Während den sieben Jahren militärischer Aggression Russlands in der Ostukraine starben mehr als 13‘000 Menschen. Fast 1,5 Millionen verloren ihre Heimat, mussten aus den besetzten Gebieten der Regionen Luhansk und Donezk flüchten und in dem von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiet oder auch in einem anderen Land ein neues Leben beginnen. Gleichzeitig befinden sich noch immer etwa 600‘000 Menschen in einer 5 km langen Kampfzone beiderseits der sogenannten Kontaktlinie. Es ist schwer, sich das Leben dieser Menschen vorzustellen, ohne vor Ort gewesen zu sein. Aber wir werden versuchen, mittels Augenzeugenberichten die momentane Lage zu beschreiben. Die Bedrohung durch die Ausbreitung von SARS-CoV-2 ist ein neuer Schlag für die «normalen» Menschen, von denen die meisten keinen Zugang zu hochwertigen Gesundheitsdiensten haben. Die medizinische Infrastruktur hier wird Jahr für Jahr mehr beschädigt. Unter dem Druck der Militäroperationen in den Frontdörfern haben Bewohner·innen mit chronischen Krankheiten wie Diabetes, HIV, Tuberkulose, Hepatitis C oder Bluthochdruck nur begrenzten Zugang zu medizinischer Versorgung. Da die Statistiken die tatsächliche Zahl der Infizierten nur sehr grob wiedergeben, ist es schwierig, die Sterblichkeitsrate einzuschätzen. Laut einer Version liegt sie in der Ukraine bei 3 Prozent. Bisher (Stand 1. Mai) wurden 11‘411 Fälle von COVID-19 bestätigt, 297 verliefen tödlich. Das Land ist besonders gefährdet aufgrund seiner 420 Kilometer langen Kontaktlinie; sie trennt die von der ukrainischen Regierung kontrollierte Zone (GCA) von der nicht-regierungskontrollierten Zone (NGCA), die von Russland besetzten Regionen Luhansk und Donezk. Auf der anderen Seite der Kontaktlinie wurden nach offiziellen Angaben der Regierungen der selbsternannten Volksrepubliken Donezk («DPR») und Luhansk («LPR») 105 bzw. 119 bestätigte Fälle gemeldet. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) teilte den Medien mit, dass es so gut wie keine Informationen über die Verbreitung des Coronavirus in diesen Gebieten gibt. Wir sprachen mit unseren Freunden auf beiden Seiten der Kontaktlinie in der Region Luhansk darüber, wie sich ihr Leben in dem bereits durch den militärischen Konflikt begrenzten Raum verändert hat. Aus Sicherheitsgründen haben wir die Namen der Menschen geändert, die in der selbsternannten Volksrepublik Luhansk leben. Alle Stellungnahmen wurden Anfang April von unserer Korrespondentin in der Ukraine eingeholt. Seitdem wurden die Quarantänemassnahmen wesentlich verschärft.
Grenzverkehr
«Das Leben unserer Familie hat sich durch die Quarantäne nicht sehr verändert. Mein Mann und ich haben vorher schon von zu Hause aus gearbeitet. Die Kinder sind im Fernunterricht in der Schule, aber das Ganze ist noch nicht sehr eingespielt. Die Anforderungen und Umstände ändern sich ständig. Ältere Menschen werden überredet, zu Hause zu bleiben. Wir gehen nur einkaufen und spazieren, wobei wir versuchen, mit niemandem zu kommunizieren. Wir haben keine strenge Quarantäne, die Polizei kontrolliert uns nicht. Die Leute sind auf der Strasse, einige sind maskiert, andere nicht. Manche halten Abstand, manche weniger (meist Teenager). Einige der Läden sind geschlossen und in den Restaurants gibt es nur Take-away. Die Übergänge in das von der Regierung kontrollierte Gebiet sind geschlossen, die Grenze zu Russland ist nicht geschlossen. Die Menschen fahren hauptsächlich zum Arbeiten nach Moskau. Überall hängen Stellenanzeigen. In der Region Rostow reisen die Menschen auch, um russische Pässe zu bekommen. Es gibt einen Busdienst. In unserer Stadt gibt es keine Fälle von Ansteckung mit dem Virus, die Volksrepublik Luhansk gibt offiziell 8 Fälle an. Monatlich überqueren 1,1 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer die Kontaktlinie; darunter viele Rentner·innen, also besonders Virus-gefährdete Menschen, die ihre Rente bei ukrainischen Banken auf dem von der Regierung kontrollierten Gebiet beziehen. Am 22. März hat die ukrainische Regierung den Übergang der Kontaktlinie im Donbas gesperrt. Am 16. März schloss auch Russland seine Grenzen für Ausländer·innen. Dies betraf auch die unkontrollierte Grenze der Ukraine im Donbas, aber am 23. März machte die russische Regierung eine Ausnahme für diejenigen, die in den selbsternannten Volksrepubliken Donezk («DVR») und Luhansk («LPR») registriert sind.» Ivanka, Programmiererin,Alchievsk (Volksrepublik Luhansk)
Medizinischer Notstand
«Veränderungen in meiner Arbeit? Hmm... Wenn mich jetzt jemand nach persönlicher Schutzausrüstung fragt, frage ich zurück, was gemeint ist. Kugelsichere Weste und Helm oder Maske und Antiseptikum? Das Coronavirus hat mir eine Menge Arbeit beschert. Aber das ist schon in Ordnung. Die Musiker auf der Titanic spielten weiter, als das Schiff zu sinken drohte. 100 Prozent der Themen, an denen ich derzeit arbeite, beziehen sich auf COVID-19. In der Ukraine kann man das nur mit dem Jahr 2014 vergleichen, als der Krieg fast das einzige Thema war. In der Region Luhansk wurden schneller sehr strenge Quarantänemassnahmen eingeführt als in anderen Teilen des Landes. So dürfen Sie beispielsweise nicht in diese Region einreisen, wenn Sie nicht ortsansässig sind, und diese Region nicht verlassen, wenn Sie dauerhaft hier leben. Solche Massnahmen waren unverhältnismässig zur Zahl der infizierten Patienten. Ich denke, dass sie mit dem schlechten Stand der ukrainischen Medizin zusammenhängen. Wenn sich das Virus in der Ukraine genauso stark verbreiten würde wie in Italien, wäre die Zahl der Todesfälle in der Ukraine um ein Vielfaches höher. Das wäre eine nationale Tragödie. Ein weiteres Beispiel für Quarantäne in der Region Luhansk: Kürzlich erlaubte die Ukraine den Handel auf Marktplätzen, der vor einem Monat wegen COVID-19 verboten wurde. Aber in der Region Luhansk wurde das Verbot nicht aufgehoben. Die lokalen Behörden sind der Ansicht, dass es schlicht unmöglich ist, den notwendigen Abstand einzuhalten. Im besetzten Teil der Region Luhansk arbeiten die Marktplätze übrigens ohne Einschränkungen weiter. Sie bevorzugen, glaube ich, die natürliche Auslese. Täglich kaufen Krankenhäuser Beatmungsgeräte. Mit staatlichen Geldern, mit Geldern der Oligarchen. Manchmal gibt es in den Krankenhäusern keine geeigneten Steckdosen, um die Geräte anzuschliessen. Viele Ärzte sind psychologisch nicht auf eine Epidemie vorbereitet. Wenn man sie nach ihrer Einsatzbereitschaft fragt, sagen sie als erstes: «Wir hoffen, dass wir keine Fälle von Coronaviren haben werden.» In den Apotheken gibt es keine Masken. Und wenn doch, dann sind sie 20 Mal teurer als vor dem Coronavirus. Menschen, die früher Kleider repariert oder Bettwäsche genäht haben, haben sich auf das Nähen von medizinischen Masken umgestellt. Viele Menschen nähen selbst Masken. Im März starben 12 ukrainische Soldaten an den Folgen des Beschusses. Das sind genauso viele wie im Januar und dreimal mehr als im Februar. In der Armee wurden Schichtwechsel wegen des Coronavirus verschoben. Die Militärs, die ihre Stellungen an der Front verlassen sollten, werden dies nach der Quarantäne tun. Das Coronavirus hat Kontrollpunkte geschlossen, an denen Menschen die Kontaktlinie überschreiten können. Aus diesem Grund können Tausende von Menschen nicht nach Hause zurückkehren. Manchmal verbringen die Menschen die Nacht unter freiem Himmel direkt in der Nähe des Kontrollpunktes, weil sie kein Geld für eine Unterkunft haben.» Piotr, Journalist, Sievierodonetsk (unter der Kontrolle der ukrainischen Regierung)
Militaristische Lösung?
