Zwischen September 2007 und März 2008 besuchten Isa Fremaux et John Jordan 12 antikapitalistische und selbstverwaltete Utopien in Europa, um zu zeigen, dass es nicht nur möglich ist, trotz des Kapitalismus zu leben, sondern dass es sogar schön und bereichernd sein und Denkan-stöße vermitteln kann. Der folgende Text berichtet über ihre dritte Station, eine anarchistische Schule im Südwesten Spaniens*.
In Frankreichs politischem Klima, wo Erziehung und Bildung zunehmend von Repression begleitet wird und wo man sich verschanzt hinter nebelhaften Theorien zur Genetik, die die «Verhaltensstörungen» derjenigen erklären sollen, die sich nicht anpassen, da gibt Paideia eine andere Vision von dem, was Bildung sein kann.
Paideia ist eine Insel des Widerstandes… Und so sieht es in der freien Schule von Merida im Südwesten Spaniens auch aus: Umgeben von einem ausgetrockneten Garten und wenigen Bäumen behauptet sich stolz ein gelbes Haus innerhalb eines Ozeans von halbfertigen Kreisverkehrsanlagen und ausgebaggerten Schlammpisten. Noch vor knapp einem Jahr befand sich die Schule inmitten eines immensen Olivenhains…
Aber der urbanen Entwicklung standen, wie schon so oft, die hundertjährigen Bäume im Wege. Und wieder einmal mussten sie einem Wohnkomplex weichen.
Diese rohe Nachbarschaft bringt die Schüler ebenso auf wie die Lehrer und macht sie traurig, dennoch sind sie nicht aufzuhalten. Die Schule ist Frucht eines unaufhörlichen Kampfes; allen Hindernissen auf ihrem Weg zum Trotz hat sie ihr Antlitz gewahrt – da werden sie auch ein paar Baumaschinen nicht zum Nachgeben zwingen. Das Weiterbestehen von Paideia erstaunt weniger, wenn man Pepita kennt, eine der Gründerinnen der anarchistischen Schule: Die Entschlossenheit, die unter dem feuerroten Haar dieser kleinen und robusten Frau hervorblickt, macht einem schnell klar, dass es leichter ist, einen Berg zu versetzen, als sie von ihrem Ziel abzubringen.
Wie viel Beharrlichkeit für ein solches Ziel nötig ist, kann man sich denken: Die Gründung und die Bestandssicherung einer anarchistischen Schule, die von den Schülern selbst verwaltet wird und wo einer der grundlegenden Werte die Ablehnung jeglicher Autorität ist, war und ist sicher kein leichtes Unterfangen. Und dennoch,
29 Jahre nach ihrer Gründung, ist Paideia immer noch da mit ihren 60 SchülerInnen und 10 LehrerInnen, so den Zynikern demonstrierend, dass es mit Geduld und fester Überzeugung möglich ist, anarchistische Prinzipien auf die Bildung und Erziehung von Kindern anzuwenden, ohne dass alles im Chaos endet. Im Gegenteil!
Paideia… …ist ein Konzept aus der griechischen Antike, als Charakterbildung der Bürger als Prozess verstanden wurde. Auch in der freien Schule von Merida wird Erziehung so aufgefasst. Dort basiert alles auf sieben Grundwerten: Gleichheit, Solidarität, Gerechtigkeit, Freiheit, Gewaltlosigkeit, Kultur und Glück. Letzterem kommt die größte Bedeutung zu, weil es die Summe aller anderen Werte ist und den Endzweck der Schule repräsentiert. Aber, wie Pepita uns klar machte: «Glück heißt nicht, alles zu haben, was man begehrt. Glück heißt, eine wirkliche Stabilität und emotionale Reife zu erlangen».
Das Herz der Funktionsweise dieser Schule ist, wie bei allen anarchistischen Gruppen, die Versammlung: Organ der direkten Demokratie, wo jeder an den Debatten teilnimmt, wo die Entscheidungen kollektiv, nicht hierarchisch und in gegenseitigem Respekt getroffen werden. Ganz gleich, ob es sich um den Stundenplan, den Lernstoff, den Speiseplan oder um Konfliktregelung dreht, das Leben an der Schule wird von den Versammlungen bestimmt, in denen Kinder und Erwachsene einvernehmlich arbeiten. Diese Versammlungen werden von den SchülerInnen selbst und der Reihe nach geleitet, egal, ob sie die ganze Schule oder nur eine Altersgruppe vereinen.
Das auffälligste Resultat einer solchen Pädagogik ist die Reife der Kinder von Paideia: Mit frühem Alter schon sind sie in der Lage, ihre Gedanken und Emotionen auszudrücken, zu argumentieren, Meinungsverschiedenheiten zu artikulieren, einander zuzuhören und vor allem – jederzeit Vorschläge zu unterbreiten, die zu allgemein akzeptablen Lösungen führen.
