WAHLEN IN ARGENTINIEN: Comedia dell?Arte

von Carine Thibaut (Buenos Aires), 26.08.2003, Veröffentlicht in Archipel 107

Nachricht, dass Menem zum zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen nicht antreten würde. Derjenige der den zweiten Wahlgang eingeführt und dieses für Argentinien neues Szenario experimentiert hatte, verweigerte, sich seinem Gegner Nestor Kirchner zu stellen Eine paradoxe Situation in Anbetracht des Sieges Menems im ersten Wahlgang mit 24 Prozent der Stimmen über seinen Rivalen, der es nur auf 22 Prozent brachte. Tatsache ist, dass Kirchner, ebenfalls Kandidat der Peronisten, mit nur 22 Prozent der Stimmen aus dem ersten Wahlgang Präsident Argentiniens wurde.

Die Straßen sind noch voller Wahlplakate der beiden Kandidaten, überwiegend kann man den Slogan Menems lesen, "Volver a Menem " (Zurück zu Menem). Während zwei Tagen knisterte es in den Zeitungen und im Fernsehen, bis Menem aus der Provinz Roja offiziell verlauten ließ, dass "die Bedingungen für einen zweiten Wahlgang nicht erfüllt seien". Bis jetzt gibt es vielfältige Hypothesen über den Grund seines Rückzugs. Eine davon sieht darin einen Trick, um die zukünftige Regierung zu schwächen: Nur ein Sieger aus einem zweiten Wahlgang wäre legitimiert. Gewisse Stimmen lassen sogar die Möglichkeit eines " institutionellen Staatsstreichs" verlauten, mit Unterstützung verschiedener Instanzen, die Armee eingeschlossen, mit der Menem ausgezeichnete Beziehungen unterhält (eine seiner Vorschläge während des Wahlkampfs war, die Armee in die Straßen zu beordern, um dem sozialen Chaos ein Ende zu bereiten). Indem er das Risiko vermied, die Wahlen zu verlieren, hat Menem seinem Rivalen Kirchner ein Schnippchen geschlagen. Im Gegensatz zum Verhalten, das man von einem Kandidaten erwarten könnte, der sich zurückzieht, brachte Menem die verschiedensten Gerüchte in Umlauf. Schlussendlich zeigte er sich (ironischerweise) in Siegerposition auf dem Balkon des Regierungsgebäudes und ließ Kirchner wie den Verlierer erscheinen. Menem hat sich wie ein Prinz zurückgezogen und so seinen Rivalen um den von den Meinungsumfragen vorausgesagten überwältigenden Sieg mit über 70 Prozent der Stimmen gebracht. Die Proteststimmen gegen Menem hätten Kirchner eine breite Mehrheit beschert Für diejenigen, die die Feinheiten der argentinischen Politik nicht kennen, muss hier darauf hingewiesen werden, dass Menem trotz seines Rückzugs so präsent wie nie zuvor ist, er hat nur die Arena gewechselt. In gewissen alternativen Medien konnte man die Schlagzeile lesen: "Kirchner regiert, Menem an der Macht?"

Menem gegen Kirchner-Duhalde… Der Peronismus ist nicht gestorben

Die ersten Schlussfolgerungen, die man aus dem Verzicht Menems ziehen kann, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die internen Konflikte der Partido Justicialiste (PJ) weiterhin die nationale Bühne beherrschen werden. Seit Monaten ist die PJ in zwei Lager gespalten, in das der Anhänger Menems und dessen des aktuellen Präsidenten Duhalde: Ein Machtkampf der Fraktionen, der die Aufstellung eines Einheitskandidaten der PJ unmöglich gemacht hatte. So gab es drei Kandidaten aus derselben Partei: Carlos Menem (1989 und 1994 Staatspräsident), Rodriguez Saa und der von Duhalde ins Rennen geschickte Nestor Kirchner. Die Zukunft Kirchners als argentinischer Präsident wird vor allem durch die internen Konflikte der PJ geprägt sein. Seine Administration riskiert, schon in den ersten Monaten der Regierungszeit in die Strudel der Machtkämpfe gerissen zu werden. Effektiv führt Menem trotz seines Verzichts, den Kampf innerhalb der PJ weiter.

