Während mehreren Wochen war die Ukraine in den Schlagzeilen der internationalen Medien.
Nach dem jahrelangen Schattendasein dieses nach Russland größten Landes Europas mussten für eilige Fernsehnachrichtenkonsumenten einfache Schemata geschaffen werden.
In Kiew gibt es fast keine permanenten westlichen Korrespondenten, von anderen Orten in der Ukraine ganz zu schweigen. Die «orangenfarbige Revolution» wurde so zum Aufstand der «prowestlichen, katholischen und ukrainisch sprechenden» gegen die «pro-russischen, slawisch-orthodoxen, russischsprachigen östlichen und südlichen Regionen». Je nach Blickpunkt wurde die russische oder die amerikanische Einflussnahme angeprangert. Blutige Szenarien wurden vorausgesagt, die Sezession der östlichen Regionen und die Gründung einer polnisch-westukrainischen Union unter Ägide der USA stünden bevor. Für die einen hatte das ukrainische Volk endlich den guten Weg zur westlichen Demokratie eingeschlagen, für die anderen war es durch US-amerikanischen Agenten und den Geldern deren Stiftungen dementsprechend manipuliert worden.
Alle Zweifel an der ukrainischen Revolution verflogen mir in den Strassen Kiews. Es waren die drei schönsten Wochen der Geschichte der Stadt, von alten Menschen verglichen mit den Feiern im Mai 1945. Kiew hatte sich in diesen Tagen in einer wunderbaren Metamorphose aus einer aggressiven Stadt der geld- und machtbesessenen Zyniker, der arroganten Gewinner und verbitterten Verlierer, zu einem Ort der Verbrüderung, der Herzlichkeit, des Lächelns verwandelt, in der dank der Gassenküchen plötzlich sogar die Obdachlosen eine gesicherte Existenz hatten. Auf der Strasse konnte man mit wildfremden Menschen ins Gespräch kommen. Anders als sonst sah man im Zentrum praktisch keine Betrunkenen. Unvorstellbar, sich in einer Menschenmenge von etwa 1,5 Millionen Menschen so geborgen zu fühlen, wie an jenem Samstag Abend der orangenen Revolution auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew.
In den ersten beiden Tagen nach dem gefälschten Wahlergebnis war noch alles offen. Zwar hatte das Wahlkampfteam von Viktor Juschtschenko und die Studentenbewegung PORA damit gerechnet, dass Kutschma und sein Clan die Macht nicht einfach abgeben und es auf eine Kraftprobe ankommen lassen würden. In lokalen Wahlwiederholungen im vergangenen Frühjahr war es zu grotesken Szenen gekommen. In diesen Testläufen für die Präsidentschaftswahl wurden unliebsame Beobachter aus den Wahllokalen hinausgeprügelt, und als das Resultat dennoch nicht den Vorstellungen der Macht entsprach, wurde die Auszählung kurzerhand spiegelverkehrt präsentiert und der Verlierer zum Sieger erklärt. Wahlurnen wurden unter den Augen der Polizei gestohlen.
Am Wahlabend des 21. November verfügten weder das oppositionelle Bündnis «Unsere Ukraine» noch PORA über eine grosse und leicht mobilisierbare Basis. Der Aufruf zur Errichtung einer Zeltstadt in Kiew und zu Protesten in der ganzen Ukraine klang so gesehen ziemlich grossspurig. Vergangene Protestbewegungen gegen Kutschma, zuletzt im Zusammenhang mit dem Mord am Journalisten Georgij Gongadse, waren isoliert und schliesslich von den Sondereinheiten gewaltsam auseinandergejagt worden.
