UKRAINE: Hexenjagd

von Jürgen Kräftner, EBF Ukraine, 19.09.2020, Veröffentlicht in Archipel 295

Vor dem Hintergrund des Krieges im Donbas haben sich die ukrainische Gesellschaft und die öffentliche Diskussionskultur in den letzten Jahren verändert. Kürzlich mussten wir schmerzlich erfahren, wie stark sich Hass und Intoleranz gegenüber vermeintlichen «Verräter·inne·n» sogar in intellektuellen Kreisen verbreitet haben.

Die Ukraine ist seit sechs Jahren im Donbas in einen Krieg mit von Russland unterstützten Separatisten verwickelt. Beinahe täglich sterben Menschen. Millionen sind aus den besetzten Gebieten und der Konfliktzone in andere Teile der Ukraine geflüchtet, andere überleben in prekären Verhältnissen nahe der Demarkationslinie. Der kriegerischen und patriotischen Rhetorik des ehemaligen Präsidenten – und Oligarchen – Petro Poroschenko (2014 – 2019) hat das Wahlvolk im vergangenen Jahr eine klare Absage erteilt. Die ersten Monate der Präsidentschaft Selenskyjs brachten zwei wichtige Gefangenenaustausche und einen Normandie-Gipfel mit Putin, Merkel und Macron. Seither sind die Friedensbemühungen ins Stocken geraten, die Ende Juli ausgerufene Waffenruhe wird, ähnlich wie frühere Versuche, nicht eingehalten. Selenskyjs zweites Regierungsjahr lässt keinen Zweifel daran, dass sich die Ukraine erneut in einer Periode politischer Stagnation befindet.

Verbot

Die 1987 in Wolgograd (Russische Föderation) geborene Journalistin Kateryna Sergatskova lebt seit 2008 in der Ukraine, 2015 erlangte sie die ukrainische Staatsbürgerschaft. Für ihre Reportagen hat sie mehrere internationale Auszeichnungen erhalten. 2018 gründete sie mit einigen Kolleg·inn·en eine unabhängige Internet-Plattform mit dem programmatischen Namen «Zaborona» (Verbot). Zaborona greift tabuisierte gesellschaftliche Fragen auf und interessiert sich für marginalisierte Teile der Bevölkerung. Damit erfüllt sie zu Zeiten des verschärften Freund-Feind-Denkens eine Lücke, wird aber auch sehr angefeindet. Am 13. Juli musste Sergatskova mit ihren beiden noch nicht schulpflichtigen Kindern und ihrem Mann nach Morddrohungen die Ukraine fluchtartig verlassen. Diese Eskalation hatte mit einem Artikel über den russischen Staatsbürger Denis Nikitin am 2. Juni begonnen. Nikitin war 2001 im Alter von 17 Jahren mit seinen Eltern nach Köln emigriert und hat sich dort einer Hooligan-Gruppe angeschlossen. Inzwischen ist er in der internationalen rechtsextremen Szene einflussreich und hat mit seinem Netzwerk White Rex gute Verbindungen zur NPD in Deutschland und zur PNOS (Partei National Orientierter Schweizer) in der Schweiz. Seit 2017 lebt er in der Ukraine. Anfang dieses Jahres wurde ihm die Einreise in die Schengenzone verboten. Die Verbindungen russischer und ukrainischer Rechtsextremist·inn·en sind an sich nichts Neues, aber sie stehen natürlich im Widerspruch zum martialisch-antirussischen Diskurs der ukrainischen Nationalist·inn·en. Am Tag nach der Veröffentlichung bemerkte die Redaktion von Zaborona, dass die Reportage über Nikitin ohne Erklärung von ihrer Facebook-Seite verschwunden war, das Profil der zuständigen Redakteurin und die Monetarisierung waren blockiert. Nach mehreren Nachfragen entschuldigte sich die Moderation von Facebook und erklärte, der Beitrag sei irrtümlich gesperrt worden. Am folgenden Tag war der Beitrag wieder zu sehen. Wie der Irrtum passiert ist, blieb aber bisher unerklärt.

StopFake

Von dem Moment an begann Zaborona sich dafür zu interessieren, wer für die Kontrolle der ukrainischsprachigen Inhalte auf Facebook zuständig ist und stiess dabei auf «StopFake«. StopFake wurde 2014 von Kiewer Publizistik-Student·inn·en gegründet, in erster Linie um manipulative, anti-ukrainische Propaganda aufzudecken. Seit Ende März 2020 kooperiert StopFake mit Facebook in der Aufdeckung von Manipulation und Desinformation. StopFake wird von zahlreichen internationalen staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen unterstützt, darunter der Soros-Stiftung. Es passt allerdings schlecht zu diesem guten internationalen Image, dass der Chefredakteur und der für die englischsprachigen Publikationen von StopFake zuständige Redakteur ihre Sympathie für Anhänger·innen der White Supremacy und zu Holocaust-Leugner·inne·n immer wieder öffentlich zur Schau gestellt haben. Am 3. Juli veröffentlichte Zaborona einen ausführlichen Artikel mit zahlreichen Fotos über StopFake und deren Verbindungen zur Naziszene. Die Reaktionen waren heftig. StopFake schrieb von Rufmord und pro-russischer Propaganda, was angesichts der Furcht um den Verlust der internationalen Sponsor·inn·en durchaus verständlich ist. In den sozialen Netzwerken nahmen die Angriffe rasch einen persönlichen Charakter an. Sergatskova wurde, in Hinblick auf ihre Abstammung, als russische Agentin verunglimpft. Aber auch zahlreiche Intellektuelle stellten in Frage, ob Zaborona das Recht habe, die Nazi-Verbindungen von StopFake anzuprangern.