Das Lernen beginnt sehr früh. Schon im Alter von zwei Jahren entscheiden die Kinder über die Tagesaktivitäten in Versammlungen. «Natürlich nehmen die Kleinsten nicht wirklich teil. Aber sie lernen schnell, dass die Versammlung ein Ort ist, wo man sich in den Kreis setzt, wo man ruhig ist, wo man denen, die sprechen, zuhört», erklärt uns Olivia und hat dabei ein Auge auf ein kleines Mädchen, das auf dem Schwebebalken sein Gleichgewicht sucht. «Das sind doch wohl eher die LehrerInnen, die diese Versammlungen leiten?» «Nein, das machen die Größeren, die Vierjährigen. Und sie machen es sehr gut, sehr ernsthaft», antwortet sie mir so, als ob es eine völlig klare Sache sei.
Eines der Fundamente von Paideia ist der feste Glaube an die Fähigkeit der Kinder (und der etwas Größeren) zur Selbstverwaltung. Diese wird jedoch nicht als etwas Angeborenes betrachtet, sondern als eine langsam und mit viel Praxis zu erwerbende Gabe.
«Genauso lehren wir auch die Gewaltlosigkeit», erklärt mir Olivia, «durch Wiederholung: Jedes Mal, wenn wir ein Kind sehen, das gegen ein anderes Gewalt ausübt, wird es gebeten, seine Geste zu erklären, jedem wird soviel Vertrauen entgegengebracht, dass er oder sie ihre Emotionen erklären können und dass sie anschließend gemeinsam Mittel und Wege finden, ihre Differenzen zu diskutieren..» An diesem Nachmittag gab es während der Freizeit einen Vorfall, der das illustrierte. Marina, eine sechsjährige Brünette, wandte sich ruhig an Miguel, der sie ohne sichtbaren Grund schlug. «Jetzt reicht es. Das ist überhaupt nicht lustig. Ich bin sicher, dass du es nicht gut fändest, wenn ich dasselbe tun würde.» Und Miguel fügte sich.
Angesichts einer solchen Szene drängt sich die Erinnerung an all die Schulstunden voll Schreien und Tränen auf, in denen die Lehrer immer wieder meinten, sie wären zum Richter berufen.
Tagesablauf Auf jeden Fall ähnelt Paideia in quasi nichts einer Schule: Abgesehen von einigen schwarzen Tafeln in bestimmten Räumen und Büchern in Regalen gibt es keine aufgereihten Schulbänke, keine Schuluhr, keine Pausenklingel, die den Tagesrhythmus bestimmt. Die Stundenpläne der verschiedenen Altersgruppen sind in den Fluren ausgehängt und jeder scheint - auch ohne gellende Ermahnung - der einen oder anderen Aktivität nachzugehen.
«Jetzt gerade fängt der Tag mit kollektiven Arbeiten an, die Küchengruppe bereitet das Frühstück vor, während andere die Klassen fegen oder reinigen. Um 11 Uhr wird gefrühstückt, halb zwölf ist die Zeit für Lernwerkstatt oder Versammlung, 14 bis 15 Uhr ist Freizeit, in der die Kleinen zu Mittag essen, wir, die Größeren essen zwischen 15 und 16 Uhr, und um 16 Uhr ist noch einmal Lernwerkstatt, Imbiss um 17 Uhr, dann kollektive Arbeiten, um 18 Uhr schließlich gehen wir nach Hause.» Der Stundenplan wurde uns mit einem Lächeln und in einem Atemzug von Jara dargelegt, 15 Jahre alt und die Schulälteste. Sie wurde mit zwei Jahren in Paideia eingeschult. «Wir beschließen den Stundenplan, einschließlich der Essenszeiten, für jedes Vierteljahr in einer Versammlung», erklärt sie uns. «Ebenso beschließen wir nach einer kritischen Analyse des vorhergehenden Vierteljahres, was wir lernen wollen. Nichts ist jemals feststehend hier, alles kann sich ändern von einem Vierteljahr zum nächsten!» Umgeben von einem halben Dutzend SchülerInnen, die ihre Darlegungen bestätigen, erklärt sie uns, wie das Funktionieren der Schule in verschiedenen Gruppen, die sich jeden Monat ändern können, organisiert ist: Küchengruppe, Reinigungsgruppe, Handarbeitsgruppe.
Die Küchengruppe bereitet das Essen vor. Deren Arbeit wird von zwei Erwachsenen koordiniert. Wir sind völlig verblüfft, dass Kinder, einige kaum älter als fünf oder sechs Jahre, Gemüse schneiden oder schälen und das Brotmesser oder eine Reibe mit großer Selbstverständlichkeit handhaben. Ein Gesundheitsinspektor würde in Ohnmacht fallen.
Es gibt jedoch keinen Grund zur Sorge: Die Erwachsenen und die ältesten Schüler passen auf die Jüngsten auf, so dass keine Unfallgefahr besteht. Sie zeigen ihnen Beispiele und erklären ihnen die grundlegenden Sicherheitsregeln. «Auch Solidarität kann man lernen und für uns ist es sehr wichtig, dass die Großen sich für die Jüngsten verantwortlich fühlen», sagt uns Pepita.