Mobilisierung Doch in den auf den Wahlabend folgenden 48 Stunden, während die Führungsspitze um Viktor Juschtschenko noch ziemlich unbeholfen gestikulierte, passierte auf der Strasse das Unerwartete. PORA hatte auf dem zentralen Boulevard «Kreschtschatik» ein paar Fahnen gehisst und statt der angekündigten 1500 etwa fünf Zelte aufgestellt. Zunächst waren es junge Leute aus Kiew, die keiner Organisation angehörten, die selbständig irgendwo Zelte auftrieben. Sie wussten nicht, wie auf der Strasse ein Zelt aufstellen und trieben die Heringe in den Asphalt. Spontan stellten sie ihre Zelte nicht nur auf der Kreschtschatik sondern auch an Vorder- und Rückseite des Präsidentschaftspalasts auf. Bald hatten sich ein paar Tausend Leute eingefunden. Während den ersten beiden Nächten kursierten laufend Gerüchte über einen bevorstehenden Einsatz von Sondereinheiten gegen die Demonstranten, grössere Truppeneinheiten wurden vor der Stadt dafür zusammengezogen. Um die Demonstranten zu schützen, ging die ältere Generation die ganze Nacht im Zentrum Kiews «spazieren». Meine Kiewer Freunde qualifizieren dies als den «Aufstand der russischsprachigen Intelligentsia von Kiew». Zur selben Zeit entstanden unzählige spontane Initiativen. Freiwillige Ärzte errichteten mehrere Erste Hilfe-Stationen, Apotheker schickten Medikamente, Künstler verzierten Plätze, Unternehmer aus der ganzen Ukraine schickten Geld und Lebensmittel (z.B. viel zuviel Brot, das niemand essen konnte), alte Frauen brachten den Demonstranten heissen Tee und Selbstgebackenes, Tonnen von warmen Kleidern und Decken wurden gespendet. Nachts sanken die Temperaturen bis auf Minus 15 Grad und es schneite. Viele Kiewer boten auch einfach Schlafplätze in ihren Wohnungen an. In den ersten Tagen schliefen tagsüber Hunderte Demonstranten im geheizten ehemaligen Lenin-Museum in Gängen und Treppenhäusern.
Eine sehr aktive Rolle spielten einige der populärsten Musikgruppen der Ukraine. Täglich organisierten sie auf dem Unabhängigkeitsplatz Konzerte zur Unterstützung der Revolution. Jeden Abend fanden sich hier mehr Leute ein, um den Meetings und den Konzerten zu folgen. Oleg Skrypka, Leadsänger der Rockgruppe VV und Hauptinitiator dieser Konzerte, predigte die Bruderschaft zwischen Ost und West in einer mehrsprachigen Ukraine und Kompromisslosigkeit gegenüber dem faulen Regime.
Unter dem Eindruck der Volksbewegung fanden plötzlich auch viele Journalisten von Fernsehen und Tageszeitungen den Mut, aus Protest gegen die Zensur in den Streik zu treten. Berühmt wurde eine Dolmetscherin in die Taubstummensprache. Statt den offiziellen Text der Fernsehnachrichten zugunsten Viktor Janukowitschs zu übersetzen, erklärte sie ihren etwa 100‘000 Zuschauern, dass die von der Zentralen Wahlkommission veröffentlichten Ergebnisse gefälscht sein. «Glauben Sie das nicht. Unser Präsident ist Juschtschenko. Es tut mir sehr leid, dass ich bisher diese Lügen übersetzt habe. Ab nun werde ich dies nicht mehr tun. Ich weiss nicht, ob wir uns wiedersehen werden.»
Als am dritten Tag des Aufstandes immer mehr Menschen aus den Regionen nach Kiew kamen, erlangten die Demonstranten ein Gefühl des ruhigen Selbstbewusstseins. Sie würden erst nach der Kapitulation des alten Systems wieder nach Hause gehen. Trotz allen Lavierens war die Macht von Kutschmas Clan gebrochen.
Uschgorod - Transkarpatien Ausser in Kiew gingen in fast allen grösseren Städten der Ukraine Menschen protestierend auf die Strasse. Im russischsprachigen Charkow protestierten Zehntausende. Sogar auf der «grossrussischen» Halbinsel Krim 1, auf der Juschtschenko praktisch keinen Wahlkampf hatte führen können und wo ihn die Medien, ähnlich wie in Donezk, als russenfeindlichen Nationalisten darstellten, fanden sich verwegene Demonstranten gegen die Wahlfälschung.
Die westukrainischen Provinz Transkarpatien ist kein revolutionärer Nährboden und für Nationalismus hat hier kaum jemand etwas übrig. Es ist eine Vielvölkerregion, deren Bevölkerung sich in vielen Jahrhunderten pragmatisch damit abgefunden hat, von einem Tag zum anderen Staatszugehörigkeit, Regime und Währung zu wechseln, ohne um seine Meinung gefragt zu werden. An Wahlen wird hier traditionell «richtig» gestimmt, nämlich für den von Behörden und Kirche einhellig vorgeschlagenen Kandidaten. In den ländlichen Regionen funktionierte dieses Prinzip auch diesmal ganz gut und Transkarpatien war weit entfernt von den starken Resultaten Juschtschenkos in den anderen westlichen Regionen. Die Fälschung der Resultate zugunsten Janukowitschs betrug in Transkarpatien schätzungs-weise zwischen fünf und zehn Prozent 2.
