SYRIEN: Grosser Aufbruch, langer Krieg

von Das Interview führte Alex Robin (Teos, Türkei, 11. November 2015), 21.03.2016, Veröffentlicht in Archipel 246

Vor fünf Jahren begann der arabische Frühling – auch in Syrien. Oussama, ein syrischer Flüchtling, den wir im November 2015 in der Türkei getroffen haben, erzählt über den fast vergessenen Aufbruch einer friedlichen Freiheitsbewegung in der Bevölkerung seines Landes und beschreibt die Entfesselung eines Krieges, der diesen Anfang zunichte machen sollte.

Archipel: Wie hast du die Politik in Syrien vor 2011 und danach erlebt?
Oussama: Vor den Assads gab es eine interessante politische Periode zwischen den 1950er und 1970er Jahren, nachdem unter anderem die Frauen im Jahr 1946 das Wahlrecht bekommen hatten. Dann kam Assad mit einem Putsch an die Macht. Er gründete seine eigene Partei, säuberte die Militär- und Wirtschaftskreise, ausgehend von einem Pakt mit der Bourgeoisie, ähnlich wie es in Ägypten geschah. In den 1990er Jahren, nachdem der Ostblock zusammengebrochen war, öffnete er sich geschickt gegenüber dem Westen, spielte im Libanon mit und nahm eine Rolle im Golfkrieg auf Seiten des Westens ein. Es kam zu einer gewissen wirtschaftlichen Liberalisierung, aber der Präsident blieb tabu, auch wenn man andere Führungsfiguren kritisieren durfte. Es kam zu verschiedenen Revolten in den grossen Städten, in Hama und Aleppo und auch in Duma, in meiner Stadt1, wo es Oppositionelle ganz verschiedener Ausrichtungen gab: an Nasser 2 orientierte Nationalisten, Sozialisten, Muslimbrüder und Kommunisten. Ich war immer in oppositionelle Kreise involviert. Als Jugendliche waren wir alle in der Parteijugend der machthabenden Baath-Partei eingespannt, aber als Kinder unserer andersdenkenden Eltern kamen wir zum Schluss, dass wir etwas tun mussten. Wir wollten Freiheit! Freiheit bedeutete auch, sich nach dem Ort erkundigen zu dürfen, wo sich ein verhafteter Bruder hätte befinden können. Es war sogar verboten, auch nur seinen Vornamen vor den Polizisten zu nennen. Deshalb waren wir froh, als der arabische Frühling begann; wir waren zur Revolte bereit. Es war eine wirkliche Revolution. Die Bevölkerung ging auf die Strasse, vor allem in den ersten Monaten, im März und im April 2011. Es gab zu dieser Zeit rund hundert verschiedene Orte im ganzen Land, wo dies geschah. Bachar El Assad traute seinen Augen nicht und im April begann er mit den Massakern. Ich kann darüber reden, was sich in meiner Stadt zugetragen hat. In Duma gingen wir am 25. März auf die Strasse. Drei Demonstranten wurden von Sicherheitskräften erschossen, die sich auf den Dächern verschanzt hatten. Am Tag darauf gingen 40'000 Menschen zur Beerdigung. In den folgenden Tagen wurden elf weitere Personen von den Sicherheitsleuten erschossen, obwohl wir völlig friedlich für ein geeintes und konfessionsfreies Syrien demonstrierten. Die Staatsmacht behauptete, dass Provokateure, die nichts mit dem Staat zu tun hatten, gezielt in die Menge geschossen hätten, um Chaos zu verursachen. Daraufhin wurden überall Checkpoints eingerichtet. Ich, von Beruf eigentlich Beamter für internationale Beziehungen, war während neun Tagen eingeschlossen, weil Sicherheitskräfte und Armee die Strassen blockierten. In dieser Zeit begannen die Sicherheitsleute, Parolen auf die Wände zu schreiben: «Assad oder niemand!» – «Assad oder wir verbrennen das Land!» Auf Arabisch ergibt das einen Reim. Sie wollten uns zu verstehen geben, dass sie bereit waren, das Land über unsere Köpfe hinweg zu zerstören, ohne Rücksicht auf Verluste. Der Regierungssprecher liess gleichzeitig verlauten, dass Islamisten, sunnitische Extremisten, die anderen Konfessionen angreifen würden und dass das Chaos in Syrien vorprogrammiert wäre. Das haben sie so gesagt! Das haben sie so geplant!
Dies wurde gesagt, als die Demonstrationen keinerlei konfessionelle Züge trugen?
Ja, die Bevölkerung war gegen das Regime aufgestanden und nicht nur eine einzelne Gruppe! Als sich die Armee dann nicht neutral verhielt, sondern auf der Seite Assads agierte, entstand die «Freie Syrische Armee» – gegründet von Soldaten, die das offizielle Militär verlassen hatten. Dies geschah im Juli und August 2011. In diesem Zusammenhang bildeten sich auch lokale bewaffnete Gruppen der «Freien Armee», ohne religiöse Zugehörigkeit, die sich zur Aufgabe machten, die Demonstrationen gegen die Angriffe der Sicherheitskräfte zu schützen. Anfangs funktionierte das. Doch dann liess Assad die Islamisten, die eigentlich gegen sein Regime sind, aus den Gefängnissen frei, damit islamistische Kampfgruppen entstünden, die in der Revolution mehr und mehr einen Platz einnahmen.
Sind diese Islamisten bekannt?
