TÜRKEI: Pınar Selek – lebenslänglich angeklagt?

von Constanze Warta, EBF, 14.11.2025, Veröffentlicht in Archipel 352

Istanbul, 21. November 2025: Nach einer Stunde der sechsten Verhandlung im fünften Prozess gegen die Soziologin und Schriftstellerin Pınar Selek, (nachdem sie in den letzten 27 Jahren bereits viermal freigesprochen worden war), vertagt das Gericht den Prozess erneut – auf den 2. April 2026 um 9:45 Uhr. Der Haftbefehl vom 31. März 2023 bleibt bestehen. Es hat sich wieder nichts geändert.

In Istanbul, Marseille, Nizza, Strassburg, Lyon und an vielen anderen Orten sind wir voller Wut. Aber wir spüren auch eine unglaubliche Kraft und Solidarität, die uns mit Pinar verbindet, die mit ihrer unschlagbaren Energie und ihrem strahlenden Lächeln überzeugt, nachdem sie eine halbe Stunde lang die Enttäuschung verdaut hat, dass – wieder einmal – der türkische Staat mit seiner reaktionären Regierung an seiner erbärmlichen Macht festhält und sie nicht freispricht, obwohl die Anklageakte leer ist. Ihre ersten Sätze nach der Verkündung dieses «neuen» Urteils: «Sie glauben immer noch, mich ermüden zu können, aber sie werden es nicht schaffen, die Glühwürmchen auszulöschen. Das Feuer der internationalen Solidarität breitet sich aus, die Glut verteilt sich. Es ist die Macht, die verloren geht.»

Marseille – Istanbul

Dieses Mal waren es die Freundinnen, Freunde und Unterstützer·innen aus Marseille, die das Treffen mit und um Pınar Selek organisiert hatten: Der erste Teil fand im IMERIA, Institut für fortgeschrittene Studien der Universität Provence Aix-Marseille statt, und der Abend in der grossen Bibliothek Alcasar. Parallel zu der Live-Schaltung nach Istanbul, wo eine internationale Delegation von 35 Akademiker·innen, Anwält·innen, Vertreter·innen von Menschenrechtsorganisationen etc. am Prozess teilnahm, gab es Beiträge von Wissenschaftler·innen, Künstler·innen, Autor·innen, Feminist·innen und anderen solidarischen Menschen. All dies wurde untermalt von Widerstandsliedern aus verschiedenen Ländern, gesungen von befreundeten Musiker·innen. Texte von Pinar wurden wunderbar von einer Geschichtenerzählerin und der grossartigen Schauspielerin Ariane Ascaride, einer engen Freundin von Pinar, vorgetragen und gelesen. An dieser Stelle empfehle ich Ihnen übrigens wärmstens, die Schriften von Pınar Selek zu lesen. Sie sind unglaublich reichhaltig, sehr poetisch, politisch und analytisch. Sie hat viele Bücher geschrieben, von denen einige auch auf Deutsch veröffentlicht wurden.

Der Prozess

Während des Prozesses und bis zum Ende des Vormittags standen wir per Textnachrichten in direkter Verbindung mit den Freund·innen im Gerichtssaal in Istanbul. Eine Nachricht ist mrt besonders aufgefallen: Einer der Anwälte erklärte, dass laut Verfassungsgericht Personen mit dem Status «flüchtig» freigesprochen werden können, sofern sie ihre Anhörung aus der Ferne absolvieren, also per Videoübertragung an der Verhandlung teilnehmen, und sogar ohne diesen Schritt. Vielleicht könnte dies bei der nächsten Verhandlung die Situation verändern. Bislang war eines der Argumente, wenn nicht sogar das Hauptargument für die jahrelange Verschiebung des Prozesses, dass ohne die physische Anwesenheit der Angeklagten kein Urteil möglich sei. Bemerkenswert ist auch, dass Interpol den Antrag der türkischen Behörden auf eine «rote Ausschreibung»* gegen Pinar weiterhin ablehnt, da die Kriterien für ein solches Vorgehen in ihrem Fall überhaupt nicht erfüllt sind.

Die Unschuld von Pinar ist also erneut eindeutig bewiesen, und wir werden gemeinsam mit ihr weiterkämpfen, bis sie endgültig freigesprochen wird. Dieser Kampf symbolisiert alle Kämpfe für das Recht auf freie Meinungsäusserung, für die akademische Freiheit, die Rechte unterdrückter Minderheiten, die Gleichstellung von Frauen und LGBTQ+ in allen Bereichen. Nach 27 Jahren Verfahren und gerichtlicher Schikane gegen Pınar Selek und ihr Engagement werden wir nicht aufgeben und ihr weiterhin zur Seite stehen!

Constanze Warta

*Eine rote Ausschreibung ist eine internationale Fahndungsmeldung, die von Interpol auf Antrag einer Polizeibehörde verbreitet wird, um ihre Kollegen weltweit um die Lokalisierung und Festnahme einer Person zu bitten, die von einer nationalen Gerichtsbarkeit oder einem internationalen Gericht gesucht wird, um ihre Auslieferung zu erreichen. Jedes Mitgliedsland entscheidet selbst, welchen Stellenwert es einer roten Ausschreibung beimisst.

Siehe auch folgende Artikel: «Wir sind alle Zeug:innen», 13.05.2025, Archipel Nr. 347; «Der Prozess gegen Pınar Selek», 14.04.2023, Nr. 324; «Justizschikane gegen Pınar Selek», 11.02.2023, Nr. 322.