TÜRKEI / MIGRATION: Die Türkei – ein «sicheres Drittland»?

von Dirk Tobias Reijne, No Border Kitchen, Lesvos, 09.06.2024, Veröffentlicht in Archipel 337

Migrant·innen werden in der Türkei oft instrumentalisiert und zeitweise als Druckmittel gegenüber der EU oder zu Propagandazwecken gegen Griechenland eingesetzt. Gleichzeitig wird das Klima ihnen gegenüber immer feindseliger. Teil 3*

Migrant·innen werden in der Türkei häufig als Schachfiguren in den politischen Spielen eingesetzt, die Erdogan mit der Europäischen Union treibt. Im Jahr 2020 schickte die Regierung Busse an die Landgrenze zu Griechenland, um zu versuchen, die EU einzuschüchtern. Hunderte von Menschen versuchten, den Grenzzaun zu stürmen – es gab mehrere Tote. Auf Lesbos beobachten wir oft einen Anstieg der Zahl der Menschen, die versuchen, die Türkei zu verlassen, je nachdem, wie die politischen Beziehungen zwischen ihr und Griechenland oder der EU aussehen. Wir sind darüber informiert, weil die türkische Küstenwache jede Woche auf ihrer Website Zahlen über die Personen veröffentlicht, die nach einem Pushback im Meer gefunden bzw. gerettet wurden. Wenn man dies mit der Anzahl der Neuanmeldungen auf den Inseln kombiniert, kann man die Anzahl der Personen schätzen, die in einem bestimmten Zeitraum versucht haben, die Grenze zu überqueren, zusätzlich zu der Zahl, die in die Türkei zurückgebracht wurden. Diese Zahlen und die Pushbacks aus Griechenland werden von der Türkei zu Propagandazwecken gebraucht. Im vergangenen Jahr verfasste unter anderem die New York Times einen ausführlichen Bericht über Pushbacks, der auf Informationen der türkischen Küstenwache beruhte. Bei mehreren Gelegenheiten nutzte sie Push-back-Videos zu ihrem Vorteil, um von der Situation an der Ost- oder Südgrenze abzulenken.

Die Anwältin Esem in Izmir teilte mir während unseres Gesprächs eine Geschichte mit, die verdeutlicht, wie sehr sich die Türkei auf Pushbacks als Propagandainstrument konzentriert: «Vor einem Jahr hatte ich einen Klienten aus Kamerun. Er wollte mit anderen nach Griechenland, aber sie wurden in türkische Gewässer zurückgebracht. Seine Freunde starben, er aber überlebte. Dann fingen die Beamten von Genderame an, mich anzurufen und mir zu sagen, dass sie ein Gespräch mit meinem Klienten führen wollten. Sogar der Leiter der Haftanstalt rief mich an. Sie bestanden sehr stark darauf. Also bat ich ihn um Erlaubnis und er stimmte zu. Sie boten ihm internationalen Schutz an und er nahm ihn innerhalb eines Tages an. Sie führten ein Interview mit ihm und veröffentlichten es auf YouTube auf dem Kanal Gendearma.»

Menschen vom afrikanischen Kontinent in der Türkei befinden sich in der Regel in einer sehr unsicheren und illegalen Situation, aber dieser Kameruner hatte plötzlich Glück (im Unglück), weil er für die Propaganda missbraucht werden konnte. Dies zeigt also, wie bereitwillig die türkischen Behörden Beweise für Pushbacks beschaffen, die sie gegen Griechenland verwenden können. Gleichzeitig schiebt die Türkei kontinuierlich Menschen in Länder wie Afghanistan ab und hat auch ihre eigenen Abschiebepraktiken an ihren Ost- und Südgrenzen.

EU-Türkei: Vorbild für andere Staaten?

Nach der ersten Öffnung der Grenze zu Syrien im Jahr 2015 wurde schnell klar, dass eine grosse Anzahl von Menschen über die Ägäis-Route nach Europa gelangen würde. Die Syrer·innen, die sich dafür entschieden hatten zu bleiben, wurden als «Gäste» begrüsst, was bedeutete, dass sie besser gehen sollten, sobald der Konflikt in Syrien gelöst wäre. Dies geschah jedoch bis heute nicht, und es wurde schnell deutlich, dass diese Menschen grösstenteils nicht zurückkehren würden und dass Europa nicht noch mehr von ihnen aufnehmen wolle. Dies führte zu dem Ende 2016 unterzeichneten europäischen Abkommen. Die Türkei sollte ab nun die Migrant·innen daran hindern, die Grenze zu überqueren, und dafür, als Gegenleistung, hohe Geldsummen erhalten. Dies markierte einen Wandel sowohl in der Türkei als auch in Europa. Auf beiden Seiten wurde die vorherige Aufnahmebereitschaft zu Feindseligkeit. Hier handelt es sich um ein ikonisches Element der europäischen Migrationspolitik der letzten Jahre, wobei ähnliche Abkommen inzwischen auch mit anderen Ländern geschlossen wurden.

