Ukrainische antifaschistische Aktivist⸱inn⸱en, die in der Gruppe «Sotsialniy Rukh»* (Soziale Bewegung) zusammengeschlossen sind, wenden sich mit folgendem Appell an die internationale Linke, insbesondere an deren westeuropäische Vertreter⸱innen:
Der Kreml hat der russischen Armee befohlen, an den ukrainischen Grenzen zu stehen, und droht mit einer Intervention, falls die USA, die NATO und die Ukraine nicht auf seine Forderungen eingehen. Wir, die ukrainischen Sozialist⸱inn⸱en, rufen die internationale Linke auf, die imperialistische Politik der russischen Regierung zu verurteilen und ihre Solidarität mit den Menschen zu zeigen, die unter dem mindestens acht Jahre dauernden Krieg gelitten haben und Gefahr laufen, unter einem neuen leiden zu müssen. Mit diesem Aufruf legt «die soziale Bewegung» das Phänomen der Wiedergeburt des russischen Imperialismus offen, beschreibt die Situation im Donbass und schlägt Schritte vor, um den Frieden zu sichern.
Wiederauferstehung des russischen Imperialismus
Nach dem Zusammenbruch der UdSSR beherrschte eine einzige Supermacht die Welt: die Vereinigten Staaten von Amerika. Doch nichts hält für immer und nun schwindet deren Hegemonie. Die US-Interventionen in Afghanistan und im Irak führten zu katastrophalen Kriegen für die Menschen in diesen Ländern und endeten für die USA sehr schmachvoll. Leider wurde der Niedergang des US-Imperialismus nicht von der Entstehung einer demokratischeren Welt begleitet, sondern vom Aufstieg anderer imperialistischer oder fundamentalistischer «Raubtiere» und nationalistischer Bewegungen. Unter diesen Umständen muss die internationale Linke, die sich dem Kampf gegen den westlichen Imperialismus verschrieben hat, ihre Strategie überdenken.
In den letzten Jahrzehnten hat es eine Renaissance des russischen Imperialismus gegeben, der nun versucht, die USA dazu zu bringen, die Einflusssphären in der Welt neu zu verteilen. Die Fakten zeigen, dass es den Völkern nichts Gutes bringt, unter den Einfluss von Putins Russland zu geraten. Gerade jetzt befinden sich russische Truppen in Kasachstan mit dem Auftrag, den Volksaufstand gewaltsam niederzuschlagen. Diese Aktionen bestätigen den reaktionären Charakter der OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit), die nicht geschaffen wurde, um Staaten vor einer Aggression von aussen zu schützen, sondern um den Einfluss des Kremls zu verstärken und unpopuläre Regime vor Revolutionen zu schützen. De facto schützen die russischen Truppen in Kasachstan auch die Interessen der US-amerikanischen und britischen Kapitalisten, die einen erheblichen Teil der Ölindustrie in Kasachstan besitzen. Eine ähnliche Rolle spielten die Russen bei den belarussischen Protesten. Der Kreml schickte seine Propagandisten, um streikende Medienmitarbeiter⸱innen zu ersetzen, und kündigte die Bildung einer Reserve von Sicherheitsbeamten an, die bereit war, nach Weissrussland geschickt zu werden. Wie im 19. Jahrhundert, als das Russische Reich der Gendarm Europas war, blockiert das Putin-Regime jegliche politische oder soziale Veränderung im postsowjetischen Raum – jede soziale Bewegung muss sich davor hüten, den Kreml zu verärgern.
Wir bringen unsere Dankbarkeit und Solidarität mit den linken russischen Aktivist⸱inn⸱en zum Ausdruck, die sich der imperialistischen Politik des Kreml widersetzen und für einen demokratischen und sozialen Wandel in ihrem Land kämpfen. Nur eine Revolution in Russland und der Sturz des Putin-Regimes können Stabilität, Frieden und Sicherheit in den postsowjetischen Ländern bringen.
