Am 14. Mai finden in der Türkei gleichzeitig Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt – geschichtsträchtige Wahlen. Zwei Männer, die von Tradition und Temperament her unterschiedlicher nicht hätten sein können, bestimmen das Wettrennen, das als zukunftsweisend für dieses Land am äussersten südöstlichen Zipfel Europas betrachtet wird: Der heutige Präsident Recep Tayyip Erdogan und Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der Republikanischen Volkspartei CHP. Wie das Wahlresultat ausfällt, bestimmen massgeblich die Kurden und Kurdinnen.
Seit seinem ersten Wahlsieg zum Regierungschef im Jahr 2002 hat Recep Tayyip Erdogan gross geträumt: Um die Jahrtausendwende nahm er sich vor, als der «grosse Reformer» in die Geschichte seines Land einzugehen und den Republikgründer Kemal Atatürk als Vater der Nation in den Herzen seines Volks zu ersetzen. Ausgerechnet der praktizierende Islamist aus der konservativen Schwarzmeer-Region wurde damals zum Motor eines atemberaubenden Demokratisierungsprozesses: Seine Regierung schaffte die Todesstrafe ab, löste die Sondergerichte auf, die nach dem Militärputsch 1980 Zehntausende von Dissident·inn·en hinter Gitter gebracht hatten, Maulkorbartikel wurden aus dem Pressegesetz gestrichen. Ein neues Zivilrecht räumte den Frauen erstmals Gleichstellung in der Familie ein. Und: er setzte den von der Generalität dominierten Sicherheitsrat ausser Kraft, der sich bis dahin wie ein paralleles Machtzentrum, wie ein Staat im Staat, gebar. Noch war Erdogan und sein Team bemüht, der Welt am Beispiel der Türkei zu beweisen, dass Islam und Demokratie vereinbar seien.
Doch spätestens im Jahr 2015 hatte Erdogan das Steuerrad der Türkei endgültig gegen Osten gedreht: Unterstützt von einem Block der sogenannten «Eurasiaten», in dem die ultrarechte Partei der nationalistischen Bewegung (MHP) und extrem-nationalistische kemalistische Offiziere vertreten sind, hegte er fortan den Anspruch, die Türkei wie ehemals das Osmanische Reich in eine Hegemonialmacht zu verwandeln. Grossmachtträumer bevölkerten nun den neugebauten Palast und seine 1000 Zimmer. Diese Ära ist innenpolitisch von einem Präsidialsystem gezeichnet, in dem ein einziger Mann, Recep Tayyip Erdogan, befugt ist, das letzte Wort zu sagen. Aussenpolitisch orientierte sich der Block der Eurasiaten in erster Linie an Russland und an China und drohte den Nachbarstaaten mit Krieg.
Verwundbare Republik
Am 29. Oktober 2023 feiert die Republik Türkei ihr 100-jähriges Jubiläum. Das Land scheint heute aber verwundbar zu sein, verwundbarer als sonst. Unter Führung der Eurasiaten wurden Reformen der ersten Ära Erdogans rückgängig gemacht und der Rechtsstaat ausgehöhlt. Folter und Tod in Polizeizentren sind erneut an der Tagesordnung, Presse und Justiz gebändigt. Der engste Hof Erdogans, selbst seine eigene Familie, werden der schweren Korruption beschuldigt. Eine Inflation, die sich monatelang, auch nach offiziellen Angaben, um die 85-Prozent-Grenze bewegte, hat die Bevölkerung erschöpft. Und dann kam das verheerende Erdbeben, auf das die Regierung zu spät, zu zögerlich reagierte. Genau dies bildete, laut Beobachtern, den Tropfen, der das Glas zum Überlaufen gebracht hat: «Genug ist genug», kommentierte der türkische Soziologe Çengiz Aktar im Gespräch, «ohne grossen Wahlbetrug kann Erdogan diese Wahlen nicht mehr gewinnen». Manche Beobachter·innen warnen noch zur Vorsicht: Erdogan ist ein gewaltiger Volkstribun, der einen Grossteil der Bevölkerung in den Bann seiner Träume und Illusionen zu ziehen vermochte. Seit 2003 hat er keinen einzigen Wahlgang verloren. Kemal Kilicdaroglu habe weder Erdogans rhetorisches Charisma, noch dessen politisches Geschick, meint der renommierte türkische Journalist Yavuz Baydar.