Ja, ausserdem haben sie Charisma; sie sind im Gefängnis auch gefoltert worden. Das Problem ist jedoch, dass sie im Kampf gegen Assad direkt von den Golfstaaten finanziert wurden. So begann das politische Spiel mit dem Geld, das an diese Gruppen geht. Ich denke, dass sogar das Regime darüber auf dem Laufenden war und dies geschehen liess – aus Eigeninteresse. Jetzt tauchten die Slogans gegen die anderen Konfessionen auf, zum Beispiel gegen die Alewiten. Aber diese blieben minimal. Ich denke, es handelt sich um ein Problem der «Internationalen Gemeinschaft». Wenn die islamistischen Gruppierungen von Vorneherein gestoppt worden wären und wir mehr Mittel gehabt hätten… Aber es wird ein grosses Spiel gespielt. Wenn ich von der «Internationalen Gemeinschaft» rede, meine ich nicht nur den Westen, sondern die ganze Welt. Niemand wollte wirklich verstehen, was bei uns passiert. Als Syrer spüren wir eine grosse Ungerechtigkeit; wir wurden im Stich gelassen: Ich rede von den Zivilisten, die jeden Tag sterben. Alle wollen weg, weil die Lebensbedingungen schrecklich sind. Als Oppositionelle waren wir gezwungen, Syrien zu verlassen. In meiner Familie wurden neun meiner Cousins, mein Bruder und die Töchter meiner Schwester getötet – alle durch das Regime. Wir müssen sowohl auf der politischen als auch auf der humanitären Front agieren, was sehr erschöpfend ist. Und da fühlen wir uns allein gelassen.
Ist in Duma, im Osten von Damaskus, die «Freie Syrische Armee» noch stark vertreten?
In Duma und Umgebung zählte die «Freie Syrische Armee» 15'000 Mitglieder, alles Sozialisten. Aber inzwischen sind durch die Bombardierungen des Regimes 70 Prozent der Region und ihre gesamte Infrastruktur zerstört. Die freien Widerstandskämpfer sind nicht unterstützt worden. So sind sie der Gruppierung «Jaysh al Islam» (Armee des Islam) beigetreten, die islamistisch ausgerichtet ist, aber nicht zu den wirklich extremistischen Strömungen gehört. Diese Armee zählt rund 30'000 Männer vor den Toren von Damaskus. Wir kennen sie; es sind die Männer aus unseren Familien. Sie sind mit der «Armee des Islam», weil sie und ihre Nächsten essen müssen. Es gibt viele unter ihnen, die zwei Tage an die Front gehen und so ihren Sold einstreichen, um ihre Kinder zu ernähren, und dann ihr Leben «normal» weiterführen während den restlichen Tagen in der Woche.
Die «Armee des Islam» wird offenbar von Saudi-Arabien finanziert. Welchen Einfluss hat dies auf das Verhalten ihrer Mitglieder?
Man kann die Überzeugungen von 30'000 Männern nicht einfach umkrempeln; das spielt sich nur auf der Chefebene ab. Ich weiss, wie das läuft: Man kann das Gebet anordnen, aber wenn du daheim nicht betest, kann niemand etwas machen. Man kann auch den Leuten das Rauchen nicht verbieten: Du hast nicht das Recht, vor anderen zu rauchen. Das wird soweit eingehalten, weil man den Lohn braucht. Aber die Männer haben sonst ein normales Leben, sie sind Sozialisten. In Duma gibt es jetzt 300'000 Einwohner, vorher waren es 600'000. Ich bezweifle, dass diejenigen, die von Saudi-Arabien unterstützt werden, eine solche Stadt kontrollieren können. Ich komme aus dieser Stadt und ich weiss, dass die Leute ganz normal sind, das Leben lieben, dass sie wollen, dass der Krieg zu Ende geht, dass sie zu ihren Berufen, in ihre Gärten und Läden zurückkehren möchten.
Gibt es noch einen Widerstand in Syrien?
Ja, natürlich. Das Regime gibt immer noch vor zu regieren und unterdrückt das Volk. Es kontrolliert den Luftraum, dank der Unterstützung Russlands. Das Kräfteverhältnis ist völlig ungleich, aber es gibt bis heute einen Widerstand.
Wie siehst du der Daech, der hier in den westlichen Medien einen grossen Platz einnimmt?
Wir Syrer sind alle gegen den Daech und gegen alle anderen extremistischen Islamisten. Für uns ist der Daech eine Kreation der Geheimdienste. Die Kämpfer kommen von überall her und wir wissen nicht einmal, wer sie sind.
Ehemalige Offiziere von Saddam Hussein und irakische Islamisten stehen am Anfang vom Daech.
Ja, ich weiss. Wenn man aber sieht, wie einfach der Daech in kurzer Zeit ein Gebiet grösser als Grossbritannien erobern konnte, sagt man sich, dass das nicht normal ist.
Du willst damit sagen, dass nicht alles unternommen wurde, um dem Daech Einhalt zu gebieten?
Genau. Man konnte sehen, wie sich die irakische Armee innerhalb von drei Stunden vor dem Daech zurückzog; genauso in Syrien, wo sich in Raqua die Armee von Bachar El Assad aus dem Staub gemacht hat, damit sich der IS installieren konnte. Zum Beispiel siehst du den Daech nicht in der Nähe von Damaskus. Ein paar wenige Daech-Leute gibt es im Süden von Damaskus, aber das zählt nicht.
Siehst du die Möglichkeit einer Lösung für Syrien?
Ich bin trotz allem optimistisch. Wir kämpfen für eine Lösung, in der unser Volk die Freiheit gewinnt. Es wird eine Lösung geben, aber diese braucht Zeit.

  1. Die Stadt Duma gehört zur nordöstlichen Agglomeration von Damaskus.
  2. Gamal Abd el-Nasser (1918-1970): ägyptischer Staatsmann.