Die Hitzewelle, die derzeit das gesamte Mittelmeerbecken heimsucht, erfasst auch Tunesien. Mitte Juli wurden in dem nordafrikanischen Land Temperaturen bis zu 47 Grad Celsius gemessen. Nicht die beste Zeit für Ausflüge in die Wüste. Doch weit schlimmer noch ist es, in ihr umherzuirren oder in ihr ausgesetzt zu werden.
Genau dies taten die tunesischen Behörden mit mutmasslich rund 1000 Migrant·innen aus dem subsaharischen Afrika, die seit Anfang Juli zum Grossteil im Wüstengebiet in der Nähe der libyschen Grenze im Südosten des Staatsgebiets, zu einem kleineren Teil bei der algerischen Grenze in dessen Südwesten ausgesetzt wurden. Was die Europäische Union nicht daran hinderte, in Tunis – im Beisein von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der postfaschistischen italienischen Premierministerin Giorgia Meloni sowie des soeben über einen Koalitionsstreit zur Einwanderungspolitik gestürzten niederländischen Regierungschefs Mark Rutte – ein Abkommen zur Eindämmung von Migration mit Tunesiens Regierung zu unterzeichnen.
Die jüngsten Vorfälle im tunesischen Süden nahmen ihren Ausgang in Sfax, der zweitgrössten Stadt Tunesiens, ungefähr auf halber Höhe in Nord-Süd-Richtung liegend. Die Stadt mit rund 600.000 Einwohner·innen ist durch die chemische Industrie geprägt, weist jedoch auch ein Hafenbecken auf, das aufgrund seiner Beschaffenheit und aufgrund der Meeresströmungen für Überfahrten in Richtung Europa am geeignetsten ist.
Seitdem der tunesische Staatspräsident Kais Saied mit seiner Rede im Nationalen Sicherheitsrat am 21. Februar eine regelrechte rassistische Kampagne gegen eine «Invasion» durch subsaharische Migrant·innen lostrat und dadurch auch eine Welle von Gewalttaten auslöste, erhöhte sich der Abwanderungsdruck bei Eingewanderten, die zum Teil seit längerem im Land leben. Ob Neuankömmlinge oder bereits im Land lebende eingewanderte Gruppen: Viele strebten nun verstärkt danach, in Richtung Europa weiterzuwandern, während gleichzeitig Luftbrücken für Rückflüge in die Länder Guinea, Mali und Elfenbeinküste organisiert wurden. Die Stadt Sfax wurde daraufhin zunehmend zum Nadelöhr. Durch findige Migrant·innen, die zum Teil selbst Wassergefährte bastelten und ihren Landsleuten oder Leidensgenoss·innen vergleichsweise günstige Überfahrten anboten, fielen die Preise für aussergesetzliche Ausreisedienste um zwei Drittel. Eine Überfahrtmöglichkeit war zum Teil bereits ab rund 500 Euro zu finden. Aus anderen Landesteilen strömten folglich ausreisewillige Menschen aus dem subsaharischen Afrika in die Hafenstadt.
Aufgeheiztes Klima
Dadurch, dass Sfax zunehmend zur Anlaufstelle wurde, verdichtete sich die Präsenz von Migrant·innengruppen dort. In einem ohnehin infolge der Kampagne von Staatspräsident Saïed aufgeheizten Klima nahmen daraufhin aber auch die Konflikte zu, was bei einem wachsenden Zulauf auf einem geographischen Punkt, wie in einem Flaschenhals, kaum vermeidbar erscheint, zumal es keine staatliche Politik etwa für das Bereitstellen von Unterkünften oder Notaufnahmen gibt. Geschäftstüchtige Tunesier·innen zogen daraus ihren Profit, was wiederum bei Stadtteilnachbar·innen zu Neid und Missgunst führte. Manchmal wurden auch tunesische Vermietende schlicht überrascht, wenn sie etwa an eine subsaharische Familie vermieteten, dann aber feststellen mussten, dass ihre Räumlichkeiten stattdessen plötzlich Dutzende von Menschen beherbergten. Staatspräsident Saïed und seine Untergebenen nutzten diese Tatsachen für eine Kampagne gegen angebliche «mafiöse Netzwerke» in der Stadt, die sich an Schlepperdiensten bereicherten und sich in quasi landesverräterischer Weise verhielten. Objektiv deutet aber alles darauf hin, dass es sich bei jenen, die sich in Sfax an der Not und an den Bedürfnissen der Migrant·innen zu bereichern oder jedenfalls ein Zubrot zu verdienen suchten, überwiegend um Einzelpersonen, Familien oder Kleingewerbetreibende handelte und nicht um stabile Netzwerke. Im Laufe des Frühjahrs und Frühsommers heizte sich das Klima rund um Sfax auf, das in den landesweiten Medien zum Brennpunkt hochstilisiert wurde. Es kam zu Zusammenrottungen, zu pogromartigen Ausschreitungen. In der Nacht vom 20. zum 21. Mai attackierten Stadtbewohner·innen ein Gebäude, in dem Migrant·innen untergebracht waren, und töteten dabei einen jungen Mann aus Benin; fünf weitere Migrant·innen wurden verletzt. Am 25. Juni fand dann eine Demonstration von mehreren hundert Personen statt, auf welcher unter anderem «Tunesien den Tunesiern» skandiert wurde. In der in- wie ausländischen Presse wurde weitgehend der Eindruck erweckt, es habe sich um eine mehr oder minder spontane Demonstration von, wie suggeriert wurde, aufgebrachten ortsansässigen Tunesier·innen gehandelt. Doch fand sich im Vorfeld in der Onlinezeitung «Tunisie numérique» der Hinweis darauf, dass mindestens eine politische Partei zu der Kundgebung aufgerufen hatte – es handelt sich um die «Parti Destourien Libre» (PDL, ungefähr «freie Verfassungspartei») unter Abir Moussi. Die Anwältin gilt als Gallionsfigur derer, die der Auffassung sind, dass unter dem 2011 gestürzten Ben-Ali-Regime alles besser gewesen sei und die Demokratisierung das Land heruntergewirtschaftet habe. Ausserdem hetzt eine gewisse «Parti Nationaliste Tunisien» schon eine ganze Weile lang. Im Wesentlichen ähnelt diese 2018 gesetzlich zugelassene Kleinstpartei, die laut der Webseite «Nawaat» ursprünglich von sieben Personen gegründet wurde, den europäischen rechtsextremen Parteien, mitsamt ihrer Vorliebe für Verschwörungstheorien. Die Korrespondentin des Senders «France 24» teilte im Februar dieses Jahres mit, die Organisation weise drei offizielle Mitglieder auf. Zu jenem Zeitpunkt begann die Phantompartei jedoch damit, auf die Kampagne von Präsident Saïed aufbauend, umfangreiche Aktivitäten im Internet und bei den sozialen Kommunikationsmedien zu starten. In den folgenden Monaten bildeten sich in manchen Städten von ihr initiierte bürgerwehrähnliche Gruppen, die gewalttätige Ausschreitungen gegen Schwarze oder auch gegen «tunesische Verräter·innen», die diese beherbergen, inszenierten.
