Zehn Jahre nach der Konferenz von Rio, mit der das Konzept der nachhaltigen Entwicklung Einzug in die öffentliche Diskussion der 178 Unterzeichnerländer fand, fällt die in Johannesburg gezogene Bilanz eher mager aus. Obwohl die Medien fast täglich Meldungen über irgendein Großunternehmen bringen, das gerade seinen „Bericht zur Nachhaltigkeit" der Öffentlichkeit präsentiert, hat sich die Situation seit den sechziger Jahren1 weder für die Umwelt noch für die Menschen wesentlich verbessert...
In den Monaten vor dem Gipfel von Johannesburg war allerorts von Vorstößen im Sinne einer nachhaltige Entwicklung die Rede. Die Umweltaktivisten der ersten Stunde – und eigentlichen Urheber des Konzepts – verwahrten sich gegen diesen Etikettenschwindel2. Als der WWF den Bericht des Zement- und Baustoffkonzerns Lafarge gegen eine jährliche Subvention von 1,1 Millionen Euro absegnete, protestierte die Zeitschrift „L’Ecologiste" gegen einen solchen Kuhhandel und warnte: „Die Aktivisten müssen radikal bleiben, damit das Gebäude nicht in Richtung egoistischer Interessen kippt".4
Die Mode der nachhaltigen Entwicklung: Man sieht vor lauter Wald die Bäume nicht mehr ...
Das Gebäude scheint jedoch bereits in Richtung wirtschaftlicher und industrieller Interessen gekippt zu sein, und das auf Kosten der Umwelt und der kommenden Generationen: 13,5 Prozent der Menschen leiden Hunger, 18 Prozent der Weltbevölkerung verbrauchen 63 Prozent des jährlich geförderten Erdöls. Die Debatte um die Nachaltigkeit ist zwar ein Thema für die politischen Entscheidungsträger, in den Chefetagen der großen Unternehmen und in der einschlägige Fachpresse, die große Mehrheit der Bevölkerung interessiert sie jedoch nur wenig. Und was soll man von der Bush-Administration halten, die sich unter dem Druck der mächtigen Erdöllobby weigert, das Protokoll von Kyoto zu unterzeichnen, damit den Kyoto-Prozess auch in allen anderen Ländern der Welt zu Fall bringen könnte und jede noch so minime Infragestellung einer Funktionsweise kategorisch ablehnt, deren Grenzen doch immer deutlicher sichtbar werden?
Ursprünglich war das Konzept der nachhaltigen Entwicklung zum Schutz der „schwachen Akteure" gedacht (benachteiligte Bevölkerungsgruppen, zukünftige Generationen, gefährdete Arten und Ökosysteme etc.). Doch die „starken Akteure" (Multis und Politiker) haben das Konzept für sich vereinnnahmt. Da sie vom gegenwärtigen System profitieren, erstaunt es nicht, dass sie ihre „neoliberale Vision"2 der Nachhaltigkeit durchsetzen wollen. So wurde aus der „nachhaltigen Entwicklung" immer mehr die nachhaltige industrielle Entwicklung5...
Wir sind weit entfernt von der Definition von J. Holdren et al.6, der zufolge „die Entwicklung als kontinuierlicher Prozess zur Befreiung der Menschheit von den schlimmsten Übeln" verstanden werden sollte (Hunger, Armut, Umweltschäden, Kriege, Menschenrechtsverletzungen, Vergeudung menschlicher Ressourcen, Bevölkerungsexplosion, ungleiche Verteilung der Konsumgüter und Investitionen, schlechte Anwendung der Technologie, Korruption, Gewinnsucht, Egoismus, Intoleranz, Unwissenheit, Lethargie...). Die Autoren präzisieren, dass die anthropozentristische Sichtweise der nachhaltigen Entwicklung, bei der das Wohl der Menschen im Mittelpunkt steht, nicht die einzig mögliche ist, aber sicher jene, welche die größten Chancen hat, in der politischen Arena auf Gehör zu stoßen.
Um das Gleichgewicht wieder herzustellen, muss man bei den „Naiven" das Umweltbewusstsein wecken. Aber wie kann man sie davon überzeugen, ihr Verhalten zu ändern, um die Interessen der zukünftigen Generationen zu schützen?