Die Region stand seit mehreren Jahren unter dem direkten, totalitären Einfluss einer als politischen Partei verkleideten Interessensvertretung einiger Milliardäre, die auch auf Präsident Kutschma grossen Einfluss ausübten. Dies führte zu einer Vergiftung und Verrohung des politischen Klimas. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen verstärkte sich der Druck im öffentlichen Leben und nahm erpresserische Dimensionen an. Die Wahlkampagne war völlig einseitig und von Juschtschenko war kaum etwas zu sehen. Alle Behörden, Universitäten, Schulen und Krankenhäuser wurden für Janukowitschs Wahlkampagne gleichgeschaltet. Das Einnahme-Plansoll der Steuerfahndung für das laufende Jahr wurde um 60 Prozent erhöht. Kurz vor den Wahlen wurden von Janukowitschs Helfern allein in Transkarpatien Hunderttausende Dollar an die Mitglieder der lokalen Wahlkommissionen verteilt.
Ob dieses eskalierenden Despotismus riss der städtischen Bevölkerung die Geduld. Die Opposition ist in Transkarpatien sehr schwach organisiert und die beiden Hauptaktivisten von PORA wurden vor den Wahlen wegen angeblichen Sprengstoff- und Falschgeldbesitzes in Untersuchungshaft genommen. Die Beweisstücke wurden ihnen vom Inlandsgeheimdienst SBU in der Wohnung deponiert, während sie zu einer Scheinbefragung am Kommissariat vorgeladen waren.
Trotzdem fanden in Uschgorod in der Woche nach der Stichwahl Demonstration historischen Ausmasses statt. Zunächst gingen die Studenten auf die Strasse. Sie forderten, dass der Wählerwille respektiert und der Mord am früheren Rektor der Universität Uschgorod aufgedeckt würde. Dieser war im vergangenen Mai mit zahlreichen Stichwunden tot in seiner Wohnung aufgefunden worden. Die Untersuchung schloss auf Selbstmord. Sein Nachfolger wurde zugleich regionaler Wahlkampfleiter von Viktor Janukowitsch.
Anbetrachts der Demonstrationen wollten der Gouverneur 3 der Region und seine Helfer wieder zu den Methoden greifen, die sich schon bei früheren Wahlen bewährt hatten. Im Fussballstadion der Stadt wurde eine Hundertschaft bewaffneter Banditen zusammengezogen und auf eine gewaltsame Aktion gegen die Opposition vorbereitet. Subalterne Polizeioffiziere entschlossen sich, gegen den Willen ihrer Hierarchie eine Kontrolle vorzunehmen und ein Teil der Banditen konnte dingfest gemacht werden, ein ganzes Arsenal wurde konfisziert.
Der Gouverneur entrüstete sich daraufhin, warum eine Fussballmannschaft festgenommen worden sei. Der Polizeichef der Region veranlasste die nächtliche Freilassung der Banditen, die seither untergetaucht sind. Daraufhin versammelten sich etwa hundert Offiziere der verschiedenen Polizeikorps und sprachen ihrem Chef, dem Gouverneur und dem Staatsanwalt Transkarpatiens ihr Misstrauen aus.
In Transkarpatien hat nicht so sehr die Begeisterung für Juschtschenko und noch weniger für seine regionalen Vertreter die Leute auf die Strasse gebracht. Die Methoden der alten Macht sind für einen grossen Teil der Bevölkerung unerträglich geworden und sie erhoffen sich mit Juschtschenko eine offenere Gesellschaft.
Argumente dafür, dass die Ukraine in zwei klar definierbare Lager einzuteilen sei, die sich die Macht streitig machen, gibt es genug. Die Kandidaten zum Präsidenten sind beinahe Karikaturen.
Einerseits der Bankier Juschtschenko, preisgekrönt von der amerikanischen Finanzzeitschrift Global Finance als einer der «world best central banker» und in zweiter Ehe mit einer Ukrainerin verheiratet, die aus den Vereinigten Staaten stammt. Sein Wahlbündnis spannte sich von erfolgreichen Geschäftsleuten wie dem Schokoladenfabrikanten Poroschenko über den westukrainischen Nationalisten Andrij Shkil, der sich in der Vergangenheit mit Rassentheorien zu profilieren versuchte bis zum Sozialisten Oleksandr Moros, der als integer gilt und seit langem das System Kutschma bekämpft. Noch schillernder ist die Figur der Julia Timoschenko, die sich nirgends so richtig einordnen lässt. Mit ihrem direkten und kämpferischen Kontakt zum Volk hat sie Juschtschenko während der orangenen Revolution jedenfalls einen enormen Dienst erwiesen. Alle vereinte sie bisher der Hass auf Leonid Kutschma und seinen Milliardärsclan.