Die Auswirkungen des Abkommens auf Lesbos sind uns bekannt. Inhaftierungen, erschwerte Asylverfahren und die Einstufung der Türkei als «sicheres Drittland» sind nur einige davon. Auch wenn das Abkommen darauf abzielte, Migrant·innen am Überqueren der Grenze zu hindern, scheinen zum jetzigen Zeitpunkt einige seiner Auswirkungen das Gegenteil zu bewirken. Immer mehr Menschen überqueren in letzter Zeit die Ägäis, trotz der tödlichen Pushbacks und der zunehmenden Anstrengungen der türkischen Polizei und Küstenwache. Menschen, die zurückgeschoben werden und überleben, versuchen es höchstwahrscheinlich erneut.

Der Stadtplaner Omar, der sich schon lange für Migrant·innen im Stadtteil Basmani in Izmir einsetzt, erzählt: «Vor kurzem hat ein Freund von mir, der eine Familie hat, beschlossen, aufgrund der verstärkten Kontrollen und des Rassismus in der Türkei nach Griechenland umzuziehen. Die Kommunalwahlen stehen vor der Tür und das hat die geflüchteten Menschen sehr verunsichert. Sie müssen arbeiten, sie müssen sich sozialisieren und das alles ist wirklich schwierig geworden. Sie können keine Arbeit mehr finden. Tag für Tag stellen sich die Menschen mehr gegen die Geflüchteten. Sie wollen nicht mehr mit ihnen in Kontakt kommen und auch nicht mit ihnen arbeiten, sodass diese kein Geld verdienen können und keinen Platz in der türkischen Gesellschaft finden. Zusammen mit einer anderen syrischen Familie konnte ich keine Wohnung zum Mieten finden. Alles lief gut, ich wäre der Garant für den Vermieter gewesen, aber der hat nicht zugestimmt, weil es eben Syrer waren. Früher war es nicht so kompliziert, wenn man Geld oder eine Garantie hatte, ging das okay.» Omar betont, dass für ihn die Auswirkungen des EU-Türkei-Abkommens einer der Hauptgründe sind, warum die Menschen derzeit nach Europa auswandern. Esem bestätigt dies und erklärt, dass die Menschen im Gegensatz zu früher keinen Flüchtlingsstatus oder internationalen Schutz mehr beantragen, sondern die Türkei so schnell wie möglich verlassen wollen, um nach Europa zu gelangen.

Die Türkei: KEIN «sicherer Drittstaat»

Die Folgen sind in ganz Basmani zu sehen. Die zahlreichen Geschäfte, in denen Gold gegen Bargeld getauscht wird, sind voll von Migrant·innen. Es gibt auch noch viele Migrant·innen auf den Strassen und die Präsenz der Behörden ist verstärkt spürbar: durch Kontrollen, Überwachung, aber auch durch den subtilen Wechsel der Ladenschilder von Arabisch auf Türkisch unter Androhung von Bussgeldern gegenüber den Besitzer·innen. Die Verhaftung einer Frau in Basmani, die ich miterlebt habe, war brutal und gewalttätig und hat mich persönlich sehr schockiert. Das Wissen, dass solche Verhaftungen an der Tagesordnung sind, und die Tatsache, dass es aus den Flüchtlingszentren heraus zu Massenabschiebungen kommt, macht mich traurig und wütend. Wütend, weil die Europäische Union darauf besteht, dass die Türkei ein «sicheres Drittland» sei. Traurig, weil ich weiss, dass dies sicherlich nicht der Fall ist. Aber damit die unmenschliche Asylpolitik Europas fortgesetzt werden kann, muss dies der Fall sein. Es ist eine fast orwellsche Wendung: Solange sie es sagen, müssen sie es auch glauben. Und sie müssen es glauben, damit diese zynische Vereinbarung immer wieder erneuert wird. Und während dieser Artikel geschrieben wird, verhandelt die EU ihr Abkommen mit der Türkei neu und schliesst auch ähnliche Abkommen mit anderen umstrittenen Regierungen am Rande der Union ab. Sie zeigt keinerlei Anzeichen, von diesem Weg abzuweichen, nein, sie macht die Lüge von den «sicheren Drittstaaten» zu einer internationalen Tatsache.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die Türkei für Migrant·innen und Geflüchtete nicht «sicher» ist. Ihr Leben wird im besten Fall durch das derzeitige soziale Klima und die staatlichen Kontrollen erschwert oder gar unmöglich gemacht. Im schlimmsten Fall werden sie von den Behörden und einem Teil der Bevölkerung gejagt und diejenigen, die willkürlich verhaftet werden, laufen Gefahr, verletzt und abgeschoben zu werden.

Dirk Tobias Reijne, No Border Kitchen, Lesvos

*Die in diesen Texten (1., 2., 3. Teil des Artikels) enthaltenen Informationen und Aussagen basieren auf Interviews, die zwischen dem 29.9. und dem 4. 10. 2023 mit den Teilnehmer·innen geführt und mit deren Genehmigung verwendet wurden, sowie auf persönlichen Erfahrungen und Berichten verschiedener Organisationen, die in den Fussnoten aufgeführt sind. Ein besonderer Dank geht an Hibai Arbide Ada und Diyar Saraçoğlu.

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