Zuspruch fand dies auch deswegen, weil es in Tunesien in den letzten Monaten zu einer ausgesprochenen Knappheit bei Grundnahrungsmitteln und -bedarfsgütern wie Speiseöl und Kaffee gekommen war; selbst um Brot stehen Menschen mitunter in langen Warteschlangen an. Daraufhin fruchteten Appelle, «nicht an Schwarzafrikaner·innen» zu verkaufen. Kleinhändler·innen verweigerten ihnen in ihren Wohnvierteln entweder den Nahrungskauf oder gewährten ihn nur gegen Aufpreis.
Ausgesetzt, ausgeliefert
Es gibt jedoch auch einen Teil der tunesischen Gesellschaft, der sich gegen solche Tendenzen stemmt, sei es aus politischen Gründen oder auch aus Motiven spontaner Mitmenschlichkeit. Aus Sfax zeigen Videoaufnahmen auch Stadtbewohner·innen, die Trinkwasserflaschen und Essen an subsaharische Afrikaner·innen verteilen. In «Tunisie numérique», wo Artikel hetzerischer Natur – einer bezeichnete z.B. die Migrant·innen in Sfax als «von Boko Haram infiltriert» – und solche gegenläufiger Tendenz koexistieren, war ein Beitrag übertitelt mit einem Hinweis auf die Helfer·innen, welche «die Ehre Tunesiens retten».
Am 3. Juli starb dann ein Tunesier infolge einer Auseinandersetzung zwischen Einwohner·innen von Sfax und kamerunischen Migrant·innen. Daraufhin explodierte die Gewalt nochmals. Dieses Mal griff die Staatsmacht ein. Behörden kündigten den Migrant·innen an, sie in Bussen in die Hauptstadt Tunis zu bringen. Doch stattdessen fuhren diese in Richtung Süden an die Landesgrenzen und setzten dort Hunderte von Menschen aus – unter ihnen auch Frauen und Kinder. Der Fund von zwei Leichen in den darauffolgenden Tagen ist gesichert, weitere Tote sind bislang Gegenstand unbestätigter Meldungen. Eine grössere Gruppe von rund 600 Migrant·innen, die an der Grenze zu Libyen ausgesetzt worden war und sich in der Sahara bis circa fünfzehn Kilometer in dessen Landesinnere verirrt hatte, konnte am 11. Juli über die tunesische Grenze zurückkehren. Zuvor schlugen nationale, aber auch internationale Nichtregierungsorganisationen wie «Human Rights Watch» Alarm, und Videos von in der Wüstensonne ohne Nahrungsmittel ausharrenden Menschen kamen in Umlauf. Die rund 600 Betroffenen wurden inzwischen über – aufgrund der Ferienzeit – leerstehende Schulgebäude in mehreren südtunesischen Städten verteilt. Mitte Juli verorteten NGO jedoch noch weitere 100 bis 150 Menschen im Niemandsland zwischen Tunesien und Libyen. Weitere 150 Migrant·innen wurden an die algerische Grenze in das Wüstengebiet von Hazaoua gefahren, überschritten diese und wurden zuletzt in der Nähe einer Gemeinde auf der algerischen Seite kontaktiert. Danach verlor sich ihre Spur, wohl, weil ihre Handys keinen Empfang oder keine Batterie mehr hatten.
Die Europäische Union verspricht unterdessen Tunesien eine «Soforthilfe» von 150 Millionen Euro sowie – später zurückzuzahlende – Kredite über 900 Millionen Hilfe, um seine maritimen Grenzen besser zu sichern. Das Abkommen enthält, neben Passagen über wirtschaftliche Kooperation und Investitionen, auch ein Kapitel über die Zusammenarbeit beim Thema Migration. Darin ist der Satz hervorgehoben, Tunesien sei «kein Ansiedlungsland für Migranten» und sichere «nur seine eigenen Aussengrenzen». Die unterstrichenen Stellen waren offenkundig Gegenstand längerer Diskussionen. Die tunesische Seite will tunlichst verhindern, dass über ihr Territorium in die Union eingereiste Migrant·innen aus EU-Staaten nach Tunesien zurückgeschickt werden – diese sollen bitte nur in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden.
Bernard Schmid, Journalist und Anwalt, Paris
Auch erschienen in der Wochenzeitung «Jungle World» am 20. Juli 2023.