Dieser Artikel ist das Ergebnis eines Aufenthalts in Syrien von November 2024 bis Februar 2025, ganz nah an den Ereignissen, auch während des Sturzes des Regimes. Er wurde von unserem Freund Félix Legrand vor Ort verfasst und stützt sich auf direkte Beobachtungen und Zeugenaussagen aus dem Herzen des Landes über die Umwälzungen im Land unter der islamistischen Miliz «Haiʾat Tahrir asch-Scham»(1). Erster Teil
Während sich der Staub über Damaskus legt, ist es an der Zeit, einen Schritt Abstand zu nehmen und zu versuchen, die Mechanismen des Sieges der Rebellen über al-Assad und die Art der sich herausbildenden Macht zu analysieren. Der Sturz des Regimes kann nicht auf einen blossen Nebeneffekt der Kriege in Gaza und der Ukraine oder auf das strategische Genie eines einzelnen Mannes, Abu Mohammed al-Joulani, mit bürgerlichem Namen Ahmed al-Charaa(2), reduziert werden. Die am 27. November 2024 von der «Haiʾat Tahrir asch-Scham» (HTS) eingeleitete Militäroperation war in Wirklichkeit nur der entscheidende Schlag gegen ein Regime, das durch dreizehn Jahre Krieg gegen weite Teile der eigenen Bevölkerung politisch, moralisch und wirtschaftlich bereits geschwächt war. Dieser Sieg ist also nicht nur der Sieg der HTS. Er war nur möglich durch eine tiefgreifende Entwicklung der Diskurse und Praktiken der gesamten revolutionären Bewegung. Die Transformation der HTS ist also weniger auf eine ideologische Entwicklung der Organisation zurückzuführen, sondern eher auf Zugeständnisse, die aus Pragmatismus gegenüber der Gesellschaft und den revolutionären Kreisen in ihrer Vielfalt gemacht wurden. Abgesehen vom Triumph der HTS ist dieser Sieg in mehrfacher Hinsicht vor allem ein syrischer Sieg. Erstens wurde er ohne die Unterstützung externer Akteure errungen, sogar entgegen einem internationalen Konsens, der bestenfalls einen Status quo und schlimmstenfalls eine Normalisierung mit Assad bevorzugte. Es ist auch ein syrischer Sieg, weil die HTS das Regime nicht allein gestürzt hat. Ihre Kämpfer, die zwar den Angriff initiierten, stellten nicht einmal die Hälfte der Teilnehmer der Schlacht im Dezember. Zahlreiche Gruppen der «Freien Syrischen Armee» (FSA) hatten wieder zu den Waffen gegriffen, und es waren die ehemaligen Rebellen aus dem Süden sowie die drusischen Fraktionen, die als erste in Damaskus einmarschierten. Wiederum ein syrischer Sieg, weil die HTS, um zu siegen, am Aufbau eines neuen Einvernehmens arbeiten musste, der sich im Diskurs und teilweise in den Taten niederschlägt. Die Organisation, die seit mehreren Jahren mit dem internationalen Dschihadismus gebrochen hat, nimmt während der Endschlacht sogar einen nationalen, nicht konfessionellen Diskurs und eine Symbolik an, die zu Beginn der Revolution vorherrschend waren. In diesem Sinne ist es zwar die HTS, welche die Macht übernommen hat, aber dieser Sieg ist auch jener der authentischen politischen Linie des Aufstands vom März 2011, der sich die HTS wohl widerwillig beugen musste. Das ist der Preis, den die ehemaligen Dschihadisten zahlen mussten, um aus ihrer sunnitischen Enklave Idlib herauszukommen, die dazu verdammt war, ein islamisches Mini-Emirat auf Bewährung zu sein.
Obwohl man sie für besiegt hielt, gelang es den Revolutionären von 2011 also (teilweise), ihre politische Linie den neuen Herren von Damaskus aufzuzwingen. Die revolutionäre Flagge, die in Idlib lange Zeit verboten war, hat sich als einziges Symbol des neuen Staates durchgesetzt. Letztendlich spielt es keine Rolle, ob die jetzige Haltung der HTS aufrichtig ist. Die eigentliche Frage ist, ob die aktuelle politische Linie auf Dauer Bestand haben wird. Um die Situation besser zu verstehen, geht es weniger darum, die doktrinäre Entwicklung der Organisation und ihres Anführers zu analysieren, als vielmehr zu verstehen, wie die Kräfteverhältnisse innerhalb der revolutionären Bewegung und der syrischen Gesellschaft in verschiedenen Phasen des Bürgerkriegs zu dieser Transformation beigetragen haben.
