Die Situation auf den Kanarischen Inseln ist heute eine andere als vor einem halben Jahr, als wir angefangen haben über die Atlantikroute zu recherchieren. Die humanitäre Notlage ist nicht mehr offensichtlich, alles ist unsichtbarer geworden, sauberer, deutscher – im schlechtesten Sinne.
Während eine Kabine auf dem Luxusschiff „The world“ absurde Millionenbeträge kostet, überqueren Migrant⸱inn⸱en auf ausrangierten Fischerbooten den Atlantik, auf kleinen Kähnen, die gute Arbeit für das Fischen (1) in Küstennähe leisten. Aber sie wurden nicht für eine Atlantiküberquerung gebaut. Auf direktem Weg, das hiesse vom nördlichsten Zipfel der Westsahara, dauert die Überfahrt etwa vier Tage. Grenzschliessungen zwingen die Menschen allerdings dazu, von Mauretanien, dem Senegal oder von Gambia aus zu starten. Eine Überfahrt, die zwölf Tage und mehr dauern kann. Nehmen Sie sich einen Atlas zur Hand. Er wird Ihnen helfen, sich zu vergegenwärtigen, über welche Distanzen wir reden und zu welch unsinnigen und hochgefährlichen Umwegen willkürliche Grenzschliessungen führen.
„Wir befinden uns in einer Krise, die keine Migrationskrise ist, sondern eine Krise des Aufnahmesystems. Es handelt sich nicht um eine Migrationskrise, da die Zahl der ankommenden Menschen es nicht rechtfertigt, von einer Krise zu sprechen,“ versichert uns Daniel Buraschi, der seit Jahren über Grenzen und Migration an der Universität Castilla La Mancha forscht und auf Teneriffa lebt. Die ersten Boote kamen schon 1994, und 2006 waren es 32.000 Menschen, die auf den Kanarischen Inseln ankamen. Heute durchziehen riesige Sandwälle zwischen Mali und Marokko die Sahara, um Menschen daran zu hindern, über das Mittelmeer nach Europa zu reisen (2). Seit Men-schengedenken suchen sich Fluchtrouten wie Wasser einen Weg. Auch über Umwege. Wie ein Naturgesetz. So wählten 2020 wieder vermehrt Menschen die weitaus gefährlichere Atlantikroute als diejenige über das Mittelmeer. Allerdings wurden sie, anders als noch 2006, massiv an der Weiterfahrt auf das spanische Festland gehindert, und gleichzeitig waren wegen der Covid-Pandemie Abschiebungen ausgesetzt worden. Eine genaue Analyse der Situation vom Frühjahr 2020 finden Sie in einem Artikel von Marian Henn (3). Bevor auf Teneriffa und Gran Canaria sogenannte „Macrocentros“ (siehe Kasten) eröffnet wurden, schliefen selbst Familien in wilden Camps am Strand. Hotels blieben durch die Pandemie leer und die Regierung der Kanarischen Inseln entschied, Migrant⸱inn⸱en dort unterzubringen. Das führte zu Demonstrationen, an denen sich der Ärger über mangelnde Unterstützung des Staates für seine Bürger⸱innen mit einem Unverständnis für die „luxuriöse“ Unterbringung von Migrant⸱inn⸱en vermischte. Die rechtsextre-me Partei Vox ist aber genauso wenig wie die völkische Rechte, ähnlich wie wir sie aus Deutsch-land und der Schweiz kennen, auf den Inseln verankert. Während unseres Aufenthaltes wurden jedoch den Portraits von Migrant⸱inn⸱en in einer Ausstellung in Puerto Cruz nachts buchstäblich die Kehlen aufgeschnitten. Doch schon am Morgen hatte eine Schule aus der Nachbarschaft in einer gemeinschaftlichen Aktion die Risse zugeklebt und im Laufe des Tages klebten Anwohner⸱innen hunderte Zettel mit Solidaritätsbotschaften auf die Leinwände.