Ein kurdischer Alewite an der Spitze
Auf den ersten Blick macht der 74-jährige Kilicdaroglu in der Tat den Eindruck eines zurückhaltenden Mannes, der mit äusserster Vorsicht versucht, ja kein Porzellan zu zerschlagen. Seine Erfahrungen unterscheiden sich von jenen Erdogans auch massgeblich: Kilicdaroglu stammt aus der Provinz Dersim (Tunceli auf türkisch) und ist ein kurdischer Alewite. Er trägt somit gleich die Traumata von zwei Minderheiten – einer religiösen und einer ethnischen –, die seit der Gründung der Republik Türkei oft Opfer brutalster staatlicher Repression wurden. Der Feldzug gegen Dersims kurdischen Aufstand 1938, als die Armee Kemal Atatürks die Menschen aus der Luft bombardierte, in Höhlen vergaste und mit dem Bajonett aufspiesste, um wie es damals hiess, keine Kugeln zu vergeuden, prägt das Kollektivbewusstsein der Menschen hier noch weitgehend. Kilicdaroglu soll laut dem niederländischen Anthropologen Martin van Bruinessen dem Stamm der Kureysan entstammen. Dieser Stamm stelle bis heute die religiösen Führer der Alewiten, die sogenannten «Dedes». Selbst der legendäre Anführer von 1938, Scheich Riza, sei ein Mitglied dieses Stammes, erklärte van Bruinessen der Internet-Plattform «al-Monitor».
Nach der Niederschlagung der Rebellion in Dersim 1938 wurde die Doktrin der kemalistischen Nationalisten, wonach es in der Türkei «nur einen Staat, eine Flagge, eine Sprache» gebe, nämlich die türkische, eisern durchgesetzt. Und die Existenz von Minderheiten im Raum Anatoliens, wie die Kurden oder die Alewiten, strikt geleugnet.
Kilicdaroglu übernahm den CHP-Vorsitz im Jahr 2010, als die Partei der Kemalisten, von einer beispielslosen ideologischen Krise befallen, völlig zu zerreissen drohte. In seinen zwölf Jahren an der Spitze ist es diesem eher farblos wirkenden CHP-Vorsitzenden nie gelungen, einen Wahlkampf gegen Erdogan zu gewinnen. Er konnte seine Partei aber vor einer Spaltung retten. Diesem alewitischen Kurden ist es ferner gelungen, im Stillen mit jenem Tabu der kemalistischen Hardliner zu brechen, wonach ihre von Kemal Atatürk gegründete Partei nur von Türken geführt werden dürfe. Bei diesen Wahlen tritt er in erster Linie mit dem Versprechen an, das von Erdogan eingeführte Präsidialsystem abzuschaffen und die Türkei zu einer parlamentarischen Demokratie zurückzuführen. Er wird vom sogenannten «Sechser-Tisch», einem Zusammenschluss von sechs Parteien, unterstützt. Von der Gesellschaft ist er als Mr. Clean respektiert.
Die kurdischen Königsmacher
Politische Beobachter·innen sagen Kilicdaroglu und Erdogan ein Kopf an Kopf-Rennen voraus. Sie stimmen auch darin überein, dass die Stimmen der kurdischen Wähler·innen das Endergebnis dieser kritischen Wahlen massgeblich beeinflussen werden. Was bieten die zwei Kontrahenten den Kurd·inn·en ihres Landes an?
Während seiner Reformära kam Erdogan den Kurd·innen zunächst entgegen: er liess fakultative Kurdisch-Kurse in den Schulen sowie die Einrichtung eines staatlichen kurdischen TV-Senders, TRT Kurdi, zu. Im Jahr 2013 wagte er gar einen Waffenstillstand mit der Arbeiterpartei (PKK), was bis dahin in der Politik der Türkei völlig undenkbar schien. Die PKK hatte 1984 den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat begonnen, um zunächst einen unabhängigen Staat für die Kurd·inn·en der Türkei zu erzwingen. Die Kurd·inn·en zählen weit über 15 Millionen Einwohner·innen und bilden die grösste Minderheit des Landes. Ihre Identität wird vom Staat auch heute nicht anerkannt. Der offiziell nie erklärte Krieg hat dem Land viel Leid gebracht und einen hohen Tribut an Menschenleben, Finanzmitteln, Ansehen und Selbstachtung gekostet. Das Jahr 2013 versprach Generationen von jungen Kurd·inn·en, die in ihrem Leben nichts anderes kannten als Krieg, erstmals Frieden. Die einzige legale prokurdische Partei der Türkei, die Demokratische Volkspartei (HDP) schaffte bei den Wahlen Mitte der 2010er Jahre auch dank ihres populären, humorvollen und rhetorisch-geschickten Vorsitzenden Selahattin Demirtaş erstmals den Einzug ins Parlament.