Der Pragmatismus der HTS
Seit dem Sturz des Assad-Regimes spekulieren viele Analyst·innen über die politische Natur der HTS und die Persönlichkeit seines Anführers, der sich seit seinem Einzug im Präsidentenpalast in Ahmed al-Charaa umbenannt hat. Während sich ein Teil der syrischen Bourgeoisie beruhigt, als sie erfährt, dass er aus einer guten Familie mit nasseristischen politischen Traditionen aus den wohlhabenden Vierteln von Damaskus stammt – als wäre das eine Garantie –, machen sich andere Sorgen über seinen politischen und militärischen Werdegang im irakischen dschihadistischen Widerstand gegen die amerikanische Besatzung und dann als Chef der syrischen Al-Qaida-Sektion. Um die Entwicklung der «al Nusra Front» (dschihadistische Vorläuferorganisation der HTS, Anm.d.Red.) und der HTS im Verlauf des Syrienkonflikts zu verstehen, muss man jedoch vor allem feststellen, dass die Organisation immer Pragmatismus bewiesen hat, und dass ihre politische Ausrichtung weniger von ideologischen und doktrinären Maximen bestimmt wird als von einer Anpassung an die Zwänge des Umfelds.(3) Es sind also die äusseren Einflüsse, die seit Beginn des Konflikts deren Kurs mitbestimmen. Der Begriff des Pragmatismus in der Politik wird allzu oft mit Mässigung verwechselt, als ob in jedem Kontext die Fähigkeit, Kompromisse einzugehen und seine Ideologie zu verleugnen, die klügste politische Handlung wäre. Wenn wir auf den Werdegang der Bewegung zurückblicken, die al-Joulani während des syrischen Bürgerkriegs anführte, stellen wir im Gegenteil fest, dass nacheinander al-Nusra (2012-2016), dann «Dschabhat Fath asch-Scham» (2016-2017), entstanden aus «al Nusra» nach der Trennung von «Al Qaida», und schliesslich die HTS (2017-2025) es verstanden haben, in dem feindlichen und wettbewerbsorientierten Umfeld der syrischen Rebellion geschickt zu navigieren, zu überleben und sich schliesslich durchzusetzen, zunächst gegen konkurrierende Fraktionen und dann gegen das Regime.
Zwei wichtige Phasen
Man kann also zwei Perioden während des Konflikts unterscheiden – und wir treten heute mit Sicherheit in eine dritte ein. Die erste Periode (2012-2017) kann als «Avantgarde-Dschihadismus» und die zweite (2017-2024) als «revolutionäres Regieren» (in den von der HTS regierten Gebieten, Anm.d.Red.) bezeichnet werden. Der Übergang von der einen zur anderen erfolgt schrittweise zwischen 2016 und 2020, wobei das Jahr 2017 an sich keinen Bruch darstellt. Die verschiedenen strategischen Entscheidungen zeigen eine Fähigkeit, den Kontext und die Kräfteverhältnisse zu verstehen, welche die Organisation dazu veranlassen, Entscheidungen aus pragmatischen Gründen zu treffen. Diese Entscheidungen führen dazu, dass sie sich einerseits zunächst in Richtung eines islamistischen und militaristischen Vorgehens entwickelt, weil der Kontext dies erfordert, und andererseits in Richtung einer Öffnung gegenüber der Gesellschaft und dem Rest der revolutionären Bewegung.