Die Lage im Donbass
Der Kreml beschuldigt die ukrainische Regierung, eine Militäroffensive im Donbass zu planen, doch das ist eine glatte Lüge. Selenskyjs Politik zeigt, dass er nach zahlreichen erfolglosen Versuchen nach seinem Amtsantritt, um Frieden zu schaffen, die Pläne für eine Veränderung der Lage im Donbass aufgegeben hat. Wir verurteilen die neoliberale und nationalistische Politik der ukrainischen Regierung, aber sie rechtfertigt in keiner Weise die imperialistische Bedrohung durch Russland.
Russland beschuldigt die Ukraine ständig, die politischen Anforderungen des Minsker Abkommens nicht zu erfüllen, verstösst aber permanent gegen dessen sicherheitspolitische Anforderungen. Das jüngste Beispiel war, dass Russland das Mandat der OSZE-Mission(1) zur Kontrolle der russisch-ukrainischen Grenzen stoppte, obwohl diese in Paragraph 4 des Minsker Protokolls zugesichert worden war. In den selbsternannten Republiken, die vom Kreml kontrolliert werden, gab es immer unvergleichlich mehr Einschränkungen der Bewegungsfreiheit gegenüber den Vertretern der OSZE-Mission an der Frontlinie als auf der anderen Seite. Doch trotz dieser Hindernisse verzeichnete die OSZE ein Vielfaches an Verstössen gerade durch die «DPR» (Volksrepublik Donezk) und die «LPR» (Volksrepublik Lugansk) gegen die Bedingungen für den Abzug schwerer Waffen von jener Frontlinie.
Das wichtigste Element ist jedoch die Klausel 10 von Minsk-2, die nie umgesetzt wurde: «Rückzug aller ausländischen bewaffneten Formationen, militärischen Ausrüstungen und Söldner von ukrainischem Territorium unter Aufsicht der OSZE sowie die Entwaffnung aller irregulären Gruppen.» Es gab und gibt russische Truppen im Donbass, aber der Kreml leugnet dies immer noch scheinheilig.
Entgegen dem Mythos, der unter einigen westlichen Linken populär ist, sind die Regime der «DPR» und der «LPR» nicht das Ergebnis eines Volkswillens. Die Führer der «DPR» und der «LPR» sind in die Reihen der herrschenden Eliten der Russischen Föderation integriert und zu deren aggressivem Sprachrohr geworden. In diesen «Republiken» wird jede oppositionelle politische Aktivität unterdrückt, selbst wenn sie loyal gegenüber der russischen Regierung ist. Gleichzeitig werden die Gebiete der «Republiken» rasch deindustrialisiert. Die Infrastruktur verschlechtert sich, und in den Städten werden die öffentlichen Verkehrsnetze demontiert. Selbst für Unternehmen, deren Produkte in die Russische Föderation exportiert werden, sind Lohnrückstände zur Normalität geworden. Proteste von Arbeiter⸱inne⸱n gipfeln in der Entführung von Aktivist⸱inn⸱en und dem Auftauchen von Militärfahrzeugen.
Darüber hinaus ist der Donbass bereits zu einer Zone des Umweltkollapses geworden. Mehrere Bergwerke wurden ohne angemessene Erhaltungsmassnahmen geschlossen, was zu einer Verseuchung des Trinkwassers geführt hat. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen ist der Donbass, obwohl er die am dichtesten besiedelte Region der Ukraine ist, auch die Region mit den meisten Landminen der Welt.
Was ist zu tun?
Nun schliesst der Kreml direkte Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine aus. Stattdessen will die russische Regierung mit den USA eine Einigung erzielen. Die Ent-scheidung zur Lösung des Konflikts muss jedoch unter Berücksichtigung des Willens der Bevölkerung getroffen werden, dessen Leben direkt von dem Konflikt und der Art und Weise, wie er gelöst wird, abhängt. Die Ukraine darf nicht zum Wechselgeld in den Vereinbarungen zwischen den beiden imperialistischen Staaten werden. Wir kämpfen für eine neutrale und friedliche Ukraine, aber dafür muss der Kreml seine aggressive imperialistische Politik beenden, und die Ukraine muss ernsthaftere Sicherheitsgarantien erhalten als das Budapester Memorandum, das 2014 von der Russischen Föderation eklatant mit Füssen getreten wurde.