Dem – bis zu seiner Vergiftung - smarten Bankier gegenüber stand der Apparatschik Janukowitsch aus dem ostukrainischen Kohlerevier Donezk, der es nach seiner kleinkriminellen Jugend doch noch bis ganz oben geschafft hat. In seiner Heimatregion unterstützten ihn fast alle, vom reichsten Mann der Ukraine Rinat Achmetow 4 bis zu den einfachen Leuten. Er setzte sich bei der Auswahl zum Kronprinzen Kutschmas durch, da er in seiner Heimat Donezk bewiesen hatte, dass er den Verwaltungsapparat gut für Wahlen einzusetzen weiss. Es heisst, dass er politische Differenzen in seinem Umfeld gerne mit einem Faustschlag ins Gesicht löst. Als Kronprinz Kutschmas teilte er auch bis zuletzt dessen Umfeld: Dazu gehören des Präsidenten Schwiegersohn Pintschuk, der im Rahmen der Privatisierung der ukrainischen Stahlindustrie zum Milliardär wurde, sowie das Milliardärsduo Surkis und Medwedtschuk, Besitzer des Dynamo Kiew, der grössten Medien und einiger Industriekomplexe. Sie beherrschten bis zuletzt den Verwaltungsstab des Präsidenten Kutschma.
Doch der Grund für die ukrainische Revolution liegt nicht in diesen Unterschieden. Das unverschämt korrupte, verlogene und autokratische System Kutschmas hat das Volk auf die Barrikaden getrieben.
Von den meisten gebildeten Menschen wurde Kutschma längst als Schande für die Ukraine empfunden. Eine Reihe unaufgeklärter politischer Morde haben seine Regentschaft geprägt. Sein Ministerpräsident und designierter Nachfolger Janukowitsch wollte ganz offenbar dasselbe System mit noch ruppigeren Methoden weiterführen. Früher wurden die Nachteile der Bevormundung und der Korruption des Regimes von einer materiellen Sicherheit aufgewogen, die heutzutage nur mehr für die direkt von der Korruption profitierende Kaste existiert.
Für den großen Teil der Bevölkerung, die sich jenseits der staatlichen Pfründe ihr Einkommen suchen muss, macht dieses autoritäre Regime keinen Sinn mehr. Im Gegenteil ist ihr die systematische Erpressung und Demütigung durch den Beamtenstaat sowie die Zensur in den grossen Medien unerträglich geworden. Auch viele Staatsbedienstete wollen sich nicht mehr von ihrer Hierarchie zu schmutzigen Geschäften zwingen lassen.
Besonders junge Leute bemerkten während der Wahlkampagne das sehr unterschiedliche Auftreten der Vertreter von Macht und Opposition. Während die alten Machthaber und die hinter ihnen stehenden Magnaten sich nur unter grossen Sicherheitsvorkehrungen in die Öffentlichkeit wagen, war es durchaus möglich, führende Oppositionspolitiker aus nächster Nähe zu «fühlen».
Auf der Krim wird Ukrainisch als Fremdsprache wahrgenommen. Bis 1954 gehörte die Halbinsel zu Russland. Trotzdem stimmte 1991 eine Mehrheit der Bevölkerung für die Unabhängigkeit der Ukraine. Seit einigen Jahren lebt die Krim in der Angst vor den aus den zentralasiatischen Republiken zurückkehrenden Tataren und einer eventuellen Zwangs-Ukrainisierung. Präsident Kutschma unterhält privilegierte Beziehungen zur Krim und will angeblich als Bürgermeister der Hafenstadt Sevastopol seine politische Karriere beenden.
Darüber erhielt ich viele persönliche und detaillierte Berichte. Die Fälschungen werden häufig kaum verhüllt.
Ausländische Finanzierung des Wahlkampfes Hat es sicher, auf beiden Seiten, gegeben. Woher kamen die 2000 Euro, die in unserem Dorf im Namen Janukowitschs an die Wahlkommission verteilt wurden? Das entspricht praktisch einem Euro pro Einwohner, und unser Dorf hat keinen besonders strategischen Wert...