Kommen wir auf die erste Periode zurück, in der sich die pragmatische Radikalität von «al-Nusra» durch zwei wesentliche Elemente auszeichnete: die Abgrenzung von anderen Rebellengruppen durch die Weigerung, mit dem Regime über eine Deeskalation zu verhandeln, und eine ideologische Eskalation des Dschihadismus. Auch hier sind es der Kontext und die Kräfteverhältnisse ausserhalb der Organisation, die uns ein Verständnis dieser Entscheidungen ermöglichen. Die Unnachgiebigkeit der Gruppe bei der Verweigerung von Verhandlungen mit dem Regime und die Beibehaltung einer militaristischen Linie erscheint heute als eine vernünftige Entscheidung angesichts eines Regimes, das keine seiner Verpflichtungen eingehalten und die Rebellengruppen, mit denen es verhandelte, nacheinander zerstört hat(4). Während die Staaten, die vorgaben, die Rebellion zu unterstützen, die sogenannten «gemässigten» Fraktionen unablässig zu Verhandlungen drängten, die zum Scheitern verurteilt waren, etablierte sich «al-Nusra» als Monopolinhaberin einer Position, die als authentisch revolutionär angesehen wurde, nämlich diejenige, die den vollständigen Sturz des Regimes anstrebte. In diesem Zusammenhang scheint die pragmatischste Position daher die radikalste zu sein. Auf ideologischer Ebene sind die Jahre 2012 bis 2017 auch von einer islamistischen Eskalation geprägt, welche die gesamte Rebellion trifft5: eine Dynamik, die sich weitgehend durch die Konfessionalisierung des Konflikts sowohl auf Seiten des Regimes als auch der Rebellion mit der Intervention externer Gruppen – Hisbollah, Iran, ausländische Dschihadisten – erklärt, und vor allem ab 2013 bis 2014 mit der Konkurrenz, die der «Islamische Staat» (IS) den anderen Fraktionen auferlegt hat.
Der Aufstieg des IS treibt die anderen islamistischen Akteure der Rebellion in einen unausweichlichen ideologischen Wettstreit, um nicht Kämpfer und Finanzmittel an diesen selbstdeklarierten «Staat» zu verlieren, der anfangs einen Sieg nach dem anderen einfährt. Auch hier bestimmt der Kontext die strategischen Entscheidungen und treibt «al-Nusra», dieVorläuferin der HTS, zu einer Radikalisierung ihrer Positionen, zu einer Bekräftigung ihrer Verbindungen zu «al-Qaida» sowie zur Einbindung von Führungskräften des internationalen Dschihad auf hoher Ebene. In diesem Zusammenhang intensiviert diese Organisation im Zeitraum von 2014 bis 2016 die Liquidierung von Gruppen der «Freien Syrischen Armee» (FSA) im Norden des Landes, insbesondere von nicht-islamistischen Fraktionen.
Eine veränderte Situation
Ab 2016 bis 2018 treten zuerst «Dschabhat Fath asch-Scham» und als Nachfolgerin dann die HTS in eine ganz andere Phase ein; noch deutlicher wird dies ab 2020. Das Umfeld, das bis dahin die Positionierung der HTS bestimmte, ändert sich radikal und man beobachtet zu dieser Zeit eine signifikante Entwicklung sowohl im Diskurs als auch in der Praxis der Organisation. Dies ist das Resultat von folgender Konstellation: Das Regime organisiert zwischen 2016 und 2018 die Evakuierung der belagerten Rebellengebiete in Aleppo, Damaskus, Homs und Deraa; dann im Jahr 2020 kommt es zur Flucht und Vertreibung der Bevölkerung aus dem Süden der Provinz Idlib. In all diesen erwähnten Gebieten war die Präsenz dschihadistischer Gruppen viel geringer als weiter im Norden. Die erzwungene massive Ankunft im nördlichen Idlib einer stark politisierten und in der revolutionären Bewegung verankerten Bevölkerung, die grösstenteils nichts mit einer dschihadistischen Ideologie zu tun hat, verändert die Situation für die HTS, die gleichzeitig ihre sogenannte «Heilsregierung» einsetzt, um die unter ihrer Kontrolle stehenden Gebiete zu verwalten. Diese Periode fällt auch mit der Niederlage des IS zusammen, der 2017 Ar-Raqqa und 2019 seine letzte Bastion in Baghuz verliert, aber auch vor allem politisch unglaubwürdig geworden ist.
Die HTS steht nun weniger unter dem Druck der weitgehend geschwächten dschihadistischen Kreise als vielmehr unter dem Einfluss einer Bevölkerung, die nun unter ihrer direkten Verwaltung steht und deren Zusammensetzung sich mit dem massiven Zustrom von nicht-dschihadistischen Revolutionären deutlich verändert hat. Damit wird der HTS eine politische Linie aufgezwungen, die weit von ihrer ursprünglichen Ideologie entfernt ist.