Sich der Grenzen der Umwelt bewusst zu werden, erfordert von den Sachzwängen des Alltags Abstand zu nehmen. Verschiedene Faktoren verhindern, dass Abstand gewonnen werden kann. Bei den sozial schwachen Schichten sind es Mängel in Bildung und Kultur, bei den Reichen Denkschemen, die einen permanenten psychologischen Stress erzeugen. Diese Menschen zu „beschimpfen" und pauschal zu verurteilen, ohne ihrem Umweltverständnis Rechnung zu tragen, blockiert sie noch mehr in ihren Verhaltensweisen und Denkmustern.7
Kollektives Engagement ist gefragt
Wie kann man unter diesen Bedingungen den Dialog zwischen der Bevölkerung und den Alarm schlagenden „Ökorebellen" ankurbeln?
Hier kann das Konzept der „nachhaltigen Entwicklung" dazu beitragen, eine gemeinsame Sprache zu finden. Das geschieht z. B., wenn Gemeinden vor der Realisierung eines Projekts Verhandlungen und Aussprachen zwischen allen beteiligten Parteien organisieren und die Unternehmen die Einwände der Betroffenen Ernst nehmen8. Theoretisch sollte eine solche Vorgangsweise den Umweltorganisationen und Bürgerinitiativen ermöglichen, die Interessen der nicht repräsentierten gesellschaftlichen Gruppen und Bereiche (kommende Generationen, Umwelt aber auch Wohlstandsverlierer) wahrzunehmen. Wenn sich die Umweltschützer nun aus der Nachhaltigkeitsdebatte verabschieden und sich aus solchen Vehandlungen heraushalten, wer wird dann den „starken Akteuren" auf die Finger schauen und wenn nötig auch klopfen? Wer wird von den öffentlichen und privatwirtschaftlichen Auftraggebern Rechenschaft verlangen? Wenn niemand die Interessen der „schwachen Akteure" vertritt, wird sich die neoliberale Version der nachhaltigen Entwicklung durchsetzen und niemand mehr die „aktuelle Entwicklung in Frage stellen".3
Aber ist der Dialog ausreichend, um eine Verhaltensänderung auf allen Seiten zu bewirken? Wir haben festgestellt, dass die kleinen und mittleren Unternehmen9, die in engem Kontakt mit verschiedenen lokalen Partnern stehen, die Umwelt am meisten respektieren. Die Anrainer spielen eine entscheidende Rolle, indem sie die Firmen mahnen, umweltschädliche Einflüsse einzuschränken und ihnen die wirtschaftliche und strategische Bedeutung des Umweltschutzes für den Bestand des Unternehmens zu verstehen geben.
Auch die Gemeinden, die als unterste Verwaltungsinstanz für das ökologische und wirtschaftliche Wohlergehen ihres Gebiets zuständig sind, könnten die Wirtschaftsbetriebe dazu bringen, Umweltschäden weitgehend zu vermeiden. Leider begreifen die französischen Gemeinden, die von den Steuern dieser Unternehmen abhängen, die Bedeutung umweltfreundlicher Forderungen erst, wenn die Organisationen der Zivilgesellschaft ihr Interesse für Umweltfragen lautstark bekunden. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung will zwar gesünder leben, aber nicht auf Kosten ihres eigenen Komforts an die zukünftigen Generationen denken. Die Katze beißt sich in den Schwanz: Um das Umweltbewusstsein der einen (der Industrie) zu stärken, muss das Bewusstsein der ganzen Bevölkerung gestärkt werden... Und beide werden erst dann davon überzeugt sein, dass die Interessen der zukünftigen Generationen berücksichtigt werden müssen, wenn die Diskussionspartner die gleiche Sprache sprechen und wenigstens ein paar gemeinsame Werte haben. Eine demokratische Sensibilisierung wird erst dann gelingen, wenn Akteure entlang der gesamten Wippschaukel jeden einzelnen dazu bringen, sein Verhalten ein bisschen zugunsten des allgemeinen Interesses zu verändern. Die Umweltschützer wissen genau, dass Vielfalt den Reichtum und die Stärke eines Ökosystems ausmacht. Das gilt auch für das System, das von verschiedenen Akteuren gebildet wird, die sich um Umweltfragen kümmern.
Die Stellungnahmen der „Ökorebellen" sind wichtig, um Abstand zu gewissen Institutionen und zur Konsumgesellschaft zu gewinnen. Doch ihre Anliegen müssen so formuliert werden, dass sie allgemein verständlich sind. Regeln müssen festgelegt werden, damit Kooperation nicht zu „Kollaboration" wird und letztlich den Eigeninteressen einiger weniger dient, sondern tatsächlich zu einem Gleichgewicht führt. Dazu bedarf es eines echten Dialogs, in dem die gesellschaftlichen Grundwerte neu definiert werden, um den Materialismus und die Vergeudung natürlicher Ressourcen einzudämmen.