Rückblick

Um die aktuelle Situation verstehen zu können, ist ein Rückblick angebracht. Schauen wir uns etwas näher die Ergebnisse der ersten Wahlrunde an, die zur Stichwahl hätten führen müssen. Am Tag nach dem ersten Wahlgang publizierte der Schriftsteller Osvaldo Bayer einen Artikel in der Zeitung Pagina 12 , in dem er schrieb "wir sind alle Peronisten, wir sind alle Argentinier". Er nahm so Bezug auf die Tatsache, dass die drei Kandidaten der PJ insgesamt 60 Prozent aller Stimmabgaben für sich verbuchen konnten. Unter anderem kann man daraus den Schluss ziehen, dass die Partido Radical, die während Jahren die zweitgrößte Partei Argentiniens war (eher mit der Mittelklasse verbunden ), "gestorben" ist. Gleichzeitig tritt eine von Lopez Murphy verkörperte harte rechte Partei in Erscheinung sowie die Partei der linken Mitte von Elisa Carrio. Die Mehrzahl der Stimmen hingegen bestimmten den Präsidenten und verwandelten den ersten Wahlgang in eine Form von Wahlkampf innerhalb der PJ. In diesem internen Test der ersten Wahlrunde trug Carlos Menem (der wegen seines hohen Alters nicht noch einmal kandidieren wird können) mit 24 Prozent der Stimmen den Sieg davon. Die Perspektive eines zweiten Wahlgangs bot dem Duo Duhalde-Kirchner die Möglichkeit einer breiten Mehrheit, in einem der letzten französischen Wahlen vergleichbaren Szenario der Anti-Le Pen Wahl (in diesem Fall Anti-Menem). Im peronistischen Parteiapparat stehen die Siege und Niederlagen nicht immer in Zusammenhang mit den Wahlerfolgen, sondern werden an der realen Macht gemessen . Schon die erste Runde bestätigte die Wichtigkeit der PJ aus der Provinz Buenos Aires, des Terrains von Duhalde. Er brachte es zustande, den Kandidaten Kirchner in der zweiten Wahlrunde durchzusetzen, ohne dass dieser anfänglich von dem Vorteil einer Aura oder Anerkennung profitierte. Normalerweise bestätigen und festigen die Wahlen denjenigen, der den lokalen Parteiapparat leitet (seit Jahren charakterisiert durch die Vorherrschaft der lokalen Bonzen und durch mafiöse Praktiken). "Wer den peronistischen Parteiapparat kontrolliert, der beherrscht die Wahlen".Für gewisse Analytiker bedeutet der Verzicht Menems dem "Tandem" Kirchner-Duhalde die Stirn zu bieten, das Ende seiner politischen Karriere. Für andere ist dieser Rückzug ganz im Gegenteil ein Signal der Weiterführung des Kampfes um die Macht; dieses Mal nicht auf dem Schlachtfeld der Wahlen sondern auf dem der Kontrolle des peronistischen Parteiapparates.

Die Wahlen gehen vorüber… der Hunger bleibt

Seit dem Beginn der Kampagne konfrontieren sich zwei verschiedene Wirtschaftsmodelle. Auf der einen Seite Menem und der von ihm ausgewählte Wirtschaftsminister Carlos Melconiam, die vorschlugen, Argentinien wieder für den Import zu öffnen und den Konsum der gehobenen Mittelklasse zu fördern. Kirchner entschied sich durch die Wahl Lavagnas zum Wirtschaftsminister (aktueller Minister im Kabinett Duhaldes) für die Beständigkeit. Er will die Wirtschaftspolitik auf der Grundlage der Förderung der vor allem auf den Export ausgerichteten Industrie (hauptsächlich im Bereich der Agrar- und Erdölindustrie und teilweise im Bereich der Eisen- und Stahlindustrie) weiterführen. Zwei Wirtschaftsmodelle, die theoretisch als antagonistisch präsentiert werden. Das Menems, ausgerichtet auf Ausfuhr und von den gehobenen Klassen geforderte wirtschaftliche Wiederbelebung; das der Regierung Duhaldes, basierend auf der Vorstellung von einem attraktiven Land mit niedrigen Lebenshaltungskosten. Keines der beiden Modelle will und wird die 17 Millionen Argentinierinnen und Argentinier aus der Misere befreien (dem INDEC zufolge leben 57 Prozent der Einwohner Argentiniens unterhalb der Armutsgrenze). Welche Wirtschaftspolitik profiliert sich unter der Regierung Kirchner (-Duhalde) ? Das Credo der Ära Menem, der Konvertibilität des Peso-Dollar "ein Peso gleich ein Dollar", wurde in einem Regierungsjahr Duhaldes durch das neue Credo der Abwertung ersetzt. Es geht darum, einen relativ starken Dollar zu begünstigen, deshalb bemüht sich die Nationalbank darum, regelmäßig Dollars zu kaufen. Der Export wird gefördert, vor allem Produkte aus der Industrie und der Landwirtschaft. Seit Beginn seines Mandates wusste Duhalde durch seinen Minister Lavagna, die Krise infolge der Konvertibilität zu überwinden und überzeugte die Wirtschaftszweige, die der Parität Dollar-Peso am freundlichsten gesinnt waren sowie gewisse progressive Sektoren von den Vorteilen der Abwertung.