Konzessionen und Dialog
Ein weiterer wesentlicher Faktor im Entwicklungsprozess der HTS ist schliesslich der Waffenstillstand von 2020 unter russisch-türkischer Garantie. Nach einer grossen Offensive des Regimes im Winter 2019 bis 2020 – welche die von der HTS gehaltene Rebellen-Enklave deutlich verkleinert – wird dieser Waffenstillstand unterzeichnet und ausnahmsweise vom Regime relativ eingehalten. Die HTS erlaubt russischen und türkischen Soldaten, auf dem von ihr kontrollierten Gebiet nahe der Frontlinie zu patrouillieren, um die Einhaltung des Abkommens zu gewährleisten – eine Tatsache, die fast fünf Jahre lang eine gewisse Stabilität ermöglicht. Diese Vereinbarung ist unter Inkaufnahme eines erheblichen Zugeständnisses geschlossen worden, das darin besteht, dass die Organisation, die zuvor mit «al-Qaida» verbunden war, türkische und russische Patrouillen eskortieren muss, also von zwei Ländern, die dschihadistische Kreise als Feinde ansehen. Dies ruft den Widerstand der radikalsten Elemente auf den Plan, wie von denjenigen, die «al-Qaida» die Treue gehalten haben. Wiederholt versuchen sie, diesen Waffenstillstand zu brechen. Diese Dissidenten werden von der HTS jedoch wirksam ausgesondert und unterdrückt. So zeigt sich, dass bestimmte Entscheidungen, die aus reinem Pragmatismus getroffen wurden (Waffenstillstand, Bruch mit «al-Qaida», Handreichung an Minderheiten), letztendlich eine echte strukturelle Veränderung der Organisation bewirken, indem die radikalsten Elemente, die sich diesen Zugeständnissen widersetzen, einfach ausgeschlossen oder liquidiert werden.
Diese Transformation, die ab 2020 deutlich wird, zeigt sich in Bezug auf die Verwaltung der Gebiete in der schrittweisen Verbreitung der dreistufigen Flagge der Revolution und einer erhöhten Toleranz gegenüber Gegenpolen und einer autonomen Zivilgesellschaft. Die Regierungsform der HTS in Idlib bleibt autoritär und zentralisiert, weit entfernt von den Selbstorganisationsversuchen der Bürgerräte zu Beginn der Revolution, aber die Haltung der Behörden öffnet sich dem Dialog mit der Gesellschaft und macht Zugeständnisse. Es finden regelmässig Demonstrationen und Streiks statt, entweder um die Politik der HTS zu kritisieren oder um die Eröffnung einer Front gegen das Regime zu fordern. In den zwei Jahren vor der Eroberung von Damaskus werden viele Aktivist·innen, die sich historisch gegen «al-Nosra» und dann gegen die HTS gestellt haben und von denen einige inhaftiert waren, nun regelmässig von den Führern der Bewegung konsultiert, und zwar mehrfach von al-Joulani selbst.
Ein letztes markantes Element dieses Wandels ist schliesslich die Öffnung gegenüber den kleinen christlichen und drusischen Gemeinschaften in Idlib, die unterdrückt und teilweise vertrieben worden waren. Dabei handelt es sich nicht um eine reine PR-Aktion, wie es oft dargestellt wurde. Vielmehr ist ein Prozess der Rückgabe beschlagnahmter Güter sowie eine ernsthafte Verpflichtung zur Gewährleistung der Sicherheit in Gang gekommen, die eine schrittweise Rückkehr der Bevölkerung und den Aufbau von Verbindungen zu den aufständischen drusischen Gemeinschaften im Süden sowie zu christlichen Gemeinschaften in anderen Regionen ermöglicht haben. Dabei handelt es sich um Verbindungen, die sich in der Endphase von November-Dezember 2024 als entscheidend erweisen sollten. Die Zeit der Revolutionsregierung (2020-2024), die durch eine teilweise Rückbesinnung der HTS auf die revolutionäre Linie von 2011 gekennzeichnet war, hat somit die Grundlagen für die Methode gelegt, die bei der Blitzoffensive Ende 2024 zum Einsatz gekommen ist.
