Krise, welche Krise? So tönten bis vor kurzem liberale, rechte und auch linke Ideologen, die an das ewige Leben des Kapitalismus glauben.
Dass diese Art der Gesellschaft nicht nur eine
Geschichte hat, sondern geradezu die Geschichte einer blinden Dynamik ist, wurde zunehmend ausgeblendet.
Gerade in den letzten beiden Jahrzehnten wollte man nur noch vorübergehende «Ereignisse» in den ahistorischen gesellschaftlichen Formen einer kapitalistischen Ontologie wahrnehmen. Das gilt für die gewöhnlichen Menschen und die Armen genauso wie für die Eliten. Wie bei Oscar Wildes Romanfigur Dorian Gray schien statt des Kapitalismus selbst nur das Bild der von ihm geschaffenen sozialen Welt zu altern und die Züge des Elends anzunehmen, während die Logik des Geldes in falscher Jugendfrische glänzte. Der «schwarze Montag» des größten Finanzkrachs aller Zeiten hat nun mit einem Schlag das wahre Gesicht des kapitalistischen Dorian Gray enthüllt.
Aber diesen Charakter des neuen Krisenschubs will niemand wahrhaben. Das Urvertrauen in den Kapitalismus führt bloß zur Suche nach Schuldigen. «Unseriöse Praktiken» von Spekulanten und eine «angelsächsische Wirtschaftspolitik» sollen verantwortlich für das Desaster sein. Diese kurzsichtige Erklärung mit antisemitischen Untertönen wurde schon in der Vergangenheit immer wieder bemüht. Seit mehr als zwanzig Jahren hat eine Welle von Finanzkrisen die Globalisierung begleitet. Alle scheinbar erfolgreichen Maßnahmen zur Verhinderung einer «Kernschmelze» des internationalen Finanzsystems konnten das Problem nur umgruppieren, aber nicht bewältigen.
Die aktuelle Entwicklung sprengt alle bisherigen Konzepte; sie betrifft keineswegs bloß den Sektor der US-Hypothekenkredite, sondern hat eine Kettenreaktion ausgelöst, die noch lange nicht beendet ist. Die Ursachen können unmöglich im individuellen Versagen und in moralischen Defiziten der Akteure liegen, sondern nur im realökonomischen Kern des Systems.
Kapitalismus ist nichts anderes als ein Selbstzweck der Anhäufung von Geld, dessen «Substanz» in der ständig erweiterten Anwendung menschlicher Arbeitskraft besteht. Gleichzeitig führt jedoch die Konkurrenz zu einer Steigerung der Produktivität, die Arbeitskraft in immer größerem Maßstab überflüssig macht. Dieser Selbstwiderspruch schien sich trotz aller Krisen stets in eine Regeneration der massenhaften Absorption von Arbeitskraft durch neue Industrien aufzulösen. Das «Wirtschaftswunder» nach 1945 hat diese Fähigkeit des Kapitalismus zum Glaubensbekenntnis gemacht. Seit den 1980er Jahren brachte jedoch die dritte industrielle Revolution der Mikroelektronik eine neue Qualität der Rationalisierung hervor, von der menschliche Arbeitskraft in einem bisher nie da gewesenen Ausmaß entwertet wird. Die reale «Substanz» der Verwertung von Kapital schmilzt ab, und neue Industrien mit der Potenz eines selbsttragenden Wachstums sind ausgeblieben. Der Neoliberalismus war nichts anderes als der Versuch, einerseits die daraus folgende soziale Krise repressiv zu verwalten und andererseits ein «substanzloses» Wachstum des «fiktiven Kapitals» durch die hemmungslose Aufblähung von Kredit, Verschuldung und Finanzblasen auf den Aktien- und Immobilienmärkten zu erzeugen.
Diese weltweite Öffnung der Geldschleusen und vor allem die Dollarschwemme durch die US-Notenbank war jedoch bereits der Sündenfall des sogenannten Monetarismus, der als Kern der neoliberalen Doktrin postuliert hatte, die Geldmenge knapp zu halten. In Wirklichkeit wurde mit der aus dem Nichts geschöpften staatlichen Geldflut eine Inflation von fiktiven Vermögenswerten subventioniert. Dieser paradoxe «Sozialismus des substanzlosen Geldes» erlebt jetzt sein Waterloo wie zuvor schon der östliche Staatskapitalismus und die keynesianische Version staatlich subventionierten Wachstums im Westen. Die faktische Verstaatlichung des US-Bankensystems und der Plan des US-Finanzministers, die Krise mit rund tausend Milliarden Dollar an staatlichen Geldern aufzufangen, sind nur als Akt der Verzweiflung zu werten. Über Nacht hat sich der staatskapitalistische Charakter der vermeintlichen Freiheit der Märkte offenbart. Ironiker sprechen bereits von der «Volksrepublik Wallstreet». Gelöst ist damit nichts. Es handelt sich gewissermaßen um das letzte Stadium des Staatskapitalismus, der bestenfalls den Zusammenbruch der Bilanzen durch weitere inflationäre Geldschöpfung hinausschieben kann. Für neue Konjunkturprogramme, die aus derselben Quelle schöpfen müssten, existiert im Unterschied zu früheren Epochen kein Spielraum.
Damit ist auch das Ende der USA als Weltmacht gekommen. Die Interventionskriege sind nicht mehr aus der Portokasse zu finanzieren und der Dollar wird als Weltgeld obsolet. Aber es ist kein Ersatz für die Rolle der letzten Weltmacht und des Dollars in Sicht. Das Ressentiment gegen die «angelsächsische Dominanz» ist keine Kapitalismuskritik und unglaubwürdig. Denn es waren die einseitigen Exportströme in die USA, von denen die globale Defizitkonjunktur getragen wurde. Die industriellen Kapazitäten in Asien, Europa und anderswo lebten nicht von realen Gewinnen und Löhnen, sondern direkt oder indirekt von der Außenverschuldung der USA. Eigentlich war die neoliberale Finanzblasen-Ökonomie eine Art «Weltkeynesianismus», der jetzt genauso erlischt wie der frühere nationale Keynesianismus. Die angeblich aufstrebenden «neuen Mächte» sind allesamt ökonomisch unselbständig in den globalen Defizitkreislauf eingebunden. Ihre viel bewunderte Dynamik war bloßer Schein ohne eigene innere Entwicklung. Deshalb wird es nirgendwo die Rückkehr zu einem «seriösen» Kapitalismus mit «reellen» Arbeitsplätzen geben. Stattdessen ist der Domino-Effekt eines Rückschlags der Finanzkrise auf die Weltkonjunktur zu erwarten, dem sich keine Region entziehen kann. Staatskapitalismus und «freier» Konkurrenzkapitalismus erweisen sich als zwei Seiten derselben Medaille. Erschüttert wird nicht ein «Modell», das durch ein anderes abgelöst werden könnte, sondern die herrschende Produktions- und Lebensweise als gemeinsame Grundlage des Weltmarkts.