Man sollte sich keine Illusionen über die Politik der westlichen Regierungen machen, die dem Grosskapital und ihren eigenen Interessen dienen. Wir denken, dass die Interessen der ukrainischen Arbeiter⸱innen im Westen nur unter dem Druck von dessen fortschrittlichen Bewegungen und der öffentlichen Meinung Gehör finden können.
Zunächst einmal ist es notwendig, die Feindseligkeiten im Donbass zu beenden und mögliche Provokationen an der Frontlinie zu verhindern, die als Vorwand für eine weitere Intervention dienen könnten. Daher wäre der erste Schritt der Einsatz eines friedenserhaltenden Kontingents der Vereinten Nationen im Donbass. (…) Die Frage nach einer langfristigen politischen Lösung des Konflikts kann erst nach der Lösung der Sicherheitsprobleme beantwortet werden. Das Ende der Feindseligkeiten wird die Dramatik des Konflikts verringern und danach wird es leichter sein, mögliche Kompromisse einzuleiten. Auch die Bedingungen für eine spätere Reintegration der Gebiete müssen vorbereitet werden.
Hier die nächsten anzugehenden Schritte:
- Der vollständige Rückzug der russischen Truppen aus dem Donbass. Eines der besten Mittel, um Druck auf die Führung der Russischen Föderation auszuüben, wäre die Beschlagnahmung des Eigentums und der Vermögenswerte russischer Oligarchen und Regierungsbeamter in London und anderswo.
- Die Schaffung eines internationalen Programms zur Wiederherstellung der vom Krieg betroffenen Regionen und zur Unterstützung ihrer Bewohner⸱innen (auch durch die Beschlagnahmung dessen, was von russischen und ukrainischen Oligarchen geraubt wurde)
- Die Revision des sozioökonomischen Prozesses, welcher der Ukraine vom Westen vorgeschlagen wurde: statt destruktiver neoliberaler Reformen unter dem Druck des IWF die Streichung der ukrainischen Auslandsschulden
- Eine inklusivere und fortschrittlichere humanitäre Politik in der Ukraine, Beendigung der Straffreiheit für die ukrainische extreme Rechte und Abschaffung der Gesetze zur «Dekommunisierung»(2).
- Die Anordnung von Menschenrechtsgarantien für diejenigen, die in der «DPR» und der «LPR» leben, Verabschiedung eines Amnestiegesetzes für diejenigen, die keine Kriegsverbrechen begangen haben.
Der Krieg im Donbass hat das Leben tausender Menschen zerstört und Millionen gezwungen, ihr zu Hause zu verlassen. Die Drohung einer Eskalation in der Ukraine als Damoklesschwert schränkt den Spielraum fortschrittlicher Politik erheblich ein. Für die Zukunft der sozialistischen Bewegung in der Ukraine braucht es die internationale Solidarität.
*«Sotsialniy Rukh»: Die «Soziale Bewegung» ist eine Gruppe von Aktivist⸱inn⸱en in der Ukraine, die sich in den grossen städtischen Zentren für zahlreiche Anliegen engagiert: Antifaschismus, LGBT-Rechte, gegen Polizeirepression und für eine sozialere Gesellschaft.
- OSZE: Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
- Unter Dekommunisierung oder Entkommunisierung versteht man den Vorgang, der sich mit der Abschaffung der Überreste des Kommunismus in den postkommunistischen Staaten im Hinblick auf soziale, wirtschaftliche und kulturelle Aspekte beschäftigt. (Quelle: Wikipedia)