Erdogans Rachezug
Dann folgte das, was die Kurd·inn·en der Türkei «Erdogans Rachezug» nennen: Erdogan beendete die Friedensgespräche mit der PKK, offenbar weil Demirtaş Erdogans Präsidentschaftspläne zu unterstützen nicht bereit war. Erdogan schloss eine Regierungsallianz mit der rechtsextremen MHP und wurde zum heissesten Verfechter jener Doktrin, die in der Türkei nur die türkische Nation und Sprache akzeptiert. Krieg brach gegen die Kurd·inn·en in der Türkei, in Syrien und im Nordirak aus. Sein kurdischer Widersacher Demirtaş wurde 2016 verhaftet und der Terrorismusunterstützung beschuldigt. Er sitzt seither in U-Haft. Wie Demirtaş landeten seither Abertausende HDP-Politiker·innen und Anhänger·innen hinter Gittern, die Partei nennt eine Zahl von über 10.000. Erdogan kann den Kurd·inn·en heute wenig bieten. Selbst die konservativen kurdischen Stämme, die jahrzehntelang die stabile Basis von Erdogans Partei im Südosten bildeten, wenden sich massenhaft von ihm ab: «Die konservativen Stämme verlassen nun Erdogan, weil ihre wirtschaftliche Lage katastrophal ist, weil Erdogan ein Bündnis mit der MHP eingegangen ist und weil er den Anspruch aufgegeben hat, die kurdische Frage mit demokratischen Mitteln zu lösen», sagte Vahap Çoskun, ein respektierter politischer Analyst aus Diyarbakir der Presse.
Generalamnestie in Aussicht
Und Kilicdaroglu? Kilicdaroglu hatte bis vor kurzem jeden politischen und militärischen Angriff gegen die Kurd·inn·en in der Türkei, im Irak und in Syrien grundsätzlich unterstützt. Beim Wahlkampf dieses Jahr hat er keinen direkten Bezug auf die Kurdenfrage genommen. Was er den Wähler·inne·n ungeachtet ihrer ethnischen oder religiösen Wurzeln verspricht, ist aber die Errichtung einer liberalen Ordnung in der Türkei, in der niemand mehr davor Angst haben müsste, aufgrund seiner Meinung verfolgt, beim Tagesanbruch ins Gefängnis verschleppt, gefoltert oder willkürlich enteignet zu werden. Im Gespräch mit der HDP-Spitze soll er ihr ferner eine Generalamnestie für politische Gefangene in Aussicht gestellt haben. Damit kämen unzählige Journalist·inn·en und HDP-Politiker·innen wie Selahattin Demirtaş sowie Menschenrechtler·innen wie Osman Kavala auf freien Fuss. Praktiken wie willkürliche Parteien-Verbote sollen beendet werden. Es sei die historische Verantwortung eines jeden, «gegen Erdogans Ein-Mann-Herrschaft zu stimmen», erklärte daraufhin die HDP-Führung.
Hoffnung auf Frieden
Allein die Aussicht auf ein mögliches Ende der dunklen Erdogan-Ära hat in der Region gleich auch die Hoffnung auf Frieden geweckt. Die PKK hatte nach dem schrecklichen Erdbeben von letztem Februar einen einseitigen Waffenstillstand angekündigt. «Glaubt nicht den Lügnern Erdogans, twitterte aus seinem Gefängnis Selahattin Demirtaş. «Versöhnung und Frieden sind möglich». Er versprach, alles daran zu setzen, damit die PKK in der Türkei die Waffen vollständig niederlegt. «Noch nie stand so viel auf dem Spiel wie jetzt», folgert Amberin Zaman, auch sie eine renommierte Kennerin der Türkei. «Diese Wahlen werden darüber entscheiden, ob die Türkei ihren Abstieg in die Diktatur unter Erdogan fortsetzt. Oder ob sie es zum 100. Jubiläum ihres Bestehens unter dem stillen Kilicdaroglu schafft, die tiefe Spaltung der Gesellschaft zu überbrücken, die alten Traumata zu überwinden und erstmals den Schritt in eine richtige Demokratie zu wagen».
Amalia Van Gent*
*Amalia Van Gent ist Journalistin und Autorin. Ihre Spezialgebiete sind die Türkei (wo sie 20 Jahre lang gelebt hat) und die Kaukasusstaaten. Ausserdem ist sie eine hervorragende Kennerin der Lage des kurdischen Volkes im Nahen Osten. Dieser Artikel wurde im April 2023 auch in Infosperber publiziert.