Lokale Unterstützung
In der chaotischen Zeit Anfang dieses Jahres gründete sich die „Asamblea de apoya a gente migrante“ (Versammlung zur Unterstützung von Migrant⸱inn⸱en). Niemand konnte uns sagen, wie viele Personen der Asamblea angehören, und das Engagement der Leute ist sehr unterschiedlich, aber es sind viele. Es ist eine sehr heterogene Gruppe, zu der sowohl „historische“ Aktivist⸱inn⸱en aus Teneriffa als auch Personen gehören, die noch nie an sozialen Bewegungen teil-genommen haben und die sich erst engagierten, als sie die unhaltbare Situation der Migrant⸱inn⸱en in den Makrozentren sahen. Heute geht es nicht mehr vorrangig um Erste Hilfe, sondern um eine längerfristige Organisation. Bei den meisten Aktivist⸱inn⸱en wohnen ein, zwei oder noch mehr meist minderjährige Geflüchtete und werden wie Familienangehörige umsorgt. Das ist beindruckend, auch weil die Kanarischen Inseln die zweitärmste Region Spaniens sind. Innerhalb der Asamblea haben sich neun oder zehn Arbeitsgruppen gegründet, z. B. für Rechtsberatung. Eine andere Gruppe kümmert sich um die Belange von Frauen, eine weitere befasst sich mit Migrant⸱inn⸱en im Gefängnis. Und da sind wir bei dem haarsträubendsten Kapitel unserer Reise.
Gefangen als Exempel
Wir treffen Paula in einem studentisch geprägten Viertel von Santa Cruz. Sie ist aktiv in der Gefängniskommission. Paula erzählt uns von den überfüllten Lagern im April, in denen tausende Migrant⸱inn⸱en seit Monaten in sehr beengten Verhältnissen untergebracht waren. Mehrmals täglich mussten die Menschen stundenlang für Essen und eine Dusche anstehen. Psychologinnen berichteten schon im Winter 2020 von Selbstverletzungen und Suizidversuchen. Ständig von Abschiebung bedroht und in Ungewissheit schwebend ergab sich eine explosive Stimmung und es kam zu Schlägereien in den Lagern Las Raíces und Las Canteras. Schlägereien wie es sie jedes Wochenende bei Fussballspielen bei uns zuhause gibt, ohne dass auch nur an eine Anzeige gedacht wird. Hier aber fordert die Staatsanwaltschaft elf (!) Jahre Gefängnis für die seit April 2021 in Untersuchungshaft sitzenden Menschen.
„Die juristische Unterstützung ihrer Pflichtverteidiger, war gleich Null. Es konnte nicht einmal eine Übersetzung ins Französische gewährleistet werden. Wir von der Asamblea wussten erst gar nicht, wie viele Menschen überhaupt im Gefängnis sassen. Wir bekamen keine Informationen aus dem Gericht und kannten auch niemanden im Gefängnis. Erst als mein Partner mitgenommen wurde, erfuhren wir, dass sie überhaupt im Gefängnis waren und wie viele,“ berichtet Paula erschüttert. Die Misshandlungen durch die Polizei und das Sicherheitspersonal waren brutal. „Sie kamen mit Gummigeschoss-Pistolen“, berichtete uns eine der jetzigen Anwältinnen: „Alles was sie wollten, war ein Exempel statuieren, und so nahmen sie wahllos neun junge Erwachsene mit. Einer von ihnen war während der Schlägerei nicht einmal im Lager.“ Die späteren Aussagen der Sicherheitsleute widersprechen sich mit der Aussage einer Mitarbeiterin von ACCEM (4), die auch vor Ort war.
Weiter erzählt uns Paula: „Einer der angeklagten Jungen wollte wie alle anderen unbedingt du-schen, und wie wir wissen, reicht das heisse Wasser im Lager von Las Raíces nur kurz und dann müssen alle anderen mit kaltem Wasser duschen. In diesem Moment kommt es zu einem Streit mit den Sicherheitsleuten, die ihn in einen Raum bringen und schlagen.“ Am 25. November gab es die erste Verhandlung und am zweiten Verhandlungstag, der zur Urteilsverkündung anberaumt war, reduzierte die Staatsanwaltschaft ihre Forderung auf sieben bzw. vier Jahre. Sieben Jahre Gefängnis für einen jungen Menschen, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, um in Europa ein besseres, würdigeres zu finden!
