnungen nicht.
Sind die bürokratischen Hürden überwindbar?
Wir sind auf Spenden angewiesen, was, wie immer in einer solchen Situation, gut funktioniert. Die Leute in der Umgebung – Bäuerinnen und Bauern, Handelsunternehmen, auch Privathaushalte – sind sehr spendier- und hilfsbereit. Aber es ist ein sehr zäher Prozess: Man kommt da hin und will Essen liefern und da wird man schon bei der ersten Polizeisperre nicht durchgelassen, weil die Beamten sagen, du bist ja nicht angemeldet. Beim Roten Kreuz muss man sich 24 Stunden vorher anmelden. Wenn wir gerade keinen Reis haben, müssen wir 24 Stunden warten. Das Meiste wird so im Kleinen verhindert, was nicht unbedingt böse gemeint ist. Alles ist einfach extrem bürokratisch. Die Beamt_innen und Institutionen vor Ort sind überfordert und sie wissen nicht, wie man das alles organisieren soll. Und dann staunen sie, dass ganz organisationsunabhängige Leute wie wir das viel besser organisieren können, weil wir eben beweglicher sind. Es wird 24 Stunden lang gekocht, weil eben immer Leute ankommen oder sich anstellen und Hunger haben. Wir haben die Küche jetzt durch ein zweites Küchenteam mit Kocher und Equipment erweitern können und teilen an zwei Stellen das Essen aus. So versucht man die Leute zu versorgen.
Wie ist euer Kontakt zu den Flüchtlingen?
Wir diskutieren zurzeit folgendes Thema: Wir kochen und das Rote Kreuz und die Helfer_innen geben das Essen aus – schön und gut, aber soll das alles sein? Uns genügt das nicht. Wir versuchen das Ganze politisch zu formulieren und auch politische Handlungsmacht zu gewinnen, indem wir versuchen, mit den Flüchtlingen in Kontakt zu treten. Die Kräfte von denjenigen, die eigentlich politisch reagieren könnten, werden dadurch gebunden, dass sie Suppe kochen. Ich finde das Suppenkochen ist eine Supersache, aber man muss auch politisch kochen. Das würde eben bedeuten, was wir teilweise auch schaffen: Suppe ausgeben und politisch beraten. Wie funktioniert zum Beispiel das Asylrecht, wo kommst du jetzt hin, wo kriegst du Unterstützung. Es gibt auch Aktivist_innen, die schauen, dass sie auf politisch höchster Ebene und über die Medien intervenieren, damit sich die Situation bessert und dass am Ende einfach die Grenzen aufgemacht werden, weil es sinnlos ist, sie geschlossen zu lassen.
Wie verhalten sich Polizei und Militär?
Am zweiten Tag, als ich da war, war die Situation dann so, dass sich sehr viele Flüchtlinge vor der Grenze anstellten, um hereingelassen zu werden. Die Polizei baute zusammen mit dem Bundesheer Sperrgitter auf, um die Flüchtlinge nicht einfach durchgehen zu lassen. Sie wollten die Situation irgendwie kontrollieren oder hatten wohl auch selber Ängste: «Was wird passieren, wenn die Flüchtlinge einfach durchgehen?» So kam es dazu, dass sich die Flüchtlinge das nicht mehr gefallen liessen, die Sperrgitter umgeworfen haben und durchgelaufen sind. Worauf die Polizei mit mehr Gittern reagiert hat. Da kam es zu einem Riesenstreit zwischen Polizei und Bundesheer darüber, wer welche Arbeit macht, dass die Polizei zwar die Gitter aufstellt, sich danach aber zurückzieht und Rekruten vorschickt und die Arbeit machen lässt. Das war eine wirklich gefährliche Situation, weil die ankommenden Flüchtlinge gegen diese Sperrgitter gedrückt haben und teilweise die Gefahr bestanden hat, dass Leute - und vor allem Kinder - erdrückt würden. Es kam auch zu schweren Verletzungen und Herzinfarkten. Sehr viel Panik und Ohnmacht war entstanden. Dutzende Kinder hatten ihre Eltern verloren und umgekehrt. Es war eine vollkommen idiotische Situation, die überhaupt nicht nötig gewesen wäre.
Wie ist euer Verhältnis zu der Staatsmacht vor Ort?
