Zwanzig Jahre hat Wassili Nesterenko gekämpft, um die Wahrheit über die Katastrophe von Tschernobyl ans Tageslicht zu bringen und die Kinder gegen die Strahlenbelastung zu schützen. Sein Institut läuft nun Gefahr, wegen Geldmangel geschlossen zu werden. Dies wäre ein unwiederbringlicher Verlust.
Das Belrad-Institut für Strahlensicherheit ist die einzige unabhängige Informationsquelle über die Krankheiten in den vom größten technologischen Unfall der Welt verseuchten Gebieten sowie für die Gesundheit der Bevölkerung tätigs Struktur.
Seit zwanzig Jahren wird ein vorprogrammiertes wissenschaftliches Verbrechen im Herzen Europas begangen, vor den Augen hoher Verantwortungsträger, vor dem Hintergrund allgemeiner Gleichgültigkeit und Desinformation. In Belarus allein müssen sich zwei Millionen Menschen, darunter über 400.000 Kinder, mit Nahrungsmitteln ernähren, die durch radioaktives Cäsium verseucht sind, und somit alle möglichen unbekannten Krankheiten erleiden. Sie verstehen nicht, warum sich die reiche, technologisch fortgeschrittene Welt von ihrem Alptraum abwendet, wo doch ihre Leiden alle Bewohner der Erde bedrohen. Die Antwort auf ihre Verwunderung existiert, sie ist empörend.
Die Wahrheit vertuschen Wenige Menschen wissen, dass ein zwischen der Weltgesundheitsorganisation WHO und der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) abgeschlossener Vertrag die WHO dazu verpflichtet, die Zustimmung der IAEO einzuholen, um auf dem Gebiet der Atomenergie zu agieren. Die IAEO besteht aus Physikern und nicht aus Ärzten. Ihr Hauptziel ist es, die Atomkraft in der ganzen Welt zu propagieren. Sie ist die einzige Organisation der Vereinten Nationen, die direkt dem Sicherheitsrat untersteht. Sie zwingt der WHO ihr Diktat auf, die aus diesem Grund in Tschernobyl nichts unternommen hat. Durch die Vertuschung der Wahrheit verdammen Atomlobby und offizielle Medizin Millionen von menschlichen Versuchskaninchen (Kofi Annan spricht von neun Millionen betroffenen Menschen) dazu, Experimente am eigenen Leib mit neuen Krankheiten zu machen in einem riesigen Laboratorium - den von Tschernobyl verseuchten Regionen. Die Experten beobachten die Bevölkerung, schützen sie aber nicht.
Es ist kaum bekannt, dass im August 1986, also vier Monate nach dem Unfall, die Westmächte die Sowjetunion während einer Konferenz hinter verschlossenen Türen in Wien dazu zwangen, ihre Prognosen über die sanitären Folgen der Katastrophe durch zehn zu dividieren, d.h. 4.000 tödliche Krebserkrankungen statt 40.000 allein im europäischen Teil der UdSSR anzunehmen. Zeugenaussagen und Dokumente, die wir im Lauf von 15 Jahren in dieser Region gesammelt haben, klagen die höchsten Instanzen der Politik und der Wissenschaft eines vorsätzlichen Verbrechens in Tschernobyl an: Verbrechen gegen die Menschheit und gegen die wissenschaftlich belegte Wahrheit.
Was tun?
Die schlecht informierte Weltöffentlichkeit ist ohnmächtig, sie schaut weg, um nicht in ständiger Angst zu leben. Denn die wahre Frage ist: Was können wir tun? Franz Weber, der sich mit dem Einsatz von Munition aus abgereichertem Uran durch die amerikanische Armee auseinandersetzte, hat kürzlich in seiner Zeitschrift einen Wutschrei publiziert gegen die «feigen Opportunisten in Schlüsselpositionen der UNO, die das Verbrechen verschweigen» 1. Doch was tun gegen die schrecklichen Fotos von Missbildungen und tiefen Verletzungen bei irakischen Babys, dieselben, die man bei amerikanischen Babys sehen kann, deren Väter im Golfkrieg gekämpft haben? (Im Jahr 2000 wurden von den 580.000 Männern, die im Irak gekämpft haben, 325.000 lebenslang krankgeschrieben). Dieselben Folgen kann man bei den Kindern der «Liquidateure» beobachten, die unter schrecklichen Bedingungen (hohe Radioaktivität) den Brand von Tschernobyl gelöscht und auf den Ruinen einen instabilen «Sarkophag» gebaut haben; dieselben Folgen auf dem Balkan und in Afghanistan. Welche Aktionen sind möglich, um das vorsätzliche Morden zu beenden? Wie den «feigen Opportunisten» der Wissenschaft und der Medizin die Wahrheit aufzwingen? Denn es sind die «Experten», welche die verantwortungslose Untätigkeit der Regierungen decken.