Weit davon entfernt, den internen Markt wieder anzukurbeln, ist das vorgeschlagene Modell ganz im Gegenteil Ausdruck der Wirtschaft einer Bananenrepublik. Die ökonomische Attraktivität liegt vor allem in den extrem niedrigen Löhnen. Die Löhne sind so niedrig wie noch nie, (durchschnittlich 135 Dollar pro Monat für die Frauen und 190 für die Männer), hinzu kommen 20 Prozent Arbeitslosigkeit, die den Druck auf die Löhne garantiert (eine Studie des Wirtschaftswissenschaftlers Juan Inigo Carrera wies darauf hin, dass man nur 1932 ein gleich niedriges Lohnniveau finden konnte).

Die Argentinier ertrinken….

Santa Fe ertrinkt. Argentinien muss in einer der drei größten Städte des Landes den schlimmsten Überschwemmungen trotzen. Das Hochwasser hat praktisch die ganze Stadt zerstört, und es gibt Tausende von Vermissten, von denen man nicht weiß, wie viele von ihnen noch am Leben sind. Diese Überschwemmungen sind nicht nur eine Naturkatastrophe. Sie wurden auch ausgelöst durch Verschulden der Politiker, die sich jetzt auf der Anklagebank befinden. Die schlimmen Fehler bei der Verhütung dieser Katastrophe sowie die herrschende Korruption, die unkoordinierten Hilfeleistungen und das Unvermögen der Behörden, in einer solchen Notsituation die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, spannen das soziale Klima in Santa Fe besonders an. Jeden Tag findet man neue Leichen. Die Liste der Vermissten wird stetig länger, ohne dass eine Behörde dazu im Stande wäre, die vielen Toten zahlenmäßig zu erfassen. Gleichzeitig werden Hoffnungslosigkeit und Verbitterung jeden Tag größer.

Santa Fe wurde zum extremen Spiegelbild der sozialen Situation Argentiniens. Die soziale Misere und der Hunger verschlimmern sich jeden Tag in einem Land, in dem die Arbeiter einen Hungerlohn akzeptieren, um ihre Stelle nicht zu verlieren. Die Reichen vergrößern weiterhin ihr Stück vom Kuchen in Dollarnoten, durch Kapitalflucht ins Ausland.

Auf diesem Meer schwankt das Boot der Regierung, zwischen der Einschränkung der Armut durch staatliche Wohlfahrtsprogramme, die es knapp verhindern unterzugehen (zur Erinnerung: Ein Arbeitsprogramm bringt dem Nutznießer 150 Pesos pro Monat, umgerechnet 50 Dollar). Für diejenigen, die sich auflehnen, dröhnen die Kanonen staatlicher Repression. Innerhalb eines Monats im Klima des Vorwahlkampfes hat die Regierung Duhalde vierzig Führer der Piqueteros ins Gefängnis gesperrt und die besetzte Fabrik Brukman ausquartiert, um so der Bewegung des 19. und 20. September ein Ende zu bereiten.

Dieser Artikel - auch wenn er nur von einer Person unterschrieben ist - konnte nur dank der Analysen alternativer argentinischer Medien zustande kommen. Ohne locker zu lassen, erhalten sie den militanten Journalismus am Leben, dem die vorhergehende Diktatur den Garaus machen wollte, indem er zahlreiche militante Journalisten ermordete. Ich will hier meinen Dank zum Ausdruck bringen für Indymedia Argentina / die Zeitung Proyectos 19/20 / das Kollektiv Redaccion (XXX) und für die Korrespondenten der Zeitung Tribu .