Im Oktober 2024 kamen drei Palästinenser·innen aus der Gegend von Ramallah im Westjordanland zu dem Treffen «Sème ta résistance» nach Südfrankreich*, organisiert vom «Réseau Semences Paysannes» (Netzwerk bäuerliches Saatgut). Sie sind Landwirt·innen und Mitglieder des Palästinensischen Forums für Agrarökologie.
Lina Ismail arbeitet daran, das Bewusstsein für Agrarökologie und Ernährungsautonomie zu schärfen; Saad Dagher, Gründungsmitglied des Forums, betreibt einen Bauernhof, auf dem er Gemüse und Oliven anbaut und ist in Ramallah in der Ausbildung und Beratung in den Bereichen Landwirtschaft, Umwelt und Wasser aktiv; Mohammad Khoueira ist Bauer und Viehzüchter und bietet Workshops zu Agrarökologie an. Hier die Auszüge aus einem langen Interview mit ihnen:
Wie war die Situation der Landwirtschaft im Westjordanland zu der Zeit, als Ihr anfingt, Eure Ideen zur Agrarökologie umzusetzen?
Unsere Landwirtschaft war von einer traditionellen Art auf eine chemische Art der Monokultur umgestellt worden, bei der industrielles Saatgut verwendet wurde. Als Israel das Westjordanland besetzte, führte es diese Methoden ein und versuchte, die Landwirt·innen davon zu überzeugen, sie zu übernehmen. Unsere Landwirtschaft und die Art und Weise, wie wir Lebensmittel produzieren, änderte sich also mit der Besetzung. Danach kamen ausländische Organisationen, die vorgaben, die Landwirtschaft zu entwickeln, insbesondere nach dem Oslo-Abkommen, um den Prozess der wirtschaftlichen Entwicklung Palästinas zu unterstützen. Ihnen ging es nicht darum, dass wir, Palästinenserinnen und Palästinenser, für die lokale Bevölkerung produzieren, sondern vielmehr war ihr Ziel, dass wir uns auf Technologie abstützen und Lebensmittel als Exportgut produzieren sollten, um uns so in Abhängigkeit bringen zu können. Da wir keine Kontrolle über unsere Grenzen haben, wissen wir nicht unbedingt, was importiert wird, woher das Saatgut kommt und ob es zum Beispiel gentechnisch verändert ist. Aber wir wissen, dass viele Pestizide und Düngemittel legal oder illegal eingeführt werden, von denen ein Grossteil in den europäischen Ländern, wo sie hergestellt werden, verboten sind. Solche werden aber bei uns verwendet.
Was sind die Hauptaktivitäten eures Forums? Was setzt Ihr als Alternative im Agrarbereich um?
Wir betrachten die Agrarökologie als ein Mittel, die unsere Abhängigkeit von der Besatzung vermindert. Denn bei der Agrarökologie stützt sich die Produktion auf lokal produzierte Inputs. Alle benötigten Materialien kommen aus der Region. Wir sind der Ansicht, dass dies das Werkzeug ist, mit dem wir Ernährungssouveränität erreichen können. Unser Ziel ist es, unter den Menschen eine Agrarökologie zu verbreiten, die sich auf lokales bäuerliches Saatgut stützt, damit wir kein Saatgut importieren müssen, das von der Besatzungsmacht stammt. Lokales Saatgut ist an die örtlichen Bedingungen angepasst, insbesondere angesichts des fortschreitenden Klimawandels. Es benötigt keine chemischen Inputs im Gegensatz zu gentechnisch verändertem oder hybridem Saatgut. Gleichzeitig ist diese Produktion aufgrund der Tatsache, dass Nahrungsmittel ohne Chemikalien und Gifte hergestellt werden, gesund für die Menschen und verringert auch die Abhängigkeit von Medikamenten, von denen ebenfalls ein Grossteil importiert wird.
Wir wissen natürlich, dass die Situation für die Menschen im Westjordanland und insbesondere für die Landwirte und Landwirtinnen seit Jahrzehnten sehr schwierig ist. Seit dem 7. Oktober 2023 hat es zusätzlich eine grosse Beschleunigung gegeben und die Unterdrückung ist noch viel heftiger geworden. Es gab viele Angriffe und viele Tote. Welche Form hat das für Euch als Landwirtinnen und Landwirte angenommen?