Doch es gibt Möglichkeiten zu handeln. Schon vor 20 Jahren haben einige mutige und ehrliche Menschen damit begonnen. Ihre Aktionen sind wenig bekannt und werden von einigen Vereinigungen und Privatpersonen aus Westeuropa unterstützt. Heute ist dieses Engagement in Gefahr, denn die Mittel sind beschränkt, und die Atomlobby hat einen enormen Einfluss.
Wassili Nesterenko In den Stunden nach der Katastrophe von Tschernobyl hat ein Mann seine Karriere und seine persönliche Sicherheit aufs Spiel gesetzt, um die Lügen des Staates zu entlarven. Als Mitglied der weißrussischen Akademie der Wissenschaften und Physiker internationalen Rangs hatte Wassili Nesterenko in der Sowjetunion Zugang zu den aus militärischen Gründen gesperrten Städten. Tschernobyl hat sein Leben von Grund auf verändert. Swetlana Alexejewitsch erzählt 2, wie er an einer Konferenz sowjetischer Experten darauf drängte, die Bevölkerung mindestens 100 Kilometer von Tschernobyl wegzubringen, Jodtabletten zu verteilen, die Kinder zu retten. «Der Saal war wie betäubt, doch man fand, er übertreibe maßlos. Er insistierte, kämpfte. Die Zuhörer blieben skeptisch. Als er sah, dass seine Bemühungen umsonst waren, rannen ihm Tränen des Zorns übers Gesicht…» «Ich musste diesen Mann treffen», schließt Swetlana Alexejewitsch 3. Angesichts der Untätigkeit und Lügen der sowjetischen Regierung und ohne die Zustimmung seiner Vorgesetzten beschloss Nesterenko, seine wissenschaftliche Arbeit am weißrussischen Institut für Kernenergetik, das er leitete, einzustellen. Stattdessen setzte er sein gesamtes Personal ein, um die Konsequenzen von Tschernobyl zu untersuchen und Hilfe für die betroffene Bevölkerung zu organisieren. Natürlich wurde er entlassen, der KGB übte Druck auf ihn aus, er überlebte zwei Attentate.
1990 gründete Nesterenko mit der Unterstützung des Physikers Andrej Sacharow das unabhängige Institut für Strahlensicherheit «Belrad», um den Kindern in den von der Katastrophe verseuchten Gebieten zu Hilfe zu kommen. In den am stärksten betroffenen Dörfern von Belarus richtete er 370 lokale Zentren zur Kontrolle der Radioaktivität ein, in denen er Ärzten, Lehrkräften und Pflegepersonal Wissen vermittelte, wie sie sich möglichst gut gegen Strahlenbelastung schützen können. Er stellte der Bevölkerung gratis Mittel zur Verfügung, um die Nahrungsmittel zu kontrollieren. Die Zentren sind in Schulen und in den Räumlichkeiten der Gemeinden eingerichtet. Bleibehälter ermöglichen es, in wenigen Minuten die Radioaktivität pro Kilo Nahrungsmittel zu messen: Milch, Gemüse, Obst, Mehl, Fleisch. Überschreiten die Proben die zugelassenen Normen, wird dies mit der Empfehlung bekannt gegeben, diese Nahrungsmittel nicht zu konsumieren und vor allem nicht den Kindern zu geben. Diese Einrichtungen wurden in der kurzen «Demokratisierungsphase» vom «Tschernobyl-Komitee» der Regierung finanziert, heute, 2006, gibt es nur noch 20 dieser Zentren, die von westlichen NGO unterstützt werden.
1994 erwarb Belrad in der Ukraine mit Hilfe von westlichen NGO Rollstühle, um die Radioaktivität im menschlichen Körper zu messen und perfektionierte diese. Die Spektrometer werden an Computer angeschlossen, welche die Gammastrahlen im Körper aufzeichnen: Cäsium 137, aber auch Kalium. Die mobilen Teams können auch entlegene Dörfer und Weiler erreichen. In den verseuchten Zonen Weißrusslands gibt es 911 Schulen und 810 Kindergärten. Die Messergebnisse werden regelmäßig in einem Dokument veröffentlicht, das sich an die lokalen, regionalen und nationalen Gesundheitsbehörden sowie an die Familien richtet.
