Watch the Med Alarmphone

von Simon Sontowski*, 13.05.2016, Veröffentlicht in Archipel 246

Als die Notrufhotline des Alarmphones im Herbst 2014 ihren Betrieb aufnahm, ahnte wohl keine_r der ca. 100 beteiligten Aktivist_innen aus ganz Europa und Nordafrika, welche Dynamik dieses Projekt im Laufe des Jahres 2015 entfalten würde.

Angetreten war das Alarmphone mit dem Ziel, in Echtzeit gegen das Massensterben im Mittelmeer anzukämpfen, unterlassene Hilfeleistung auf hoher See zu dokumentieren und illegale Rückschiebungen zu verhindern. Im Sommer 2015 entwickelte es sich darüber hinaus jedoch zu einem unverzichtbaren Glied in einer langen Kette von Unterstützungsstrukturen, die in kollektiven politischen Akten dazu beitrugen, dass sich Tausende das Recht auf Bewegungsfreiheit aneignen konnten. Ein Rückblick auf ein Jahr Alarmphone ist somit auch ein Rückblick auf ein Jahr, in dem das europäische Grenzregime in eine zuvor kaum vorstellbare Krise geriet.
Langer Sommer der Migration
Der Start des Alarmphones im Oktober 2014 fiel zusammen mit dem Ende von Mare Nostrum, der italienischen Seenotrettungsmission, durch die rund 170'000 Menschen sicher nach Italien gelangen konnten. Die in Budget und Aktionsradius wesentlich kleinere und von Frontex koordinierte Nachfolgeoperation Triton war hingegen wieder darauf ausgelegt, Grenzen zu schützen, statt Leben zu retten. Frontex weigerte sich zunächst explizit, ausserhalb eines Radius von 30 Seemeilen vor der italienischen Küste zu operieren – ein bewusstes Sterbenlassen auf hoher See. Vor diesem Hintergrund war das Alarmphone in den ersten sechs Monaten an etwa 30 Seenot-Fällen in allen drei Regionen des Mittelmeeres beteiligt und sorgte durch schnelles Intervenieren dafür, dass zahlreiche Flüchtende aufgegriffen und sicher nach Spanien, Italien oder Griechenland gebracht wurden. Gleichzeitig skandalisierte es mit der Kampagne «Push back Frontex» die menschenverachtende europäische Politik des Sterbenlassens auf hoher See.
Als im April 2015 die Überfahrten über das zentrale Mittelmeer massiv zunahmen, erreichten das Alarmphone innerhalb eines Monats so viele Notrufe wie in den gesamten sechs Monaten zuvor. Doch durch die im Vergleich zum Vorjahr drastisch reduzierten Seenotrettungskapazitäten war es nur eine Frage der Zeit, bis es wieder zu grösseren Schiffskatastrophen kommen würde. Schon im ersten Quartal 2015 waren knapp 500 Menschen ertrunken, Mitte April starben dann innerhalb einer Woche mehr als 1'250 Menschen, als zwei Boote im zentralen Mittelmeer kenterten – Katastrophen, die bei einer konsequenten Fortsetzung von Mare Nostrum vermeidbar gewesen wären. Dennoch markierten sie letztlich einen Wendepunkt in der umkämpften Entwicklung des europäischen Grenzregimes. Trotz aller Rhetorik im «Kampf gegen die Schlepper» wurden die staatlichen Seenotrettungskapazitäten im Mai 2015 auf grossen zivilgesellschaftlichen Druck hin tatsächlich aufgestockt. Deutsche, britische und irische Marineschiffe wurden zur Seenotrettung entsandt und auch Triton wurde an das Niveau von Mare Nostrum angeglichen: Das Budget wurde verdreifacht, das Operationsgebiet bis vor die libysche Küste ausgeweitet und Frontex so zu einem Rettungsakteur wider Willen befördert, dessen Schiffe de facto vor allem zur Seenotrettung eingesetzt wurden.
Gleichzeitig entsandten immer mehr NGOs wie Médecins Sans Frontières oder die Migrant Offshore Aid Station zivile Rettungsschiffe ins zentrale Mittelmeer, die im Gegensatz zu den staatlichen Schiffen direkt vor den libyschen Hoheitsgewässern patrouillierten und auch gezielt nach Booten von Flüchtenden suchten. Von Anfang an stand das Alarmphone mit diesen zivilgesellschaftlichen Rettungsschiffen in direktem Kontakt und leitete regelmässig die Koordinaten von Booten in Seenot an sie weiter. Aber auch mit der italienischen Küstenwache verbesserte sich die Kooperation. Tatsächlich sorgte diese Entwicklung dafür, dass es im Sommer kaum noch zu Todesfällen kam und sich die Seenotrettung zu einer Brücke nach Europa entwickelte. Mit Beginn der militärischen EU-Operation EUnavfor Med im Juli veränderte sich diese halbwegs stabile Lage jedoch wieder. Die meisten staatlichen Schiffe wurden nun vermehrt für nachrichtendienstliche Ermittlungen gegen Schleppernetzwerke eingesetzt.