Heute früh [12. Oktober 2024] gab es einen Angriff auf palästinensische Bauern und Bäuerinnen in Dörfern im Nordosten der Stadt Ramallah. Sie wurden geschlagen, gejagt und daran gehindert, Oliven zu ernten. Die Siedler kamen mit Waffen und natürlich in Begleitung der Armee, die sie schützt. Gestern das Gleiche im Dorf Rantiss. Vorgestern war es in Lubban-el-Gharbi. Es gab Verletzte, gebrochene Arme, einen zerschmetterten Schädel. Das passiert heute. Es ist die Umsetzung der Aufrufe der Führer von den Siedler·innen im Westjordanland, die vor etwa einem Monat erklärten, dass die diesjährige Olivensaison die «Blutsaison» sein wird. Und es gibt eine Reihe weiterer Probleme. Zu den wichtigsten gehört die totale Kontrolle der Siedler·innen über das Wasser. Das gesamte Wasser im Westjordanland sollte eigentlich den Palästinenser·innen zur Verfügung stehen, aber die Siedlungen nehmen 85 Prozent davon in Anspruch, einschliesslich des Trinkwassers. In einigen Gebieten gibt es nur alle zwei oder drei Monate Wasser, vor allem im Süden. Der Preis pro Kubikmeter geht in die Höhe. Wir haben von einem grossen Anstieg der Zahl der Landenteignungen, Zerstörungen und verschiedenen Formen von Schikanen gehört.
Es gibt noch weitere Probleme, die leider durch den Krieg in Gaza und im Libanon überdeckt werden. Zurzeit werden Palästinenser·innen aus ihren Orten, ihrem Land und ihren Dörfern vertrieben. Bisher sind 39 Ortschaften von dieser Situation betroffen. Dies ist der Beginn der Vertreibungsoperation, die sich «Transfer» nennt. In einem ersten Schritt haben die Siedler und das Militär die Kontrolle über das Land und grosse Flächen übernommen, insbesondere im Aghouar-Gebiet im Westjordanland. Uns scheint, sie sind dabei, Tests für eine grosse Vertreibungsaktion durchzuführen, bei der Palästinenser·innen von Palästina nach Jordanien umgesiedelt werden sollen. Die zweite Sache, die in den letzten zwei Monaten an Bedeutung gewonnen hat, ist die Zerstörung von Häusern. Und dann sind da noch die Sperren − über 700 Militärsperren −, die den Verkehr von Gemüse und Obst sowie von Konsumgütern behindern. Gemüse kann in der Region Jenin produziert werden und muss in Ramallah verkauft werden. Manchmal braucht man für eine Fahrt, die normalerweise eine Stunde dauert, fünf, sechs oder acht Stunden. Grosse Gebiete im nördlichen Westjordanland, nahe der Apartheid-Mauer, wurden mit Bulldozern zerstört: Gewächshäuser für Gemüse wurden abgerissen und Baumschulen für Olivenbäume zerstört. Mehr als eine halbe Million Olivenbaumsetzlinge wurden vernichtet. Sie hätten im Winter gepflanzt werden sollen.
Im letzten Monat wurden vor allem im südlichen Westjordanland, in der Gegend um Hebron und Bethlehem, nicht nur Häuser zerstört, sondern auch Brunnen, die als Regenwasservorräte dienten. Dies ist ein Teil des Krieges gegen die Palästinenser·innen, der über die Zerstörung ihrer Ernährung läuft und gegen ihre Fähigkeit, Nahrungsmittel zu produzieren.
Ausserdem gibt es einige Neuerungen. Im Moment importieren wir zum ersten Mal Tomaten. Das ist eine Entscheidung der Palästinensischen Autonomiebehörde. Denn eigentlich wurden die Tomaten zu dieser Jahreszeit in der Aghouar-Region im Osten des Westjordanlandes angebaut. Derzeit ist jedoch der Grossteil dieses Gebiets unter militärischer Kontrolle oder geschlossen, sodass die Bauern und Bäuerinnen ihre Tomaten nicht mehr anpflanzen können. Viele Palästinenser·innen, die aus ländlichen Gebieten stammen, aber in der Stadt leben und arbeiten, gehen für die Saison Oliven pflücken und pressen sie. Anschliessend bringen sie das Öl in die Stadt. Wenn sie mit den Ölkanistern in die Stadt zurückkehren, kommt es häufig vor, dass die Soldaten an den Strassensperren das Öl entdecken und es auf den Boden schütten. Das Öl, auf das die Menschen ein Jahr lang gewartet haben, wird vor ihren Augen weggeschüttet.