Die HTS-Methode für den Sieg
Der Sieg der Rebellen im Dezember 2024 kann nicht als ein rein militärischer Sieg einer Armee über eine andere verstanden werden. Das Regime ist zuletzt von selbst, praktisch völlig kampflos, zusammengebrochen. Die Schwächung der Hisbollah und der teilweise Rückzug der Russen reichen nicht aus, um dieses Debakel des Regimes zu erklären. Die zahlreichen geheimen Stützpunkte der pro-iranischen Milizen, die nach dem Endkampf entdeckt wurden, waren voller Waffen, und trotz der Reduzierung ihrer militärischen Kapazitäten versuchten die Russen tatsächlich, ihre Luftwaffe wieder einzusetzen, und hätten die auf Damaskus vorrückenden Rebellenkolonnen, die keine Luftabwehrwaffen hatten, sehr wohl zerstören können. Dies wäre umso einfacher gewesen, wenn es den Kämpfern des Regimes gelungen wäre, der Offensive standzuhalten und eine feste Frontlinie zu schaffen, die aus der Luft leicht hätte anvisiert werden können. Wie die Russen jedoch selbst erklärt haben, können sie Assad nicht retten, wenn seine Soldaten ihre Stellungen aufgeben6. Diese allgemeine Räumung der Stellungen lässt sich eher durch die politischen Manöver der HTS als durch ihre rein militärischen Fähigkeiten erklären. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass sich der syrische Militärapparat in den letzten Jahren des Konflikts im Zuge der Dynamik der Privatisierung und Destrukturierung des Staatsapparats durch das Regime allmählich «miliziert» hatte. Von nun an fungierten die Einheiten der regulären Armee als Hilfstruppen für die Milizen und nicht umgekehrt. Diese Milizen, oft nach ethnisch-religiöser Zugehörigkeit organisiert und unter ausländischer Führung, kämpften gegen einen sunnitischen Feind, der als existenzielle Bedrohung empfunden wurde. Die Mobilisierung der ethnisch-religiösen Minderheiten hatte es bisher ermöglicht, die sunnitischen Gebiete einzudämmen, so sehr, dass es den Rebellen selbst auf dem Höhepunkt ihrer Macht nie gelungen war, über eine von den Minderheiten markierte Verteidigungslinie hinauszugehen. Im Norden des Landes verlief diese Linie unterhalb der christlichen und alawitischen Dörfer nördlich und westlich von Hama. Während der Offensive im Winter 2024 kämpfen die Milizen der beiden Minderheiten aber erstaunlicherweise nicht mehr. Um dieses Abkommen zu verstehen, muss man die Ereignisse Schritt für Schritt nachvollziehen. Der erste Schritt zur Zerstörung des Narrativs des Regimes erfolgt durch die Mobilisierung der Drusen ab Sommer 2023. Schnell erklärt sich der Aufstand in Suwaida solidarisch mit den Rebellen in Idlib und stellt Kommunikationswege zwischen den beiden Provinzen her. Die Propaganda von einer sunnitischen Rebellion gegen die Minderheiten funktioniert plötzlich nicht mehr und das Regime beginnt bereits, eine Ansteckung innerhalb der alevitischen Gemeinschaft zu befürchten. Gleichzeitig ermöglicht die von der HTS den Christen und Drusen von Idlib gereichte Hand die Schaffung neuer Kontaktstellen, die für die Koordinierung des Vorrückens der HTS nützlich sein werden. Die zweite Etappe findet während der ersten Phase des Endkampfes statt, mit der überraschenden Eroberung von Aleppo. Die HTS zwingt seinen Kämpfern eine eiserne Disziplin auf und vermeidet so die von allen erwarteten Ausschreitungen. Eine unbewaffnete Delegation von HTS-Vertretern betritt die christlichen Viertel von Aleppo, um sich an die Bevölkerung zu wenden und sie aufzufordern, ihre Geschäfte zu öffnen, einschliesslich der Weihnachtsmärkte und der Restaurants, die Alkohol verkaufen. (...) Die dritte Etappe findet zum Zeitpunkt der Einnahme der Provinz Hama statt und stellt den eigentlichen Wendepunkt dar. Die christlichen, alawitischen und in geringerem Masse ismaelitischen Milizen fliehen kampflos, meist unter dem Druck der lokalen Bevölkerung und der Anführer der Gemeinschaften, die seit der Schlacht von Aleppo verstanden haben, dass die HTS letztlich keine Bedrohung darstellt, und die in einigen Fällen direkte Kontakte zur Rebellion hergestellt hatten. (...)