«In Luhansk fingen sie an, Unterhaltungseinrichtungen zu schliessen, dann Schulen und Geschäfte. Kindergärten sind im Moment noch in Betrieb, werden aber wahrscheinlich schliessen, Transport ist bisher verfügbar. (...) Die Atmosphäre ändert sich natürlich. Im Allgemeinen ist die Stimmung nicht sehr angespannt, aber man hat das Gefühl, dass es bald noch mehr Einschränkungen geben wird. Neulich wurden zwei Kleinstädte in der Nähe von Luhansk völlig isoliert, weil 4 oder 5 Männer aus Moskau kamen und die Diagnose des Virus erhielten, und sofort wurden strenge Massnahmen ergriffen. Denn die «Republik» hat einen ausserordentlichen Befehl, das Virus um jeden Preis zu stoppen. Ich denke, die lokalen Behörden werden wie üblich versuchen, das Problem auf militaristische Weise zu lösen». Ivan, Künstler, Luhansk (Volksrepublik Luhansk)
Der Krieg geht weiter
«Die Soldaten tragen Masken. Kürzlich gab es einen Schichtwechsel beim Militär, und es gab das Gerücht, dass jemand vom Militär infiziert war. Aber ich weiss nicht, ob das bestätigt wurde. Es hat nirgendwo eine Desinfektion stattgefunden. Alle Märkte hier sind geschlossen. Das bedeutet für viele den Verlust einer Einkommensquelle. In der benachbarten Region Donezk wurden hingegen 12 Märkte wieder geöffnet. Die Produkte in den Geschäften verteuerten sich, aber es gibt keinen Mangel, nur lange Schlangen in denen wir versuchen, Abstand zu halten. Rentner gehen manchmal ohne Maske. Einmal griff die Polizei ein. Eine Frau, die mit der Polizei nicht einverstanden war, wurde aufs Polizeirevier gebracht und erhielt eine Geldstrafe. Die Polizei fährt einen Lautsprecherwagen und informiert die Leute über die Quarantänebestimmungen. Angeblich zeichnet die Polizei auch Anrufe, die sie entgegennimmt, für späteren Gebrauch auf. (Ein solcher Fall wurde bekannt.) In der ganzen Stadt gibt es Plakate mit der Information, dass wir im Notfall unseren Arzt anrufen sollen, aber wir haben keine Nummern. Alternativ rufen wir sofort einen Krankenwagen. Es gibt eine Luhansk-Coronavirus-Hotline. Vor dem Krieg lebten in unserer Stadt 15‘000 Menschen, heute zählt die lokale Verwaltung 15‘000 inklusive den Menschen aus den besetzten Gebieten. Ich glaube, sie überschätzen die Zahlen. Wir sind etwa 10‘000 Einwohner, davon 1‘000 Kinder. Und nun stellen Sie sich vor, wir haben seit eineinhalb Jahren keinen Kinderarzt mehr und nur zwei alte Therapeuten, die 72 und 73 Jahre alt sind. Das ist eine Katastrophe. In den öffentlichen Apotheken gibt es keine Masken, nur in den privaten Geschäften. Keine fiebersenkenden Medikamente. Eine Bekannte hat angefangen, Masken für den Verkauf zu nähen. Es gibt keinen öffentlichen Nahverkehr mehr. Manchmal wird privater Pendeldienst angeboten, aber der nimmt nur zehn Personen mit. Und die Fahrkarte kostet doppelt so viel. Humanitäre Organisationen kommen nicht mehr. Früher kamen wöchentlich mobile Teams von Psychologen. Jetzt sind sie alle online gegangen.» Elena, ehemalige Geschichtslehrerin, Zolote (unter der Kontrolle der ukrainischen Regierung)
Logistische Isolation
«Die Oblast Luhansk war immer die isolierteste Region des ukrainischen Festlands. Da es die östlichste Region ist, grenzt es im Norden, Osten und Süden an die Russische Föderation. Die Anbindung an andere ukrainische Regionen ist indes nur im Westen möglich, in Richtung der Oblaste Donezk und Charkiw. Aufgrund des bewaffneten Konflikts in der Ostukraine wurde der gesamte Oblast Luhansk in zwei Hälften geteilt. Das von der Regierung kontrollierte Gebiet (nördlicher Teil) wird vom nicht-regierungskontrollierten Gebiet (südlicher Teil) hauptsächlich durch den Siverskyi Donez getrennt, den grössten Fluss der Ostukraine, der ein natürliches Hindernis für die Konfliktparteien darstellt. Es gibt nur einen Checkpoint an der Kontaktlinie im Gebiet Luhansk. Der Konflikt hat den Oblast noch stärker isoliert. Heutzutage, wo sich der COVID-19 mit Hochgeschwindigkeit über die ganze Welt ausbreitet und Millionen von Menschen gefährdet, spielte die logistische Isolation des Gebiets Luhansk eine grosse Rolle, um Zeit zu gewinnen, sich auf die massenhafte Ausbreitung des COVID-19 vorzubereiten. Die ersten Infektionen wurden im Westen und im Zentrum der Ukraine festgestellt. Die ersten internen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit in diesem Zusammenhang wurden jedoch innerhalb der Oblaste Donezk und Luhansk verhängt. Der Eingang zu diesen Oblasten ist mit Polizeikontrollpunkten ausgestattet, dementsprechend war es einfacher, hier die Bewegung einzuschränken. Auch der Verkehr über die Kontaktlinie wurde Anfang März eingeschränkt und am Ende fast vollständig verboten – mit sehr wenigen Ausnahmen für aussergewöhnliche Situationen. Was die Staatsgrenze zur Russischen Föderation betrifft, so befindet sich der letzte operative Grenzübergang in Milove, doch haben beide Staaten die Einreise von Ausländerinnen und Ausländern verboten, so dass Bürgerinnen und Bürger der Ukraine und der Russischen Föderation nur in ihre Staaten zurückkehren können. (...)» Levon, Menschenrechtsaktivist, Sievierodonetsk (unter der Kontrolle der ukrainischen Regierung)