Es gibt offenbar eine Bewegung mit dem Namen «Hügeljugend», die Euch viele Probleme bereitet...
Die ersten Aufrufe zur Gründung dieser Gruppen der «Hügeljugend» wurden 1998 von Ariel Sharon, dem damaligen israelischen Kriegsminister, veröffentlicht. Das Ziel war es, die Gipfel der Hügel zu besetzen. In den letzten Jahren sehen wir die Ergebnisse dieser Politik. Eine Gruppe oder eine einzelne Person mit Kühen oder Schafen besetzt einen Gipfel, kontrolliert aber das gesamte Gebiet drumherum. Diese Person oder Gruppe ist bewaffnet und wird vom Militär geschützt. Sie wird die palästinensischen Landbesitzer·innen daran hindern, sich ihrem Land zu nähern, Oliven zu pflücken, Ackerbau zu betreiben oder sonst etwas zu tun. Selbst wenn jemand Schafe hat, die er/sie in dem Gebiet weiden lassen möchte, wird er/sie von diesem Siedler daran gehindert. Vor einigen Monaten war ein Hirte aus der Gegend von Ramallah auf dem Weg zu seinem Land. Sie schlugen ihn und brachen ihm die Knochen.
Zwei oder drei Tage bevor ich hierher nach Frankreich kam, übernahm jemand von der «Hügeljugend» die Kontrolle über einen Gipfel. Wir gingen als Dorfbewohner·innen hin, um zu protestieren, weil das Land seinen Eigentümer·innen, den Palästinenser·innen, gehören sollte. Als wir als unbewaffnete Zivilist·innen ankamen, sah uns der Siedler und kam mit seiner Waffe herunter, begleitet von einer Gruppe von anderen Siedlern, die er per Handy zur Verstärkung gerufen hatte. Innerhalb weniger Minuten war die Armee da. Sie umzingelte uns und begann, Tränengas- und Betäubungsgranaten abzufeuern. Wir mussten weggehen, um das Gas nicht einzuatmen. Es war unmöglich, an Ort und Stelle zu bleiben. Von den Siedlungen auf den Berggipfeln aus beginnen sie, die Kontrolle über das Land im Tal, das Ackerland in den Ebenen, zu übernehmen. Zunächst hindern sie die Eigentümer·innen daran, ihr Land zu bebauen und zu bepflanzen, und nach vier oder fünf Jahren der Nichtbepflanzung fangen sie an, selbst zu pflanzen.
Es ist bekannt, dass die Palästinenser·innen versucht haben, viele Bäume auf Hügeln und auf Land zu pflanzen, weil das die Beschlagnahmung durch die Israelis erschwert. Es scheint, dass Methoden gefunden wurden, um sich dem Landraub zu widersetzen.
Anfang der 1970er Jahre gab es eine Bewegung, die von Studierenden der westjordanischen Universität Birzeit initiiert wurde. Sie hatte die «Voluntary Action Committees» gegründet, um in den von der Beschlagnahmung bedrohten Gebieten pflanzen zu gehen. Als Reaktion darauf begannen die Besatzer·innen damit, Gazellen in den Bergen auszusetzen. Gazellen gab es schon immer, aber die Siedler·innen vermehrten sie, vor allem die Horngazellen. Im Sommer haben die Gazellen eine spezifische, hormonelle Aktivität. Sie müssen die Stelle zwischen ihren beiden Hörnern aufkratzen. Dafür nutzen sie die kleinen Olivenbaumsetzlinge, an denen sie sich reiben, und verletzen sie dabei. Die Bäume verlieren ihre Rinde und sterben ab. In Palästina sind etwa 85 Prozent der Palästinenser·innen Muslime und 15 Prozent Christen. Die Muslime essen Gazellen. Die Christen auch. Und so haben sich alle auf die Gazellenjagd begeben. Und der Plan der Besatzer, die Olivenbäume durch die Gazellen zu zerstören, scheiterte.