Morddrohungen

Am 11. Juli nahm diese vorwiegend in den sozialen Netzwerken geführte Diskussion eine brutale Wendung. Ein Blogger mit über 130'000 Followers beschimpfte Sergatskova in seinem Beitrag unflätig, nannte sie eine russische Agentin und schlechte Mutter, die so schnell wie möglich aus dem Land gejagt werden sollte. Er fügte Fotos mit ihrem fünfjährigen Sohn und ihrem vermeintlichen Wohnsitz ein. Dies führte zu einer Welle von Morddrohungen. Zwei Tage danach brachte sich Sergatskova mit ihrer Familie im Ausland in Sicherheit. Daraufhin solidarisierten sich mehrere internationale Organisationen und einige ukrainische Medienvertreter·innen mit Sergatskova und verlangten, dass die Sicherheit der Journalistin und ihrer Familie gewährleistet würde und dass die Justiz auf die Anzeige Sergatskovas gegen den erwähnten Blogger eintreten sollte, was diese binnen eines Monats nicht getan hatte. Der deutsche Medienexperte Christian-Zsolt Varga vom internationalen Journalist·inn·en-Netzwerk n-ost machte auf eine weitere Nuance aufmerksam, die diese Geschichte enthüllte. «Wenn es um Qualitätsjournalismus geht, kann man die Probleme im eigenen Land nicht nur deshalb ignorieren, weil sie der russischen Propaganda in die Hände spielen können», sagte Varga gegenüber der Deutschen Welle.

Nicht «richtig» denken

Viele europäische Länder haben mit rechtsextremen Gruppen zu kämpfen, aber Kritiker·innen sagen, dass sie in der Ukraine zu sehr toleriert werden, weil sie mit dem intellektuellen Mainstream des Landes einen gemeinsamen Feind haben: Russland. Die Vorstellung, dass die Ukraine ein rechtsextremes Problem hat, wird wiederum durch die russische Staatspropaganda verstärkt und verzerrt, welche die Maidan-Revolution der Ukraine im Jahr 2014 oft fälschlicherweise als faschistischen Putsch bezeichnet. Nach mehreren Wochen des Schweigens äusserte sich die Betroffene Anfang August 2020 selbst zu den Vorfällen:

«...Die unangenehmste und sogar schrecklichste Beobachtung ist, dass wir noch im Jahr 2016 ausschliesslich von Marginalen und Verrückten beschuldigt wurden, 'für den Kreml zu arbeiten'; heute wird uns diese Etikette auch von intelligenten, klugen Menschen angehängt. Allein der Gedanke, dass das Ansprechen komplexer, kontroverser Themen sowie Kritik bedeutet, dem Feind zu helfen, legitimiert die Entmenschlichung und erlaubt, Gewalt zuzulassen. Der Teufel beginnt mit Schaum auf den Lippen eines Engels, der für eine heilige, gerechte Sache in den Kampf gezogen ist. Heute geschieht es aus irgendeinem Grund so: Wenn Sie etwas gegen den Wind sagen, wird man Ihnen auf jeden Fall sagen, dass Sie nicht richtig denken. Denn unter den Bedingungen des Krieges sollte man bestimmte Gedanken nicht zulassen. Wenn Du dieses Prinzip einmal akzeptiert hast, wirst Du es wieder und wieder akzeptieren. Es gibt einen Filter in Dir, der Deine Meinung filtert, bevor Du sie öffentlich kundtust. Und Du wirst jeden Gedanken bearbeiten, und Dich fragen, ob er jemand nicht passen könnte und zögern, und denken, vielleicht habe ich wirklich falsch gedacht. Und dann findet man sich in einer Gesellschaft wieder, in der niemand sagt, was er denkt. Wo ernsthafte, gefährliche Fragen mit Sarkasmus ausgedrückt werden. Gewalt wird alltäglich. Für mich ist das wichtigste Kennzeichen der Freiheit, über alles in Sicherheit reden zu können. Nachdenken, diskutieren und kritisieren, Alle und Alles. Niemand hat das Monopol darauf, Recht zu haben. Der sichere Raum für solche Diskussionen ist (bei uns) praktisch verloren. Deshalb wird Zaborona weiterhin an komplexen Themen arbeiten. Wir werden schreiben, worüber andere schweigen. Über unbequeme und unangenehme Dinge sprechen – damit wir uns am Ende zum Besseren verändern und der Hass nicht länger unsere Zukunft bestimmt.»

Jürgen Kräftner, EBF Ukraine