Heute kommt es in den Lagern nicht mehr zu solchen Schlägereien. Bei Interviews vor dem Lager Las Raíces berichten uns Migranten, die erst seit ein paar Wochen in Teneriffa sind, dass sie aufpassen müssten, keinen Ärger zu machen. Sie kennen nicht die Details ihrer verurteilten Vorgän-ger, wissen aber wohl, dass sie nicht aufbegehren dürfen, wenn sie zu ihrem Recht kommen wol-len. Ein ehemaliger Mitarbeiter von ACCEM, der anonym bleiben will, berichtet von gezielten Abschiebungen derer, die es wagen, sich zu organisieren oder auch nur sich laut über die Verwahrung und die mangelnden Perspektiven zu beschweren.
Helden, keine Schlepper
Viel wurde in den letzten Wochen über die Kriminalisierung von selbstlosen Flüchtlingshelfer⸱inne⸱n geschrieben – zu Recht. Die zunehmende Kriminalisierung der Geflüchteten selber ist allerdings ein unterbelichtetes Problem und so versauern zig der Öffentlichkeit unbekannte Menschen in Europas Gefängnissen. Hier im Archipel berichteten wir immer wieder über den Fall von Ahmed H. in Ungarn, der nur Dank der Unterstützung von Amnesty International, dem Europäischen BürgerInnenforum und anderen Organisationen relativ gut ausging. Auf Teneriffa erfuhren wir, dass weit über 30 Bootsflüchtlinge, alleine hier auf der Insel, im Gefängnis sind – verurteilt als Schlepper, weil sie beim Ankommen am Steuer sassen. Die Polizei setzt sogar bei Rettungsaktionen der spanischen Küstenwache auf offener See Drohnen ein, um feststellen zu können, wer das Ruder in der Hand hält. Dass dies eine willkürliche Praxis ist, wird klar, sobald man sich überlegt, welch übermenschlicher Kraft es bedürfte, müsste jemand während mehr als einer Wo-che mit wachem Auge am Steuer sitzen. Aus Scham haben viele bis heute keinen Kontakt mit ih-ren Familien aufgenommen. Es kann also von ihren Angehörigen auch keine Hilfe kommen, und wenn niemand auf der Insel von dir weiss, bleibst du ohne Beistand für Jahre verschwunden. Heute arbeitet die Asamblea eng mit dem Gefängnispfarrer zusammen. Er hat Zugang zu diesen Menschen, die oft zu niemandem mehr Vertrauen haben.
Und ja, es gibt mafiöse Schlepper. Die begeben sich aber nicht auf eine Atlantiküberquerung, auf der, laut IOM (5), jede 26ste Person stirbt. Die Atlantikroute gehört zu den tödlichsten Fluchtrouten der Welt. Von Januar bis September in diesem Jahr hat die IOM bereits mehr als tausend Tote und Vermisste auf dem Weg nach Spanien gezählt: ein Viertel von ihnen im Mittelmeer und drei Viertel auf der Atlantikroute. Es handelt sich nicht um Menschenhorden, die unseren Kontinent überfallen, wie uns die Rechtsextremen und einige Medien glauben machen wollen, sondern um Männer, Frauen und Kinder, die sich auf den Weg hin zu einem besseren Leben gemacht haben.
Wir haben die Asamblea bereits unterstützen können, damit die ersten vier Angeklagten, wenn auch spät, einen vernünftigen Rechtsbeistand bekommen konnten. Vor allem mit der Aussicht auf die nächste Instanz und weitere Prozesse bleibt jedoch noch viel zu tun.
Luna Saenz de Castillo Gonzales und Johannes Dahmke EBF-Delegationsreise, Oktober 2021
- Es gibt immer weniger Fische vor den Küsten Westafrikas. Die Gründe dafür liegen allerdings eher bei der Industrialisierung des Fischfangs als bei diesen Kähnen.
- Siehe dazu den Artikel von Rémi Carayo aus der „Monde diplomatique“ vom November 2021.
- Archipel 305: „Ein Freiluftgefängnis für Geflüchtete“ von Marian Henn
- ACCEM ist eine spanische NGO, die das Lager Las Raíces betreut.
- IOM: Internationale Organisation für Migration der UNO. Sie listet nur die bestätigten Fälle auf. Der Verein „Caminando Fronteras“ geht von etwa drei bis viermal so vielen Opfern aus.