Also führten sie vor dreissig Jahren Wildschweine ein. Die Mehrheit von uns isst als Muslime keine Wildschweine. Und während die Gazelle sich einmal im Jahr fortpflanzt und ein oder zwei Junge zur Welt bringt, hat das Wildschwein 10, 14 oder 15 Junge pro Wurf. Es vermehrt sich sehr schnell, niemand jagt es und es hat keine natürlichen Feinde. Sie zerstörten alles und die Landwirt·innen hörten auf zu pflanzen. Praktisch die gesamte Weizenproduktion kam in den Wildschweingebieten zum Erliegen. Und als nicht mehr angepflanzt wurde, nahmen die Besatzer dies als Vorwand, um das Land zu beschlagnahmen. Sie holten osmanische Gesetze hervor, die besagen, dass Land in Staatseigentum übergeht, wenn es drei bis zehn Jahre lang nicht bewirtschaftet wird. So nahmen die Beschlagnahmungen zu. Und es gab ein grosses Defizit bei der Nahrungsmittelproduktion. Wildschweine hatte es in unserer Region noch nie gegeben. Einige Leute filmten, wie Lastwagen der israelischen Armee kamen und Wildschweine aussetzten. Nach dem Bau der Mauer im Jahr 2000 wurden immer mehr Wildschweine ausgesetzt. Das sind die beiden Hauptprobleme, die den Agrarsektor bedrohen, die Siedler·innen der «Hügeljugend» und die Wildschweine.
Noch viel schlimmer für Euch ist die Nachricht, dass die Siedler·innen, die bereits gut bewaffnet waren, vor kurzem noch mehr Waffen erhalten haben. Ihr macht Euch grosse Sorgen darüber, was dies als Nächstes bewirken könnte.
In den letzten zehn Monaten haben die Siedler·innen im Westjordanland noch viel mehr Waffen erhalten. Es gibt heute etwa 850.000 Siedler·innen, von denen 180.000 offiziell eine Waffe tragen, also etwa ein Viertel von ihnen. Sie haben die Verteilung der Waffen gefeiert. Auf zahlreichen Videos ist zu sehen, wie sie von Spezialist·innen trainiert werden. Wir glauben, dass es sich dabei um die Vorbereitung von Angriffen auf palästinensische Dörfer und Städte wie 1948 handelt.
Abschliessend: Wie seht Ihr die Frage der Solidarität und Unterstützung von Einzelpersonen in Europa?
In erster Linie ist jede Person verpflichtet, sich über die Geschehnisse in der Region auf dem Laufenden zu halten. Wir sind auch der Ansicht, dass jede·r Einzelne die Verantwortung dafür trägt, auf die eine oder andere Weise Druck auf seine/ihre Regierung auszuüben, damit die Zusammenarbeit mit dem Besatzer beendet wird.
Wir wissen, dass die Regierungen in Europa und Amerika Israel zumindest durch die Lieferung von Waffen, Nahrungsmitteln oder Öl unterstützen. Es gibt allerdings auch jene, die sich neutral verhalten. Wir betrachten indessen diejenigen, die über den laufenden Völkermord in Palästina schweigen, als dessen Komplizen. Also, sagt, was wirklich passiert! Verbreitet die Wahrheit und übt Druck auf eure Regierungen aus, damit sie etwas tun und dem ein Ende setzen. Wir in der Region, Palästinenser·innen und Libanes·innen, stehen derzeit an vorderster Front, um uns zu verteidigen und einer kolonialen Aggression entgegenzutreten. Die negativen Folgen dieser Aggression wirken sich auch auf die Menschen in den westlichen Ländern aus. Anstatt diese militärische und finanzielle Unterstützung an diese Besatzungsmacht zu leisten, sollten die westlichen Regierungen dafür sorgen, dass dieses Geld für das Wohlergehen ihrer eigenen Bevölkerung verwendet wird.
Das Interview machte Nick Bell für Radio Zinzine und Archipel
Der vollständige Text dieses Interviews ist auf der Website des EBF abrufbar: www.forumcivique.org.
Link zur Sendung auf Radio Zinzine: www.zinzine.domainepublic.net/?ref=9760
- siehe Archipel 341, November 2024 «Den Widerstand säen», Artikel von Jürgen Holzapfel