In der Tat gab es den ganzen Tag lang Beispiele dafür: Beim Aussteigen aus dem Bus, in der Küche, im Pausenhof helfen die Kinder sich normalerweise gegenseitig und suchen nicht ständig einen Erwachsenen, der ihnen zur Seite steht.
Selbständigkeit Diese Unabhängigkeit von den Erwachsenen ist sehr wichtig. Eines der Ziele der Pädagogik von Paideia ist das Erlernen von Freiheit, von den Erziehern begriffen als die Fähigkeit, selbständig Entscheidungen zu treffen und sich der Konsequenzen bewusst zu sein.
Während unserer ersten Zusammenkunft mit den Erziehern im September erklärt uns eine von ihnen, dass in den Wochen nach der Rückkehr aus den Ferien die Schüler zu «Mandados» werden, das heißt Anweisungen erhalten. «Nachdem sie zwei Monate in ihren Familien verbracht haben, mit Fernsehen beschäftigt waren oder mit ihren Großeltern, stehen sie wieder unter dem Einfluss von Konkurrenz und Konsum, was sie in die Mentalität von Unterwerfung zurückversetzt. Nach Ende der Ferien fragen sie uns ständig, was sie machen sollen, sind nicht frei und müssen wieder lernen, auch ohne Fragen klarzukommen. Dieses Wiedererlernen heißt ‚Mandado‘ sein: für eine bestimmte Periode (deren Ende auf einer Versammlung bestimmt wird, die entweder von den ErzieherInnen oder den Kindern selbst einberufen wird) wird einem Kind, das keine Fähigkeit zur Autonomie zeigt, gesagt, was zu tun ist. Weil das äußerst unangenehm ist, geht die Rückbesinnung sehr schnell. In dieser Zeit ist die ganze Schule ‚Mandado‘, eine außergewöhnliche Situation». Unser Staunen ist grenzenlos: Dies ist eine Schule, wo die Kinder sich selbst zur Raison rufen, wenn sie zu oft um Erlaubnis bitten!
«Mandado» wird ein(e) Schüler(in) auch dann, wenn er/sie sein «Compromiso», also seine «Verpflichtung», nicht einhält. Jeder Schüler muss sich in der Tat verpflichten, in jedem Vierteljahr eine bestimmte Anzahl von Vorgaben zu erfüllen und schriftliche Arbeiten, Berichte und Hausaufgaben zu fest umrissenen Lerngegenständen abzugeben. Sind die Verpflichtungen nicht erfüllt, wird er/sie wieder «Mandado»… bis eine Versammlung darüber bestimmt, ob er/sie das Erforderliche gelernt hat und also sein/ihr Leben als freier Schüler wieder aufnehmen kann…
Kommissionen Um sicher zu gehen, dass jeder seine Verantwortungen auch ernst nimmt, werden die Kinder in Kommissionen verteilt. Chris, ein junger Engländer von 12 Jahren, der vor zwei Jahren hierher kam, erklärt uns, dass er Mitglied der Kommission «Lösungen» ist. Seine Aufgabe besteht darin, Konflikte und Probleme zwischen Schulkameraden schnell zu erkennen und Lösungen zu deren Beherrschung anzubieten, ohne auf das Eingreifen von Erwachsenen angewiesen zu sein. «Ich mag diese Aufgabe sehr, sie ist sehr wichtig und ich fühle, dass ich wirklich nützlich bin».
Die Aufgabe der Kommission «Vorgaben», von je einem Schüler aus jeder Altersgruppe gebildet, besteht darin, jeder Versammlung Bericht zu erstatten. «Nicht im Sinne von Anschwärzen.» erklärt uns Joana, eine ehemalige Schülerin von Paideia, die jede Woche ihre SchulkameradInneen und ErzieherInnen besuchen kommt. «Es geht darum, Probleme kollektiv zu diskutieren und außerdem darum, dass jeder Schüler lernt, über seine Handlungen und Verhaltensweisen nachzudenken. Das Herz von allem hier ist und bleibt der Respekt dem anderen und sich selbst gegenüber. Ich habe den Eindruck, dass ich mich selbst viel besser kenne, was die meisten meiner Freundinnen, die in normale Schulen gehen, nicht von sich sagen können.»
Natürlich gibt es in Paideia keine Prüfungen, keine Kontrollarbeiten oder Noten. Jedes Vierteljahr haben die Schüler ein individuelles Gespräch mit Pepita. Während dieser «Prueba Larga» schätzt sie die Entwicklung jedes Kindes in Bezug auf Wissen wie auch auf Reife ein. Eine Reihe von Übersichten und Tabellen werden für diese Tests verwandt, und die Ergebnisse werden anschließend mit dem gesamten pädagogischen Team diskutiert, welches so die individuelle Entwicklung jedes Kindes hautnah verfolgen kann.
Eins ist ziemlich gewiss: Was auch immer passiert, die Schüler hier würden nie in Betracht ziehen, diese Schule anzuzünden. Joana hat uns das mit auf den Weg gegeben: «Für mich ist Paideia wie eine Familie. Nach all den Jahren fühle ich mich immer noch verantwortlich für das, was hier passiert.»