Die Festung Europa wankte
Zu dieser Zeit hatten sich die Fluchtrouten aber schon längst wieder verlagert. Ab Mitte Juli erlebte das Alarmphone hautnah mit, wie immer mehr Flüchtende die Überfahrt über die Ägäis wagten. Noch bevor viele sich Anfang September zunächst in Ungarn und dann in Österreich das Recht auf Bewegungsfreiheit erkämpften, setzen die meisten von ihnen von der türkischen Küste auf die griechischen Inseln über. Spätestens ab Anfang August stand das Alarmphone pro Woche mit 50 bis 100 Booten in der Ägäis in Kontakt. Gleichzeitig entstanden unzählige neue Kontakte zu selbstorganisierten migrantischen Netzwerken der Reisebegleitung, in denen vor allem syrische Geflüchtete die Reisen ihrer Freund_innen und Verwandten online mitverfolgten und per Smartphone jederzeit über deren Aufenthaltsort informiert waren. Verloren sie bei der Überfahrt den Kontakt oder kamen die Boote in Seenot, benachrichtigten sie das Alarmphone, das wiederum Kontakt zu den Booten aufnahm, die Küstenwache unter Druck setzte sowie Gruppen unterstützte, die auf einsamen Inseln gestrandet waren. Längst haben seitdem die direkten Anrufe auf der Alarmphone-Hotline nicht mehr die zentrale Rolle, die sie noch zu Beginn des Sommers hatten. Hinzugekommen sind stattdessen WhatsApp und Facebook als zentrale Kommunikationsmedien sowie unzählige direkte Kontakte zu bereits Geflüchteten selbst. Zusammen mit ihnen hat das Alarmphone inzwischen in mehr als 1'200 Fällen intervenieren können.
Das Alarmphone hat sich von Anfang an als politisches Projekt verstanden, das sich bewusst den Kämpfen um Bewegungsfreiheit verschreibt und gezielt in die Ambivalenzen und Bruchstellen des Grenzregimes im Mittelmeer interveniert. Trotzdem wurde es oft mit dem Vorbehalt konfrontiert, lediglich ein humanitäres Hilfsprojekt zu sein, das an den grundlegenden und oftmals tödlichen Strukturen der europäischen Grenzpolitik nichts ändern könne. Im Rückblick auf den langen Sommer der Migration 2015 verkennt diese Kritik jedoch sowohl die Instabilität des Grenzregimes als auch die Dynamik, die Kämpfe um Bewegungsfreiheit entfalten können. Im Jahr 2015 liessen sich hunderttausende Flüchtende nicht mehr von Zäunen und Stacheldraht aufhalten, sondern setzten sich selbstbestimmt über die europäischen Aussengrenzen hinweg und brachten mit ihren eigensinnigen Bewegungen die Festung Europa vorübergehend ins Wanken. Unterstützt wurden sie dabei von zahlreichen Solidaritätsnetzwerken, die Fluchthilfe praktisch werden liessen.
Gegen Ende des Jahres wurde jedoch auch sichtbar, wie sich das Grenzregime langsam wieder stabilisierte. Zwar hielten die Fluchtbewegungen über das Mittelmeer und die Balkanroute bis weit in den Winter hinein an. Dennoch versuchte die EU zunehmend die Kontrolle zurückzugewinnen und bemühte sich insbesondere darum, die Türkei als neue Grenz-wächterin Europas zu installieren. Solange es aber keine sicheren und legalen Einreisewege nach Europa gibt, so lange werden auch die Kämpfe um Bewegungsfreiheit anhalten. Und solange Flüchtende weiterhin gezwungen sind, die lebensgefährlichen Überfahrten über das Mittelmeer auf sich zu nehmen, solange wird auch das Alarmphone aktiv bleiben – sicher nicht als Lösung, aber als eine dringend notwendige Intervention.

*Simon Sontowski arbeitet am Geographischen Institut der Universität Zürich und ist aktiv beim Watch the Med Alarmphone und bei kritnet, dem Netzwerk für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung. Zudem ist er Redaktionsmitglied des Online-Journals movements (www.movements-journal.org).