Nesterenko ist der einzige Wissenschaftler, der systematisch die künstliche interne Radioaktivität misst. Seine Messungen haben acht Mal höhere Verseuchungswerte ergeben als die des weissrussischen Gesundheitsministeriums, das versuchte, ihn an seiner Arbeit zu hindern. Doch da diese legal war, hat es ihr Ziel nicht erreicht 4. In zwölf Jahren wurden 284.000 Kinder von Belrad untersucht, davon benötigten nur zwischen 10 und 15 Prozent nicht den obligatorischen Strahlenschutz.
1996 führt Nesterenko den vom ukrainischen Gesundheitsministerium empfohlenen Nahrungsmittelzusatz aus Apfelpektin ein, der das Cäsium 147 absorbiert. Nach einem Monat Behandlung kann die radioaktive Belastung im kindlichen Körper um 60 bis 70 Prozent sinken.
Patenschaften
Zahlreiche westeuropäische Familien laden jedes Jahr in der Ferienzeit Kinder aus den verseuchten Gebieten ein. Um ein Kind, das sich während eines Aufenthalts im Ausland teilweise von der radioaktiven Belastung befreien konnte, weiterhin zu «reinigen» und zu schützen, genügt eine Summe von ca. 110 Euro pro Jahr: So viel kostet das Pektin und die Messungen am kindlichen Organismus. Aber das Pektin allein genügt nicht. Der Aufenthalt im Ausland ist nötig, aber nicht ausreichend. Mit beiden Methoden ist es möglich, die Kinder vor schlimmen Schäden an ihrem Organismus zu schützen. Es gibt 500.000 betroffene Kinder in Belarus, das hieße 55 Millionen Euro. Dieses Geld steht nicht zur Verfügung. Die Kosten von zwei Tagen Krieg der reichen Länder gegen Belgrad (400 Millionen nach Schätzungen der amerikanischen Bank Merryl Lynch pro Tag) würden etwas mehr als sieben Jahre Behandlung decken. Es gibt Geld zum Töten, nicht zur Lebenserhaltung.
Im selben Zeitraum lernte Nesterenko Professor Jurij Bandazhevsky kennen, den Leiter des medizinischen Instituts von Gomel, der seit 1991 neue Krankheiten untersuchte, die bei den Bewohnern verseuchter Gebiete auftraten. Er stellte fest, dass Häufigkeit und Schwere der morphologischen und funktionellen Veränderungen am Herzen in einem direkten Bezug zur Absorption von radioaktivem Cäsium stehen. Eine wissenschaftliche Entdeckung mit schwerwiegenden Folgen. Er beschrieb die «Kardiomyopathie des Cäsiums»: Herzbeschwerden beim Kleinkind, beim Jugendlichen und beim Erwachsenen, Degenerierung des Myokards. Ein plötzlicher Tod kann in jedem Alter eintreten. Bandazhevsky und sein Team beschrieben die «pathologischen Prozesse» in Bezug auf Herz, Leber, Drüsen, Nieren und Immunsystem. Bei über 50 Becquerel pro Kilo Körpergewicht treten irreparable Schäden an den lebenswichtigen Organen auf. Seit 1996 arbeiteten das Belrad-Institut und das Institut von Gomel Hand in Hand. Beide Institute zeigten, dass mit einer cäsiumarmen Ernährung bei Kindern und Versuchstieren irreparable Schäden an den lebenswichtigen Organen vermieden werden können. Völlig neue Forschungswege stehen der
Wissenschaft offen.
Widerstand
Die Arbeiten der beiden Wissenschaftler sind ein Alptraum für die «Experten» der Atomlobby. Sie sind das nicht geplante Hindernis für Zurückhaltung der Information und stellen die wissenschaftliche Forschung in den Rahmen des riesigen Freiluftlaboratoriums, das nach der größten technologischen Katastrophe der Geschichte entstanden ist. Natürlich sind sie nicht die einzigen die verstehen, was geschehen ist, aber sie sind die einzigen, die sich mitten im verseuchten Gebiet befinden, konfrontiert mit den gesundheitlichen, politischen und menschlichen Problemen, welche die Katastrophe von Tschernobyl nach sich zog. Die einzigen, die angesichts des Unglücks ihrer Landsleute, ihrer Ehre und der Ehre der Wissenschaft absolut treu bleiben. Sie leisten unter den schwierigsten Bedingungen Widerstand – Wassili Nesterenko seit zwanzig Jahren, Jurij Bandazhevsky seit sechzehn Jahren. Neben den Verleumdungen und den ständigen Hindernissen, welche vor allem die französische und deutsche Atomlobby 5 sowohl im Osten als auch im Westen in den Weg stellen, um ihre Aktionen zu blockieren und die Presse zum Schwigen zu bringen, lehnt die Europäische Kommission systematisch jede finanzielle Unterstützungn für den Strahlenschutz der Kinder ab. Professor Nesterenko hat bereits mehrere Anträge in diesem Sinn gestellt 6.