Die Einnahme von Hama – und vor allem der dortigen alawitischen und christlichen Gebiete – durch die HTS, ohne Widerstand oder Übergriffe, stellt einen echten Wendepunkt in der Offensive dar. Von diesem Moment an ist klar, dass die Tage des Regimes gezählt sind. Im Gegensatz zu seiner Vorgängerin, «al-Nusra», nahm die HTS die Ängste der Minderheiten ernst, setzte (zumindest während des Endkampfes) auf eine nationale, inklusive Rhetorik und Symbolik und vermied Übergriffe. Ohne dies wäre es dem Regime sehr wahrscheinlich gelungen, seine Kräfte für eine letzte Verteidigung zu mobilisieren, die Fronten nördlich von Hama zu festigen und möglicherweise der russischen Luftwaffe eine Neuaufstellung zu ermöglichen. Der mit den Gemeindevorstehern koordinierte Einmarsch und das Ausbleiben von Übergriffen gingen mit einer schnellen Wiederherstellung von verschiedenen öffentlichen Diensten in den neuen befreiten Gebieten einher, die sich sowohl auf die Wiedereröffnung bestimmter staatlicher Verwaltungen als auch auf den Einsatz des Verwaltungsapparats der «Heilsregierung» von Idlib stützte.
Eine neue Phase
Es ist daher einleuchtend, dass die Veränderung der HTS und ihrer politischen Strategie vor und während der siegreichen Offensive im Dezember 2024 entscheidender war als die militärischen Aspekte. Aber mit der Machtübernahme treten Ahmed al-Charaa und seine Organisation in eine neue Phase ein. Zu diesem Zeitpunkt ist es noch zu früh, um die Art der neu eingesetzten Macht zu verstehen. Zwar scheint die Bewegung ihren Kurs weg von ihrer dschihadistischen Vergangenheit zu bestätigen, aber diese politische Neuausrichtung erfolgt durch die autoritäre Konsolidierung einer Macht, deren vorübergehender Charakter sich zu verfestigen droht.
Félix Legrand, CAREP*
Im nächsten Teil geht es um die aktuelle Situation in Syrien seit Dezember 2024 bis heute.
*Centre arabe de recherches & d’études politiques (Arabisches Zentrum für politische Forschung und Studien), 12, rue Raymond Aron 75013 Paris, contact@carep-paris.org +33 (0)1 43 45 45 94
Die in dieser Publikation geäusserten Meinungen sind die des Autors und spiegeln nicht unbedingt die Position des CAREP Paris wider.
Komitee zur Befreiung der Levante bzw. auch Organisation zur Befreiung Syriens, (oft auch in englischer Transkription «Hayat Tahrir al-Sham»): ein islamistisches Bündnis verschiedener Milizen, die gegen Al Assad gekämpft haben.
In diesem Artikel verwenden wir den Namen «Abu Mohammed al-Joulani» für die Zeit vor dem 8. Dezember – der Einnahme von Damaskus – und «Ahmed al-Charaa» für die Zeit danach.
Jérôme Drevon und Patrick Haenni, »How Global Jihad Relocates and Where it Leads. The Case of HTS, the Former AQ Franchise in Syria”, EUI Working Papers, Robert Schuman Centre for Advanced Studies – The Middle East Directions Programme, European University Institute, 2021.
«La Stratégie de Jabhat al-Nusra – Jabhat Fath al-Sham face aux trêves en Syrie», Noria Research, 2. Oktober 2016. www.noria-research.com/fr/strategie-treves-syrie/
Félix Legrand, «Foreign Backers and the Marginalization of the Free Syrian Army», Arab Reform Initiative, 13. November 2016. www.arab-reform.net/publication/foreign-backers-and-the-marginalization-of-the-free-syrian-army/
Ahmad Abazeid und Thomas Pierret, «Les Rebelles syriens d'Ahrar al-Sham. Ressorts contextuels et organisationnels d'une déradicalisation en temps de guerre civile», Critique internationale, 78, 2018, S. 63-84.