Wir haben versucht, den Führungsgremien des Bundesheers ein paar Tipps zu geben, wie man das besser lösen könnte. Die hören natürlich nicht unbedingt auf das Kommando von Aktivist_in-nen. Aber es war okay, dass wir uns da eingemischt haben. Denn eine solche Situation führt ja nicht nur zu Panik auf Seiten der Refugees, sondern auch auf Seiten der Polizei und des Bundesheers. Eigentlich ist es sowieso nicht vertretbar, dass das Bundesheer hier anfängt, seine uniformierte Macht auszuüben. Es war furchtbar und es dürfte leider jetzt so weiter gehen. Es scheint so zu sein, dass sie diesen mobilen Zaun aufrechterhalten wollen. Diese Zäune sind lebensgefährlich und haben ausserdem eine politische Symbolkraft. De fakto tut man kund: «Ihr seid nicht willkommen!» Aber die Flüchtlinge kommen halt doch. Alle, die vor Ort sind, auch die Behörden, bestätigen dies. Sie stehen nicht auf dem Standpunkt: «Wir wollen euch jetzt aufhalten», sondern: «Wir wollen euch nur kurzfristig aufhalten, damit ihr hier geordnet reingeht.» Mir wäre dieses bürokratische, stufenweise Reinlassen egal, wenn es nicht so gefährlich wäre. Ob die Flüchtlinge hundert Meter vor oder hundert Meter nach der Grenze im Freien schlafen müssen, ist ihnen egal. Beides ist furchtbar. Aber das Schlimme ist, dass immer wieder Situationen hergestellt werden, wo das Leben der Flüchtlinge riskiert wird. Das ist den Behörden auch klar, wenn man sie fragt. Es fehlt ihnen an Empathie und sie wissen sich nicht zu helfen. Es bräuchte einen humanitären Befehl von oben, den es aber nicht gibt. Von oben scheint die Devise zu kommen: «Stecken lassen.»
Werden die Flüchtlinge registriert?
Nein, die Ankommenden werden überhaupt nicht registriert, dafür gibt es nicht die Kapazitäten. Auch das ist ein künstlicher Engpass. Man könnte ja beim Essen jede Person registrieren, damit die Leute zumindest einmal sagen können, ob sie weiterreisen wollen, irgendwo in Österreich Verwandte haben, zu denen sie fahren möchten, oder einfach hier um Asyl ansuchen möchten. Aber das ist nicht in der Logik. Für eine Registrierung braucht es einen Schreibtisch mit einem Polizisten. Etwas anderes kann man sich gar nicht vorstellen. Wenn es gut geht, werden die Flüchtlinge mit Bussen auf Unterkünfte in ganz Österreich verteilt. Das ist offiziell auch der Grund, warum alles so lange dauert. Aber es werden nicht genügend Unterkünfte bereitgestellt. Die Flüchtlinge werden überhaupt nicht informiert. Die Polizei, die eigentlich den Erstkontakt mit ihnen hat, hat keine Dolmetscher. Wir haben gedolmetscht. Man müsste den Flüchtlingen doch zuerst einmal erklären, wo sie hier sind und wie es nun weitergeht.
Meinst du, dass diese katastrophale Situation an der Grenze beabsichtigt ist?
Es sieht danach aus. Die Stimme der Innenministerin, Johanna Mikl-Leitner, ist sehr klar hörbar geworden. Zusammengefasst sagt sie es so: Ja, wir denken über einen Grenzzaun nach, und nein, die Leute sind nicht willkommen. Die «Festung Europa» - ein positiver Begriff für sie - muss halt fester gebaut werden. Ihre Stimme bestärkt natürlich die extremen Rechten und auch eine Unsicherheit in der Bevölkerung. Es ist dieser künstlich hergestellte Mangel an Allem gegenüber den Flüchtlingen, der die Verunsicherung noch vergrössert. Es sind ja schon so viele, wo sollen die alle unterkommen, usw.? Doch je mehr Leute in einer Unterstützungsstruktur arbeiten, umso mehr sind sie darüber aufgeklärt, was überhaupt passiert. Denn wenn man diese Flüchtlinge sieht, die ankommen, die syrischen Intellektuellen, die afghanischen Jungs, die, wie alle Jugendlichen, einfach entzückend sind. Man freundet sich schnell an, egal wer man vorher war, man wird total empathisch. Man erhält auch unzähliges Feedback von den Flüchtlingen. Alle freuen sich, wenn du ihnen etwas bietest, auch wenn es nur ein Willkommen ist. Viele hier im Land ändern ihre Haltung, wenn sie sehen, die sind alle auch Menschen; ich könnte es selber sein oder mein Nachbar, meine Nachbarin. Man sieht dann nicht einfach Massen wie in den Medien, sondern einfach Leute. Ich kann mir gut vorstellen, dass es dem Innenministerium nicht recht ist, wenn das passiert. Aber da machen wir halt nicht mit.
Interview: Kathi Hahn,
Bearbeitung: Sonja Desplos
und Michael Rössler.
* Lisa Bolyos ist Redakteurin des Strassenmagazins «Augustin» in Wien und Mitglied des EBF.