Manchmal gibt es objektive Zufälle in der Geschichte, deren reelle und symbolische Folgen sich als umgekehrt proportional zur scheinbaren Schwäche der Protagonisten herausstellt. Etwas in dieser Art – vielleicht eine Gelegenheit, die man nicht verpassen sollte – spielt sich derzeit im Herzen des Dramas von Tschernobyl ab. Indem sie menschlich, politisch und finanziell die Arbeit dieser beiden außergewöhnlichen Wissenschaftler unterstützen, haben die westliche und amerikanische Zivilgesellschaft die Möglichkeit, eine selbstmörderische Politik, die ein großes Risiko für die gesamte Menschheit darstellt, frontal anzugreifen. Das Hauptziel ist nicht der Tod der Atomindustrie als solche, die sich nach Tschernobyl nur durch Lügen und Geheimnisse verteidigen kann. Das Hauptziel der beiden Wissenschaftler und derer, die sie unterstützen, ist die wissenschaftliche Wahrheit ans Tageslicht zu bringen. Mehr als je zuvor ist die Unabhängigkeit der Forschung vital für das Überleben der Menschheit. «Jeder Mensch hat das Recht, alles zu wissen, was mit seiner Gesundheit, der seiner Kinder und Angehörigen zu tun hat, was man vermeiden muss und warum» 7. Die Arbeit und der Widerstand der beiden Männer dort, wo sie sind, scheint eine kleine Chance in diesem historischen Moment zu sein.
Angesichts der Ausmaße der Katastrophe ist die Unterstützung der NGO ungenügend. Nur große Stiftungen wie die von Bill Gates oder Teresa Heinz Kerry zum Beispiel könnten der betroffenen Bevölkerung zu Hilfe kommen und Druck auf die Regierungen ausüben. Wir haben uns bereits an beide Stiftungen gewendet.
Unterdessen kämpft das Belrad-Institut mit großen finanziellen Problemen. Seine Gönner sind bescheidene Europäer, Mitglieder von NGO, die Umwelt und Gesundheit schützen wollen. Damit das Institut weiter arbeiten kann, bitten wir alle, die es am Leben erhalten wollen, Spenden auf das Konto des Vereins «Enfants de Tchernobyl Belarus» 8 zu überweisen (00029876060, Crédit Mutuel, 68220 Leymen, Frankreich).
Wladimir Tschertkoff *
* W. Tschertkoff ist russischer Herkunft und besitzt die italienische Staatsbürgerschaft. Er war lange Zeit Journalist bei der RAI, danach beim schweizerischen Fernsehen in Lugano. Er hat über 70 Dokumentarfilme realisiert, davon fünf über die verseuchten Gebiete um Tschernobyl. Er ist auch Sekretär des Vereins «Les enfants de Tchernobyl Belarus» und Autor des Buches «Le crime de Tchernobyl. Le goulag nucléaire». Ed. Actes Sud, April 2006
Stiftung Franz Weber und Helvetia Nostra – Nummer vom April/Mai/Juni 2006.
http://www.ffw.ch«La supplication» (Lattès)
Zitiert von Nathalie Nougayrède in Le Monde, 20. Mai 2000
«Le crime de Tchernobyl», 3. Teil: Minzdrav stellt Nesterenko ein Ultimatum
Ibid.: Verleumdungen gegen den Strahlenschutz»
Ibid.
John W. Gofman – Chernobyl accident, radiation consequences for this and future generations. 1993
8.
http://enfantsdetchernobylbelarus.doubleclic.asso.frPräsident dieses Vereins ist Dr. Michel Fernex, em. Prof., Medizinische Fakultät Basel, Spezialist für Tropenkrankheiten, WHO, Vizepräsident ist Prof. Nesterenko.