In Kiew konnte ich mir mit eigenen Augen ein Bild von der enormen Unterstützung von ukrainischen Privatleuten für die Revolution machen, die mit Sicherheit jede ausländische Finanzierung völlig in den Schatten stellte.
Schlussnote Als kritischen und politisierten Westeuropäern fällt es uns schwer, die enorme Hoffnung von Millionen Ukrainern zu teilen. Eine «nationale Wiedergeburt» betrachten wir mit Rückblick auf das 20. Jahrhundert mit Skepsis. Wir wissen, wohin die osteuropäischen Bürgerbewegungen der späten 80er Jahre geführt haben: Soziale Ausgrenzung, Plünderung der strategischen Sektoren durch ungezügelte Öffnung der Märkte für das westliche Kapital usw.
Ausser dem Machtwechsel von einer feudalen, postsowjetischen Clanwirtschaft zu einem breiter abgestützten und offeneren Gesellschaftssystem hat die ukrainische Revolution aber noch ein weiteres Erbe hinterlassen: Eine ganze Generation hat ein neues politisches (Selbst)Bewusstsein erlangt. Und die Tatsache, dass sie orangene Fahnen geschwungen haben, heisst sicher nicht, dass sie in Zukunft alles schlucken werden, was sich die neue Obrigkeit, welcher Farbe auch immer, leisten wird.
Jürgen Kräftner *
EBF Ukraine
Fortsetzung in der nächsten Nummer * Der Autor dieses Berichts lebt seit acht Jahren in der Ukraine, Gebiet Transkarpatien. Eine Zugreise von Transkarpatien nach Donezk dauert etwa 36 Stunden. Nicht alles, was dort vor sich geht, ist für mich nachvollziehbar und ich misstraue den westukrainischen Vorurteilen. Hier möchte ich davon berichten, was ich selbst erlebt oder aus m.E. vertrauenswürdiger Quelle erfahren habe.
Die Provinzgouverneure werden vom Präsidenten eingesetzt und üben eine grosse Macht aus.
u.a. Besitzer eines Industrieimperiums und des Fussballklubs Schachtjor Donezk
Ost – Westkonflikt Eine Teilung der Ukraine wurde von keiner ernstzunehmenden Kraft in der Ukraine beabsichtigt sondern ist eher als wahltaktische Drohgebärde des industrialisierten und deshalb reicheren Ostens zu verstehen. Die ostukrainische Industriellenvereinigung wies entsprechende Äusserungen umgehend zurück.
Auch der Einfluss der Kirchen wurde in vielen westlichen Medien falsch dargestellt und überbewertet. Die orthodoxe, dem Moskauer Patriarchat zugehörige Kirche zählt weit mehr Gläubige als alle anderen Religionen. Ihr Patriarch Alexij II. war wie üblich dem Kreml treu und unterstützte Janukowitsch, obwohl auch Viktor Juschtschenko seiner Kirche angehört. Häufig wurde die «Katholische» Kirche erwähnt, die in der Ukraine eine winzige Minderheit darstellt. Die Griechisch-Katholische Kirche, nach dem Zweiten Weltkrieg wegen Kollaboration von Stalin verboten, erlebt in den vergangenen Jahren in der Westukraine eine Renaissance. Sie verhält sich nicht viel anders als das Moskauer Patriarchat: Sie passt sich den politischen Gegebenheiten an. Aufgrund ihrer Verankerung in der Westukraine nahm sie für Juschtschenko Partei. Allerdings gehören ihr weniger als 20 Prozent der ukrainischen Gläubigen an.
Die Einteilung der Kandidaten und ihrer Wähler in ein pro-westliches und pro-russisches Lager ist ebenfalls eine grobe Vereinfachung. Auch im Osten der Ukraine fühlt sich der grösste Teil der Bevölkerung als ukrainisch und möchte nicht in Russland leben. Der Tschetschenienkrieg und der dadurch verursachte Terrorismus allein sind abschreckend genug. Quer durch die ganze Bevölkerung lässt sich eine Bewunderung gemischt mit Abscheu gegenüber den USA ausmachen. Die Invasion des Iraks wurde hier allgemein sehr negativ aufgenommen. So ist auch eine der ersten Entscheidungen der neuen Macht der Rückzug des ukrainischen Kontingents aus dem Irak. Mitentscheidend dafür, dass die ukrainische Revolution nicht im Blut endete, war sicher die Angst der Geschäftsleute um Kutschma und Janukowitsch um ihre wirtschaftlichen und finanziellen Verbindungen zu den USA.
Ukrainischer Nationalismus Er bedürfte einer eigenen Untersuchung. Die Bürgerschreck-Organisationen UNA-UNSO suchen heute eher den Weg der Legalität und Respektabilität, wenngleich sie immer noch einen Hang zum Radikalverbalismus haben, in dem «Moskau, die Juden, die degenerierten Europäer und auch der amerikanische Imperialismus» in einen Topf geworfen werden. In den 90er Jahren gab es in diesen Kreisen einige hundert extreme Nationalisten. Einige von ihnen zogen heldenhaft in den Krieg: Sie kämpften in Transnistrien und Tschetschenien gegen den «russischen Imperialismus», dann wieder gemeinsam mit Russen gegen die amerikanische Intervention in Serbien, manche engagierten sich gar an Seiten der Palästinenser und Kurden. Im Bezug auf die ukrainische Revolution sind sie nicht sehr ernst zu nehmen. Die Tatsache, dass sie in der geheimdienstlich stark kontrollierten Ukraine überhaupt noch an die Öffentlichkeit treten dürfen, muss mit einem taktischen Manöver Kutschmas zusammenhängen.
Seit dem Aufbruch aus der doktrinären sowjetischen Geschichtsauffassung ist die jüngere ukrainische Geschichte heute noch längst nicht verarbeitet. In der Ostukraine wird heute noch das Vorurteil kolportiert, dass die Mehrheit der Westukrainer Nationalisten seien und faschistisches Gedankengut vertreten. Nach dem von den Nazis zuerst unterstützten und dann fallengelassenen ukrainisch-nationalistischen Anführer Stepan Bandera (1909-1959) werden sie als Banderisten beschimpft. Von den polnisch-ukrainischen Kommunisten der KPZU, die ebenfalls in der Westukraine von Stalin verfolgt wurden, spricht überhaupt niemand. Während der Wahlkampagne wurde Viktor Juschtschenko in der Ostukraine auf Plakaten in SS-Uniform dargestellt. Der Vater Juschtschenkos hat drei deutsche Konzentrationslager überlebt.
In der Ukraine gibt es einen latenten Antisemitismus. Die zwölf Parlamentarier jüdischer Abstammung verteilen sich zu gleichen Proportionen auf die Gruppierungen der beiden Präsidentschaftskandidaten.
Die Minenarbeiter des Donbass Zu Ende der Sowjetunion waren sie 1,3 Millionen, heute nur mehr 300‘000. Der Niedergang des Kohlebergbaus im Osten der Ukraine scheint unaufhaltbar. Für jede Million Tonnen Kohle, die sie abbauen, sterben acht Kumpels. Zu Kutschma standen sie seit Jahren in Opposition, da auch er nicht in die Minen investieren wollte. Janukowitsch hat ihnen offenbar Unterstützung gewährt, jedenfalls scheinen sie ihm zu vertrauen und stimmten mit dem Rest der Bevölkerung der Ostukraine zu etwa 90 Prozent für ihn. Die Medien haben dazu das ihre beigetragen. Als Juschtschenko in einem Fernsehinterview erklärte, er sei bereit, vor den Minenarbeitern auf die Knie zu fallen, wurde im regionalen Fernsehen in Donezk daraus: «Ich werde die Minenarbeiter des Donbass in die Knie zwingen.»
Die Zensur ist sicher nicht der einzige Grund, warum die Ostukraine so massiv für Janukowitsch gestimmt hat. Abgesehen vom Kohlebergbau geht es der Region wirtschaftlich besser als dem Zentrum und dem Westen, die neuen Magnaten sorgen in Zusammenarbeit mit den von ihnen finanzierten Politikern für Kontinuität und soziale Sicherheit. Viele soziale Errungenschaften aus Zeiten der Sowjetunion, die im Westen längst zerrüttet sind, funktionieren hier noch. Die Löhne sind allgemein höher. Eine Abspaltung dieser Regionen wäre ohne den Segen Achmetows unmöglich, und der ist bereits dabei, sich mit Juschtschenko zu einigen. Offene Fragen betreffen die skandalöse Privatisierung mehrerer großer Staatsbetriebe, insbesondere der Stahlindustrie, zu Achmetows Gunsten.